Äpfel, Birnen: Obst

Ein Gespräch mit Barbara Kirchner und Dietmar Dath über ihr neues Buch „Der Implex“, über Praxis und Hexis, Hegel, Marx und Lenin, Luxemburg und Wagenknecht, Monty Python, Interpenetration, die Angst vorm Fliegen und die Judo-Strategie

Von Georg FülberthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Fülberth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

KONKRET: Ihr Buch hat 846 Seiten und liest sich dennoch wie eine Abbreviatur, genauer: eine Fülle von Abbreviaturen. Ihre Leserinnen und Leser finden zum Beispiel auf den Seiten 641 und 642 einen langen Satz, in dem in einem Atemzug zugleich das Internet und China erklärt werden. Der Implex kann expliziert werden. Würden Sie ihn bitte explizieren?

Kirchner: Ausgehend von einem A hat man eine Folge B, C und D und nicht, zum Beispiel, E.

Dath: A ist eine Situation oder ein Text oder irgendwas, und der Implex davon sind alle möglichen Folgen, die aus ihr, aus ihm oder aus irgendwas durch menschliches Handeln, also den sogenannten subjektiven Faktor, herbeigeführt werden können. Dass Marsmenschen auf der Erde landen, ist nicht durch menschliches Handeln bewirkbar. Der Implex einer Sache ist alles, was dabei herauskommen könnte, wenn Menschen etwas tun.

Was ist Interpenetration?

Kirchner: Unter Interpenetration verstehen wir das wechselseitige Durchdringen der Dinge. Sachen erzeugen sich gegenseitig. Und das Wort gefällt uns natürlich sehr viel besser als das Wort Interaktion, weil es einen so unzüchtigen Klang hat.

Da muss man erst mal drauf kommen.

Dath: Man könnte jetzt böse sagen, wir erfinden das Rad neu, denn viele dieser Dinge kann man natürlich auch abkürzen mit den alten Begriffen aus der Dialektik. Das haben wir nicht gemacht, weil es in der sozialistischen Tradition, die wir sehr schätzen und die wir fortsetzen und teilweise bestätigen wollen, eine Neigung gibt, diese Begriffe für sich denken zu lassen: Wenn einem sonst nichts einfällt, war’s halt wieder der Hauptwiderspruch. Wir wollten versuchen, die Dinge – wie es bei Schulaufsätzen heißt – mit eigenen Worten zu sagen. Dass man dabei dialektisch denken muss – geschenkt. Aber wir wollten uns nicht auf diesen von Hegel ererbten Begriffsapparat allein verlassen.

Noch zwei Begriffe: Hexis und Praxis?

Kirchner: Praxis als alles, was Leute machen – im emphatischen Sinne vielleicht: bewusstes Handeln. Hexis ist unbewusstes Handeln, gewohnheitsmäßig, sozial von vornherein in bestimmten Gleisen.

Dath: „So machen wir das hier.“

Kirchner: Nach dem schönen Wort von Marx: „Die Menschen machen ihre Geschichte selbst, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken.“

Dath: Das „nicht aus freien Stücken“ ist die Hexis.

Sie sagen: Aus Hexis muss Praxis werden?

Dath: Genau.

Wenn jemand sagen würde: Das Buch „Der Implex“ ist „Das Prinzip Hoffnung“ von Ernst Bloch, gebrochen durch die „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno, angereichert durch Einsichten in die Perspektiven weiteren technischen Fortschritts und die auch popkulturellen Erfahrungen seit 1968: Wie sehr wären Sie dann missverstanden?

Kirchner: Ich glaube, damit können wir leben. Eingefallen ist mir Aleister Crowley, der Okkultist, der einmal gesagt hat, sein Ziel sei die Religion und seine Methode die Wissenschaft. Bei uns wäre das Ziel etwas Bloch-Artiges, und die Methode kommt aus der angloamerikanischen analytischen Philosophie. Das hat mir großen Spaß gemacht bei der Arbeit an dem Buch. Das setzt natürlich einen geschmacklichen Akzent gegen das Kontinentaleuropäische, gegen die Franzosen…

Dath:… gegen Heidegger

Kirchner:… gegen die Deutschen, nicht aber gegen Hegel.

