Kulturen des Denunziatorischen

Oder: „In richtig funktionierenden Institutionen versteht sich das Moralische von selbst“

Von Hans-Joachim HahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Joachim Hahn

In Bernhard Schlinks Bestseller „Der Vorleser“ (1995) gibt es eine Passage, in der vom Ich-Erzähler Michael Berg die Lese- und Schreibfortschritte der inhaftierten SS-Täterin und früheren Analphabetin Hanna Schmitz kommentiert werden. „Schnitzler bellt, Stefan Zweig ist ein toter Hund“ – zwei knappe Urteile,[1] besser gesagt Verurteilungen jüdischer Schriftsteller, von denen der letztere im brasilianischen Exil auf der Flucht vor den Nazis 1942 seinem Leben selbst ein Ende setzte, werden hier präsentiert. Im vorausgegangenen Satz drückt Berg seine Übereinstimmung mit den nachfolgenden Sentenzen aus: „Ihre Bemerkungen über Literatur trafen oft erstaunlich genau.“

Wie ist diese Passage zu interpretieren? Natürlich entbehrt es nicht der Plausibilität, dass sich eine ehemalige NS-Täterin bei ihren Kommentaren zur Literatur auch noch Jahrzehnte nach dem Ende des Nationalsozialismus in ihren Äußerungen im Rahmen des ehemals erlernten moralischen Wertgefüges bewegt. Soll den Lesern aber tatsächlich ausgerechnet im Zusammenhang mit den Lernerfolgen der früheren Analphabetin vor Augen geführt werden, dass sie weiterhin in NS-Kategorien denkt und sich zynisch über jüdische Autoren äußert, was sich wiederum offenkundig den Reflexionen des Ich-Erzählers entzieht? Vor einigen Jahren hatte ich die Passage in einem Kapitel über den „Vorleser“ in meiner Studie zu Darstellungen des Holocaust so kommentiert: „In Hannas Redeweise teilt sich ungebrochen das Urteil der SS-Aufseherin mit, wenn sie wörtlich Schnitzler bellen lässt, also eine der frühen NS-Foltermethoden zur Charakterisierung von dessen Literatur anwendet, und noch nachträglich über Stefan Zweigs Selbstmord auf der Flucht vor der Gestapo triumphiert. Michael Bergs Affirmation ihrer Vernichtungsurteile zeigt ihn als Komplizen Hannas, als Teil eines fortwirkenden NS-Wertesystems (vgl. Gross/Konitzer 1999).“[2] Das zustimmende Urteil Michael Bergs, der sich erstaunt zeigt, wieviel ältere Literatur sich lesen lasse als sei sie gegenwärtig und dem noch anfügt, wer nichts über Geschichte wisse, könne „erst recht in den Lebensumständen früherer Zeiten einfach die Lebensumstände ferner Gegenden sehen“,[3] hatte ich wie folgt interpretiert: „Fluchtpunkt des Gedankens ist der beschauliche Blick auf ferne Gegenden, der nur über ein völliges Ausblenden der Geschichte zu haben ist.“[4]

Schlinks Protagonistin war Teil einer genozidalen „Kultur des Denunziatorischen“, um Schlinks Schlagwort aus einem von ihm 2011 veröffentlichten kulturpolitischen Essay aufzugreifen, deren moralische Imperative im Sinne ihrer früheren Wertorientierungen bei der Inhaftierten offenbar noch immer wirksam sind. Weil Berg ihre diffamierenden Aussagen als treffende Bemerkungen über Literatur belobigt, fehlt eine Gegenstimme, die auf der Textebene einen Anlass böte, über die Werturteile nachzudenken. Sollte richtig sein, dass der Prozess der Alphabetisierung von Hanna Schmitz als der Erwerb auch ethischer Kompetenz zu verstehen sei, die der ehemaligen Täterin im Laufe des Gefängnisaufenthalts eine Einsicht in ihre eigenen Taten ermöglicht, wie verschiedentlich in der Forschung vermutet wurde und wofür in der Tat einiges spricht,[5] erscheint jedoch besonders widersprüchlich, dass dies gerade am Beispiel der Artikulation von NS-Urteilen über Literatur veranschaulicht wird. Während eine textimmanente Lesart ausschließlich in Kenntnis des „Vorlesers“ noch von einer bewusst konstruierten Ambivalenz ausgehen könnte, die den Text insgesamt dann als eine literarische Auseinandersetzung mit der verstörenden transgenerationellen Tradierung von NS-Einstellungen verstünde, erscheint eine solche Deutung bereits im Lichte der Rezeption des Romans und späterer Veröffentlichungen Schlinks unwahrscheinlich. Die These, den Roman als eine bewusste Thematisierung von fortwirkendem Antisemitismus und Volksgemeinschafts-Mentalität zu lesen, hielt schon einer Analyse des Romans im Kontext seiner Rezeption kaum stand. Sowohl für die literarischen Texte Schlinks als auch für Aussagen des Autors in Essays und Interviews lässt sich ein wiederkehrendes Muster benennen: der Wunsch nach einer Versöhnung zwischen den Angehörigen der für den Nationalsozialismus verantwortlichen Generation, deren Kindern und schließlich der Generation der Enkel. Das Geschichtsverständnis Bernhard Schlinks scheint dabei dem von Michael Berg ähnlicher zu sein, als ich vor einigen Jahren vermutete: in den Lebensumständen früherer Zeiten die Lebensumstände ferner Gegenden zu sehen. Eine solche Version von Geschichte und dem Umgang mit ihr stößt aber nicht nur im Hinblick auf die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts an Grenzen, sondern stellt eine geschichtspolitische Positionierung dar, die bestreitbar ist und sich in der Abwehr einer vermeintlich kollektiven heutigen „Kultur des Denunziatorischen“ selbst als höchst moralisch erweist.[6]