Wenn ein Marxist nun Ihr Buch liest, dann ist er natürlich nur eine Teilmenge Ihres Publikums, und was er von dem Buch aufnimmt, ist auch nur ein Teil des Buches. Vieles andere wird er schwer verstehen, oder es wird ihn nicht interessieren. Vieles wird ihn faszinieren. Zum Beispiel: Für einen Marxisten gehört zur Frischluftzufuhr Ihres Buchs die These, die kapitalistischen Widersprüche seien nicht eine Art Gefangenen-Dilemma mit Zusammenbruchsperspektive, sondern der Gegensatz zwischen dem, wie dieser Kapitalismus ist, und dem, was nach seiner Überwindung möglich wird und in ihm schon angelegt ist. Wodurch aber werden die Menschen mobilisiert – durch jene Not oder diese Möglichkeit?

Kirchner: Das ist eine Sache der Interpenetration. Sich motivieren kann man ja nur, wenn man sieht, dass dann was Besseres kommt.

Dath: Talleyrand sagt irgendwo: „Revolutionäre Situationen sind nicht die des größten Elends, sondern die der größten Erwartung.“ Und natürlich kann auch ein Elend eine Erwartung produzieren, Beispiel: Fukushima. Louis Pasteur hat mal gesagt: „Der Zufall begünstigt den vorbereiteten Verstand.“ Für diesen vorbereiteten Verstand sind unsere Anstrengungen notwendig. Es wird ja niemand widerlegt, nur weil er besiegt wird.

Wenn wir uns Mobilisierungsphasen in der Geschichte ansehen: 1848 nach einer großen Wirtschaftskrise; die verschiedenen sozialistischen Bewegungen und Ideen in der großen Depression nach 1873; 1917 nach der Erfahrung des Krieges; 1929 in der Weltwirtschaftskrise; 1945 nach dem Zweiten Weltkrieg – das waren Zeiten der Not, der Katastrophe, wo Menschen sagten: So wie es ist, geht es nicht weiter! Jetzt empören wir uns! Und wenn die unmittelbare Katastrophe beigelegt war, waren diese Bewegungen nicht mehr da. In schrecklichen Augenblickserfahrungen kommen Ideen auf wie: Eine andere Welt ist möglich. Aber gemeint ist eigentlich nicht eine andere Welt, sondern: Die Welt, wie sie jetzt ist, wollen wir nicht mehr.

Kirchner: Wenn man bedenkt, was den Feudalismus weggebracht hat, dann war das einerseits die Wut der Bürger auf den Adel und die Angst vor dessen Willkür, andererseits der Selbstbehauptungswille und der entstehende Kapitalismus.

Sie zitieren die scheußliche Rede eines Funktionärs der Kommunistischen Partei Frankreichs aus den 1950er-Jahren, der die koloniale Repression in Algerien verteidigte, weil er wusste, dass er damit bei seinen Anhängern ankam. Als antikolonialistische Partei war die KPF in den zwanziger Jahren klein. Zur Massenpartei wurde sie in der Résistance nicht durch Universalismus, sondern durch den nationalen Kampf gegen Fremdherrschaft. Kennen wir – historisch – tatsächlich irgendeine unverfälscht universalistische Massenbewegung?

Kirchner: Sowohl am idealistischen als auch am materialistischen Ende des Spektrums zwischen Basis und Überbau gibt es Beispiele: Politisierte Religionen wie das Christentum, das zwar rassistisch agiert…

Dath:… aber auf seine Art universalistisch ist – man kann ja taufen. Wenn Bartolomé de Las Casas, ein Mönch und Bischof in den spanischen Kolonien, daran erinnert, dass die Leute dort Menschenantlitz tragen und nicht so behandelt werden dürfen, wie die Konquistadoren das gemacht haben, dann tut er das in einer Phase, als die Abschaffung der Sklaverei schon am Horizont erscheint. Ohne Aussicht auf einen materiellen Träger werden die universalistischen Momente nie sichtbar.

Kirchner: Und der materialistische Teil ist der Kapitalismus selber, der mit dem Mittelalter aufräumt…

Dath:… und dessen Universalismus heißt, dass alles Geld werden kann.

Stalin brauchte in den 1930er-Jahren eine neue Arbeiterklasse, die nun wirklich nicht idealistisch war. Bedeutet das, dass die Praxis ohne Hexis nicht auskommt und letztlich immer wieder an sie zurückgebunden ist?

Dath: Man kann nur arbeiten mit dem, was da ist. Zwar darf man nicht jedem, der ein Stückchen über das hinausgeht, was gerade da ist, Voluntarismus vorwerfen, aber man darf nie über revolutionäre Bewegungen reden, ohne über die Gegenkräfte, also über das reine Kräfteverhältnis zu reden. Nicht nur hat die Revolution ihre Baumaterialien, die sie vorfindet, sondern sie ist auch in vielem diktiert vom Gegner. Ich finde es schon bemerkenswert, dass immer, wenn über Stalin geredet wird, so getan wird, als hätten die Moskauer Prozesse nichts mit dem zu tun, was zur selben Zeit in Westeuropa passiert ist.

Ein vielleicht zynischer, vielleicht auch nur realistischer Konservativer und der junge Marx wären sich wohl einig, dass die Idee sich blamiert, wenn sie mit dem Interesse zusammenstößt. Die Idee, die zur Praxis werden will, und ein Interesse, das sich lieber an der Hexis festhält, stoßen immer wieder aneinander. Ein Beispiel: Die portugiesische MFA war eine Armee, die in der Kolonie die Unterdrückung nicht mitmachen und dann im Zentrum aufräumen wollte. Dort stieß sie auf eine Hexis. Die Hexis – das waren die EU, die europäische Sozialdemokratie, die Wahlergebnisse.

Dath: Es kämpfen nie wirklich Ideen gegeneinander, sondern immer Personen, und die sind in sehr gemischter Weise an ihren Ideen beteiligt. Wenn Sie sagen, die Sozialdemokratie habe es verpfuscht, kann man antworten: Gut, wir rechnen die Sozialdemokratie zum Feind und informieren darüber und haben gelernt, was wir schon bei der Ermordung von Liebknecht und Luxemburg hätten lernen können. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn ein großes Bewusstsein dagewesen wäre von der Rolle der Sozialdemokratie bei den Leuten, die die portugiesische Revolution gemacht haben. Aber in der Tat ist diese Geschichte eine deprimierende Geschichte.

Was im Negativen gilt – wenn die Oma fünfmal ins Krankenhaus muss, und sie kommt immer wieder heil zurück, heißt das ja nicht, dass sie nicht beim sechsten Mal stirbt –, gilt auch im Positiven. Jede historische Niederlage kann man verstehen, und diese Bedingungen kommen zwar so nicht wieder, aber es kommen vielleicht strukturell ähnliche, und insofern ist es kein Fehler, die Erfahrung der Niederlage zu machen. Der Mensch kann eigentlich – das erste ist kategorial – nicht fliegen. Das zweite ist historisch: Es ist immer schiefgegangen. Also kann man sagen, es habe keinen Sinn, es zu versuchen. Es klappt aber doch, weil es eben auch die Kategorie des Sprungs gibt.

Bei Brecht sagt der Bischof von Ulm: „Es wird nie ein Mensch fliegen.“

Dath: Zu sagen, es ist immer schiefgegangen, ist ehrbar auf dem einfachsten logischen Level. Da ist auf jeden Fall nichts falsch gemacht, aber es ist auch nichts richtig gemacht, weil es einfach banal ist.

Sie haben Rosa Luxemburg erwähnt…

Dath: Mit Sicherheit ist die historische Rolle von so was wie Sozialdemokratie oder im weitesten Sinne Renegatentum oder Reformismus bei Marx und Engels nicht vorgesehen – es sei denn, man hat einen Programmentwurf der SPD und kritisiert den dann. Aber die Perspektive, dass innerhalb der eigenen Bewegung eine permanente Tendenz herrscht, irgendetwas preiszugeben – das ist eine historische Erfahrung, die nicht in den linken Knochen sitzt. Dort existiert kein sehr entwickeltes Bewusstsein davon, wie wenig böse gemeint und trotzdem verheerend Verrat sein kann.

Marx und Engels wurden an der Stelle immer moralisch. Den Begriff des Opportunismus verwendet Engels sehr viel. Jetzt könnte man sagen, wenn man sich die Gegner von Marx und Engels mal ansieht: Die Leute der Hexis in der Sozialdemokratie – waren das nicht eigentlich fast durchgehend (Noske nehmen wir mal aus) sympathische, warmherzige, sozial verantwortungsbewusste Männer? An Eduard Bernstein wird man moralisch keinen Schaden finden, der schaut sich die Realität an und sagt: Es ist nicht mehr drin, als im Augenblick drin ist. Es wäre sehr fahrlässig weiterzugehen.

Luxemburg hat sich an der Jahreswende 1918/19 in die Hände von frisch politisierten Leuten begeben, die von der Front kamen, Kleinbürger, die panisch waren durch den Krieg und unbedingt eine kommunistische Partei wollten. Rosa Luxemburg sah, dass alles zu früh war. Arthur Rosenberg hat ihr vorgeworfen, dass sie sich nicht einfach entfernt hat aus dieser Situation. Es wäre wahrscheinlich für die revolutionäre Sache besser gewesen, wenn Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht an der Jahreswende 1918/19 ein bisschen weniger revolutionär gewesen wären. Aber Sie sagen, das sind Situationen, die muss man austesten, wir wissen nicht, wie es beim nächsten Mal wird.

Dath: Ja, das würde ich so sehen. Wobei man es natürlich um so genauer dann doch weiß, je genauer man das anschaut, was man historisch hat. Wenn es einem gelingt, die Invarianten zu unterscheiden von den Spezifika der jeweiligen Situation, dann hat man schon viel gewonnen. Dazu gehört einfach historische Erfahrung. Die Idee, die Menschen könnten alles selber machen, ist ja, gemessen an der Geschichte, sehr neu, es gibt sie erst seit dem 18. Jahrhundert.

Ihr Buch hat einen Untertitel, in dem ganz prominent der Begriff sozialer Fortschritt vorkommt. Das klingt sehr voluntaristisch.

Dath: Die Pointe ist natürlich, dass die Strukturbeschreibungen, die wir im Buch machen, vorinformiert sind von normativen Entscheidungen, die man getroffen hat, bevor man die Analyse macht. Es gibt ja ein Motiv, irgendwas zu analysieren. Fortschritt ist eine Annäherung an einen Zweck, und dieser Zweck ist eben Freiheit – das ist einer der wesentlichen Punkte des Buches. Es geht darum, die deskriptiven Äpfel und die normativen Birnen zu vergleichen und dabei einen Begriff wie Obst zu entwickeln.

Der reduzierte Herbert Wehner hätte gesagt: Milchreis mit Zucker und Zimt, das ist es, was die Leute wollen und nicht kriegen, es sind Flausen. Ihre Vorstellung von gesellschaftlichem Fortschritt ist keine von einem sich selbst vollziehenden im Sinne des 19. Jahrhunderts, sondern eine normative. Ganz gemein gesagt: Wilhelm Weitling hat ein Buch geschrieben, „Die Menschheit, wie sie ist“ – das ist die Hexis – „und wie sie sein sollte“ – das ist die Praxis. Marx hat sich darüber totgelacht.

Kirchner: Geschichtsphilosophie muss immer normativ sein, weil man ohne eine Vorstellung vom Heil keine Heilsgeschichte erfinden kann. Das gilt genauso für Ideen, die nicht so theologisch sind wie die Heilsgeschichte – eine Idee wie freie Menschheit braucht das auch. Bei uns ist die Konterrevolution, was der Teufel in der christlichen Heilsgeschichte ist. Er steckt im Detail und versaut viel.

Dath: An Weitling hat Marx gestört, dass der die Idee, wie die Menschheit sein soll, nicht versucht in dem zu finden, wie sie ist. Dass er also glaubt, man könne das von außen herantragen. Man kann Normativität und Deskription nicht so starr gegenübersetzen. Die ganze Medizin ist normativ, die Vorstellung ist, die Leute sollen nicht leiden. Deswegen ist sie aber noch lange nicht idealistisch, sie muss sich halt doch den Stoffwechsel angucken.

Ihr Buch ist ein hochmoralisches Buch. Sie haben eine Norm, und Ihr Programm hat ein Ziel: „Auskommen, Freiheit, Mitsprache“. Das ist ein gutes Programm, dem niemand widersprechen wird, kein Liberaler, wahrscheinlich auch kein Konservativer. Es ist ein recht gemütliches Programm. Ihm fehlt der heiße Atem einer Parole, die 164 Jahre älter ist: „Eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ Sie haben eine ganz andere, eigentlich sozialdemokratische Tonlage: „Auskommen, Freiheit, Mitsprache“. Wenn’s nur das ist, warum sagen Sie’s nicht gleich? Wer spricht denn mit wem mit? In der Mitbestimmung spricht die Arbeit mit dem Kapital.

Kirchner: Das ist natürlich nicht gemeint. Es ist großer Mist, wenn die Arbeiter auch mal mitreden dürfen. Wir meinen Kollektive. Die Worte Auskommen, Freiheit, Mitsprache sind eine Strategie. Das Programm ist schon das Marx’sche. Das kommunistische Manifest gilt nach wie vor.

Dath: Die Parole von der freien Entwicklung aller und der freien Entwicklung des einzelnen ist nicht zu übertreffen. Wir sagen an keiner Stelle, dass man irgendwas davon zurücknehmen soll. Es gibt tatsächlich einen leichten Akzentunterschied zwischen uns beiden, was die Wichtigkeit der Strategie angeht. Weil meine politische Sozialisation weiter zurückreicht, in K-Gruppen-Zeiten, während Barbara aus einer Zeit kommt, in der die Erfahrung der Niederlagen bereits das Entscheidende war.

Allein das wiederzuerobern, was Blair und Schröder genommen haben, ist dir, Barbara, schon mal ein lohnenswerter Etappenkram. Während es für mich einfach Reformismus ist. Aber am Ende des Programms sagen wir beide: Lenins Versuch, die freie Entwicklung aller durch die Kommunismusdefinition „Sowjetmacht plus Elektrifizierung“ zu ergänzen, würden wir re-abstrahieren. Und da hört die Sozialdemokratie dann auf. Vollständige demokratische Vergesellschaftung von Energie und Informationen. Würdest du das unterschreiben?

Kirchner: Ja.

Dath: Und das ist Kommunismus.

Kirchner: Sehr viele Leute nennen sich heutzutage Kommunisten. Das Wort ist ein Bisschen herrenlos.

Dath: Du denkst jetzt an Negri/Hardt und so weiter?

Kirchner: In die Richtung, ja. Und wir haben keine soziale Demokratie.

Dath: Wir haben diese Partei nicht, die Lenin noch hatte, als sie SDAPR hieß, Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands. Ich verstehe, was du meinst.

Kirchner: Aber das wollen wir ja eigentlich. Und dann können wir gerne für den Kommunismus kämpfen.

Man müsste also Ihre Dreiheit – Auskommen, Freiheit, Mitsprache – übersetzen in die Formel von Marx und Engels von 1848: Ihre Mitsprache ist deren Assoziation.

Dath: Genau. Mitsprache ist die Assoziation, das Kollektiv.

Dann wäre „Freiheit“ zu übersetzen als die „freie Entwicklung eines jeden als Bedingung für die Freiheit aller“.

Dath: Ja.

Und das Auskommen?

Dath: Das ist der sogenannte allgemeine Reichtum. Als die Sozialdemokraten von einer Verelendung schreiben, sagt Engels: Das Problem ist gar nicht, dass die verelenden, sondern dass die Unsicherheit wächst. Es geht um die Abschaffung der Angst. Niemand darf im Elend verrecken, weil er nicht mitarbeiten kann.

Das wäre dann auch Franklin Roosevelt.

Dath: Gerne. Wie definiert man Freiheit überhaupt? Wir nennen die drei einfach deswegen so hartnäckig, weil sie tatsächlich in diesen Jahren so in Verruf waren. Der einzige Sozialdemokrat war in dieser Zeit der Oskar Lafontaine.

„Auskommen, Freiheit, Mitsprache“ – in Ordnung. Darunter kann man sich tatsächlich mehr vorstellen als unter: „die freie Entwicklung eines jeden als die Bedingung der freien Entwicklung aller“.

Dath: Da sind Marx und Engels einfach Hegelianer. Sie sprechen auf einem hohen Abstraktionsniveau. Aber man kann sich das übersetzen. Unsere Lieblingsdefinition „Vergesellschaftung von Energie und Information“ liegt so zwischen Lenins Elektrifizierung und der freien Entfaltung aller.

Wie kommen wir in der Praxis zu „Auskommen, Freiheit, Mitsprache“? Sie sprechen von einer Judo-Strategie, in der die Versprechen der Herrschaft beim Wort genommen werden. Sie werden dadurch der Realisierung entweder nähergebracht oder als unter dieser Herrschaft unerfüllbar desavouiert. Dann schreiben Sie: „Die besten Erfahrungen mit dieser Strategie haben im 20. Jahrhundert wohl die antirassistische Bürgerrechtsbewegung in den USA, der Feminismus, die Umweltleute und( für eine Weile, an manchen Orten) einige der Neuen Sozialen Bewegungen gemacht.“ In der Aufzählung fehlt die Arbeiterbewegung. Warum?

Kirchner: Die Judo-Strategie gilt ja nur für kurze Zeit. Die Arbeiterbewegung hat es immer schwerer. Mit weniger Rassismus und weniger Sexismus kann ja jeder Hedgefonds-Manager leben.

Dath: Und immer noch Geld verdienen.

Kirchner: Aber Mehrwert und Profit kann die Herrschaft nicht aufgeben. Da muss dann geschossen werden, darauf würden sie nicht verzichten wollen. Deswegen wäre eine solche Judo-Strategie, wie wir sie vorschlagen, für Phasen der Aufklärung ganz gut. Und die können dann wieder eine Situation herstellen.

Dath: Wenn man jetzt gegenüberstellt: die Phase der Aufklärung versus die der Revolution. Würdest du sagen, die Judo-Strategie gehört völlig zur…

Kirchner:… Phase der Aufklärung, ja.

Wenn man die reformistische Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert mit dem gleichen Maßstab misst wie den Feminismus, die Bürgerrechtsbewegung, die Umweltpolitik, ist sie eine außerordentlich erfolgreiche gewesen. Wenn man sie natürlich an den vormals revolutionären Zielen misst, dann… – aber das muss man ja nicht.

Dath: Jetzt kommt die Rolle der Gewalt in der Geschichte. War die Tatsache, dass stellenweise tatsächlich – im Sinne dieses anderen „Mit“ – Mitbestimmung eingeräumt worden ist, ein Erfolg der Arbeiterbewegung allein, oder hatte das mit dem Systemkonflikt zu tun? Es ist doch bemerkenswert, dass – kaum ist der Systemkonflikt vorbei – sehr schnell viele Dinge abgeräumt wurden, die eingeräumt worden waren. Wie groß war denn der Anteil der Arbeiterbewegung in den kapitalistischen Zentren an sozialer Sicherung, und inwieweit war das Bestechung plus Kreidefressen? Die Antwort ist nicht selbstbewusstseinsfördernd, wenn man bedenkt, wie schnell die Sachen abgeräumt wurden, als der russische Bär nicht mehr drohte.

Ähnliches könnte man für die anderen Bewegungen sagen: Der Feminismus kam auch dem Interesse an der Erweiterung von Arbeitskraftressourcen entgegen.

Dath: Das ist ja auch so. Und sobald dieses Interesse nicht mehr besteht, kommen schon wieder die ganzen Idioten ins Fernsehen und überall hin, die sagen: Es schadet den Kindern, wenn die Mütter nicht zu Hause sind.

Kirchner: Ich bin Gleichstellungsbeauftragte. Vor Weihnachten ging eine Frau für ein Jahr in Mutterschaftsurlaub, und da sollte eine Vertretung hin, und da musste eine Gleichstellungsbeauftragte dabei sein.

Dath: Das hat mit dem tatsächlich existierenden Sexismus dieser Institutionen soviel zu tun, wie einen Joghurtbecher auszuwaschen mit den Sauereien, die die BASF in die Gewässer leitet.

Mit anderen Worten: Diese Judo-Strategie ist vielleicht gar nicht so erfolgreich.

Dath: Es ist eine Aufklärung. Was wir sagen wollen, ist, dass es ein Fehler ist, die Widersprüche nach issues zu trennen. Es gibt einen Hauptwiderspruch in dem Sinne, dass er die anderen zusammenhält. Aber dass mit dessen Lösung nun automatisch die übrigen Widersprüche verschwinden würden, ist falsch. Die historische Erfahrung lehrt, dass die Auseinandersetzung mit dem Widerspruch von Kapital und Arbeit nicht notwendig auf allen Ebenen emanzipatorisch ist.

Sie sprechen vom „gegenwärtigen kapitalistischen Selbstüberwindungsprozess“. Wie gegenwärtig ist er?

Kirchner: Im Kapitalismus gibt es immer einen Widerspruch zwischen Reichtum und Unrecht. Wenn sich keiner findet, der ihn überwindet, dann wird er von sich selbst überwunden.

Wir denken, dass er lieber von den Unterworfenen überwunden werden soll, weil sonst was Schlimmeres kommt.

Dath: Wir behaupten, dass das, was wir jetzt haben, eh nicht bleibt. Das ist unsere sehr gewundene Art, in einer optimistischen Tonart die Melodie Sozialismus oder Barbarei zu spielen, wobei wir wissen, dass die Barbarei natürlich so unwahrscheinlich nicht ist.

Sie sagen, der Kapitalismus, wie wir ihn haben, überwindet sich selbst. Eine Gesellschaft, in der „kapitalistische Produktionsweise herrscht“ (Marx), mit ihren Nachteilen und Vorteilen, ist nicht das Schlimmste und nicht das Beste. Wird sie nicht durch den Sozialismus überwunden, haben wir vielleicht eine andere Gesellschaftsordnung, die verniedlichend beschrieben würde, wenn man sie Kapitalismus nennt. Sie Barbarei zu nennen, war einfach eine terminologische Hilflosigkeit von Rosa Luxemburg.

Dath: Sie sagt Barbarei, weil sie sich noch nicht vorstellen kann, dass in jedem Gehirn ein Chip ist. Barbarei heißt nicht in Felle gekleidet und mit Knüppeln. Dem Kapitalismus voraus gingen Formen unmittelbarerer Herrschaft, die unmittelbarste ist die Sklaverei, da werden die Körper gepeitscht, dann hat man den Feudalismus, da wird das Land besessen, aus dem die Nahrung kommt, dann hat man den Kapitalismus, da ist es noch abstrakter. Aber dialektisch gedacht könnte eine noch höhere Stufe der Abstraktheit zurückkippen in eine ganz unmittelbare Form von Biomacht, eine sehr unmittelbare Form von Unterdrückung, die noch nicht einmal durch Ausbeutung vermittelt ist, sondern wo Leute wirklich Vieh sind. Aber Vieh auf einer neuen Ebene der Verfügbarkeit.

Wenn man vergleicht, wie bei Orwell überwacht wird, und dass inzwischen Formen der Überwachung vorkommen, die sich Orwell buchstäblich nicht vorstellen konnte – diese Barbarei zu beschreiben kann sehr viele sehr komplizierte, sehr abstrakte und sehr wissenschaftliche Worte brauchen. Aber Barbarei wäre essentiell wieder eine unmittelbare Verfügung über Menschen, die noch nicht einmal mehr den vertragsförmigen Schein von Freiheit braucht.

Was uns das Denken erschwert, ist diese unglückliche Metapher von der Barbarei. Rosa Luxemburg übernimmt das Wort von Engels, der jedoch mit Barbarei eine Gesellschaftsformation zwischen Urgesellschaft und Zivilisation beschreibt, in der es zumindest keinen Staat gab, kein Militär, kein Patriarchat, kein Privateigentum. Und das war ihm sehr recht.

Dath: Das Interessante ist, dass Leute, die sich auf Luxemburg berufen, versuchen, damit auch so etwas wie Auschwitz zu beschreiben, und es ist eine Verniedlichung von Auschwitz, das Barbarei zu nennen.

Das geht überhaupt nicht. Dann sollte man vielleicht noch nebulöser werden und sagen: Wir haben jetzt den Kapitalismus, eine unerfreuliche, schreckliche, irgendwie noch rationale Gesellschaftsordnung, die immerhin die Vorstellung von Aufklärung herbeigebracht hat…

Dath:… und von Subjektivität…

Kirchner:… die das Mittelalter abgeschafft hat…

Dath:… und von Liebe und Kunst und all diesen schönen Sachen.

Zumindest sind die mit dem Kapitalismus in gewissen Grenzen kompatibel gewesen. Es gibt eine Möglichkeit der Selbstüberwindung des Kapitalismus, die in zwei Richtungen gehen kann. Das eine wäre eine Assoziation, in der die freie Entwicklung eines jeden Bedingung für die freie Entwicklung aller ist, in der alle ihr Auskommen haben, alle im gleichen Maße frei sind und alle assoziiert sind mit allen. Das andere hat noch keinen richtigen Namen. Nennen wir es einfach die Katastrophe.

Dath: Oder wie es im Manifest heißt: gemeinsamer Untergang. Ein Untergang kann ja sehr lange dauern, Jahrtausende.

Offensichtlich ändern sich immer wieder auch die kapitalistischen Eigentumsformen im Kapitalismus selbst. Das Privateigentum als solches wird nicht aufgehoben, aber es nimmt neue Formen an. 1990, als es am schwärzesten aussah für den Sozialismus, hat ein DDR-Ökonom, Peter Hess, davon gesprochen, dass es bei Marx zwei Möglichkeiten der Aufhebung des Privateigentums gebe: öffentliches Eigentum, die positive Aufhebung des Privateigentums, und die negative Aufhebung des Privateigentums durch den Kredit, durch den kleine Eigentümer enteignet werden, ihr kleines Privateigentum an Konzerne und Banken verlieren. Heute sieht es so aus, als könnte diese negative Form der Enteignung zu einer Enteignung der Enteigner selbst führen. Sie müssen ihre uneinbringlichen Schulden abschreiben und werden insolvent. Katastrophe, würde Frau Merkel sagen, ist, wenn die großen Finanzgesellschaften pleite gehen; das muss man verhindern, zur Not auch dadurch, dass die öffentliche Hand diese Gesellschaften enteignet, indem sie zum Beispiel systemrelevante Banken zeitweise übernimmt. Ein Sozialist oder eine Sozialistin würde statt dessen sagen: pleite gehen lassen (das wäre ja dann auch eine Enteignung) oder vergesellschaften, aber nicht nur zeitweise, sondern auf Dauer. Dann wäre eine Eigentumsform durch eine andere ersetzt.

Dath: Was Merkel will, hat sie mehr oder weniger klar ausgesprochen: dass immer wieder mit dem Klingelbeutel rumgegangen wird, das Eigentum erhalten bleibt, die Schulden aber bezahlt werden.

Das ist ihr Dritter Weg. Zur Zeit schieben sich Bewegungen zusammen, die sich katastrophenbewusst sehen, über die man aber auch ein bisschen lächeln kann: Occupy oder die Feuilletonpanik. Wenn dagegen Herr Lafontaine und Frau Wagenknecht sagen, es müsse eine Enteignung nicht in negativer Weise, sondern in positiver Weise durch die öffentliche Hand erfolgen – wäre das nicht eine Annäherung an Ihr Ziel „Auskommen, Freiheit, Mitsprache“? Frau Wagenknecht knüpft sogar bei Ludwig Erhard und der sozialen Marktwirtschaft an. Das wäre dann ein Stück praktischer Politik.

Dath: Wie finden wir die beiden?

Kirchner: Es hat auf jeden Fall unsere Sympathie, und es passt in die Aufklärungsredefigur.

Dath: Was dazukommen muss, sind Kräfteverhältnisse. Es wird so getan, als ginge es um die beste Idee. Aber es gibt diese neutrale Instanz nicht, die sich von der besten Idee überzeugen ließe.

Wenn die Lafontaine/Wagenknecht’sche Idee realisiert würde, könnte sie in einer Falle landen: in der Gemeinwirtschaft. Die Gemeinwirtschaft, ein Begriff von Walter Rathenau, bedeutet, dass bestimmte Bereiche, die man privat nicht mehr profitabel betreiben kann, öffentlich betrieben werden.

Dath: Das macht der Kapitalismus ja sowieso die ganze Zeit. Wenn wirklich richtig teure Sachen neu erfunden werden müssen, das Internet zum Beispiel, dann läuft’s übers Militär, also den Staat. Und wenn es profitabel ist, wird es privatisiert. Die Bewährungsprobe steht einfach noch aus. Sind Leute wie Lafontaine und Wagenknecht darauf vorbereitet und schaffen sie es, die Leute, deren Unterstützung sie dafür brauchen, darauf vorzubereiten, was mit diesen Vorschlägen passiert, wenn tatsächlich so Themen wie Eigentum und Macht daraus werden? Das ist für mich die entscheidende Frage.

Und was geschieht, wenn sie dann feststellen: Es gibt nicht nur einen einzigen Judokampf, sondern immer neue.

Dath: Das Blöde am Judo ist ja: Wenn der andere eine Pistole zieht, spielt’s keine Rolle mehr, welch gute Reflexe man hat. Es gibt den Monty-Python-Sketch, wie man sich gegen einen Mann mit einer Banane verteidigt – nun ja, der wird halt erschossen. Wenn wir aber 500 Leute sind und der andere hat fünf Kugeln und eine Pistole, dann wird er vielleicht davon zu überzeugen sein, dass es idiotisch ist, noch drei zu erschießen, bevor wir ihn totschlagen. Das meine ich mit Kräfteverhältnissen.

Sie haben diese leere Stelle zwischen dem Sein und dem Sollen. Wer kann das Sollen herbeiführen in welcher Situation?

Dath: Ein Buch muss immer auch wissen, dass es das selber niemals beantworten kann. Dafür ist es ein Buch, dass es jemand liest und irgendwas damit macht oder nicht. Ein sehr guter Gesellschaftstheoretiker war der Gott der Bibel, als er Noah gesagt hat, ich teile dir mit, es wird regnen, statt ihm die Arche hinzustellen.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Text erschien zuerst in KONKRET 3/2012. Wir danken für die Publikationsgenehmigung.

Titelbild

Dietmar Dath / Barbara Kirchner: Der Implex. Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
880 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783518422649

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