Denunziation – Von der Forschung zum Vorwurf

Seit einigen Jahren beschäftigt sich Bernhard Schlink mit der Erforschung von Formen der Denunziation.[7] Denunziation gilt ihm in einem Aufsatz von 2007 als eine Form des Verrats neben anderen wie Korruption oder Verleugnung.[8] Gemeinsam sei all diesen Formen des Verrats der Bruch einer Loyalitätsbeziehung, der im Falle der Denunziation durch die Anzeige bei einem Machthaber geschehe. Heute besitze der Verrat jedoch eine andere Gestalt als früher, da Loyalitätsbeziehungen in der Gegenwart zugleich vielfältiger als auch schwächer geworden seien. Doch trotz der schwächer gewordenen Loyalitäten sei der Verrat weiterhin aussagekräftig: „Im Verrat zeigt sich die Wahrheit unserer Loyalitäten, in unseren Loyalitäten zeigt sich die Wahrheit unserer Identität.“[9] Damit verbindet Schlink die Denunziationsforschung mit einem identitätspolitischen Moment.

Eine solche identitätspolitische Aufladung der Frage nach Denunziation bestimmt auch den Aufsatz aus dem Sommer 2011, in dem Schlink die gegenwärtige Kultur in Deutschland als eine „Kultur des Denunziatorischen“ charakterisiert. Gegenstand dieses von Schlink ausgemachten kulturellen Phänomens sind dabei weder eine Analyse des Nationalsozialismus im Hinblick auf die Bedeutung von Denunziation noch sonstige Akte von Verrat und Denunziation, sondern lediglich ein von ihm behaupteter aktueller Umgang mit der deutschen Geschichte und Kultur, wobei er sich im Wesentlichen auf das 19. und 20. Jahrhundert beschränkt. In dieser kulturell-politischen Konstellation sieht Schlink zu seinem Leidwesen offenbar so etwas wie eine letzte Garantie dafür, dass ein Interesse an der deutschen Geschichte überhaupt noch erhalten bleibe und befürchtet dessen vollkommenes Verschwinden. Sein Essay stellt gegenüber diesem düsteren Szenario ein Plädoyer für einen anderen Umgang mit Geschichte dar, der sich durch Empathie bei gleichzeitiger Distanz auszeichnen soll. Einerseits will Schlink einen „Graben“ gezogen wissen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, andererseits aber soll uns die Innensicht der damaligen Protagonist(inn)en gezeigt werden. Nachdem die Erlebnisgeneration tot sei – bezogen auf die NS-Vergangenheit – könne man jetzt die Geschichte so schreiben, wie sie gewesen sei, so sein nicht von ungefähr an Leopold von Rankes Geschichtspositivismus erinnerndes Credo. Die Forderung nach Einfühlung gehört zu den wichtigsten Voraussetzungen für den von Schlink favorisierten Umgang mit Geschichte, bei dem es ihm primär immer um Personengeschichte geht: „Wie die Menschen damals gefühlt haben, lässt sich nicht ohne Einfühlung in ihre Wahrnehmungen und Empfindungen herausfinden, und wie moralisch sie sich damals verhalten haben, nicht ohne Rücksicht darauf, welche Verhaltensmöglichkeiten und moralischen Verpflichtungen sie damals gesehen haben“.

Was als Forderung nach einer historischen Moralforschung gemeint sein könnte, die sich mit dem Wandel moralischer Regeln in Kollektiven beschäftigt und noch immer ein Desiderat darstellt,[10] verkürzt sich hier jedoch auf die polemische Zurückweisung einer vom Autor offenbar als ubiquitär wahrgenommenen Verquickung von moralischen Urteilen und Geschichtsschreibung in der Gegenwart. Ausgehend von Beobachtungen bei einem Seminar zur Geschichte der Rechtswissenschaft stellt Schlink weitreichende Thesen zu einer von ihm behaupteten, kulturellen Praktik des Denunziatorischen auf, die in Deutschland gegenwärtig bereits in der Schule eingeübt werde. Gerade die engagierten Lehrer seien es, die ihre Schüler mit „wuchtigen moralischen Verurteilungen“ zu Eigenständigkeit erziehen wollten. Wenige Zeilen später spricht er dann sogar von einem „Programm“, das „auf keinem historischen Feld so intensiv verfolgt“ werde „wie auf dem Feld des Nationalsozialismus“. Im gegenwärtigen Deutschland werde also programmatisch eine Kultur des Denunziatorischen eingeübt, so seine Diagnose. Dieser weitgehende Denunziationsvorwurf lässt aufhorchen.

Seine Überlegungen entwickelt Schlink dabei in Auseinandersetzung mit einigen jüngeren vergangenheitspolitischen Debatten (Thilo Sarrazin; „Das Amt“), seiner Lektüre eines bereits 2005 erschienenen germanistischen Sammelbandes aus Anlass des 150. Jubiläums von Gustav Freytags Bestseller „Soll und Haben“ (1855) sowie anhand einer Rezension Hans-Ulrich Wehlers zu einer Quellenedition zur Vorgeschichte des Krieges von 1870/71. Es ist das Insistieren auf einer Bewertung nach heutigen Maßstäben, das Schlink als denunziatorisch deutet. Was er damit meint, exemplifiziert er unter anderem an familienhistorischen Erinnerungen. So führt er etwa eine Reminiszenz an seinen Großvater an, der noch voller Stolz Bismarcks Ränkeschmieden gegenüber Napoleon III. verteidigt habe. Vor allem scheint es ihm darum zu gehen, diese offenbar im Familiengedächtnis überlieferte Ansicht zu Bismarcks Politik als damalige „Innensicht“ für ein heutiges Verständnis der damaligen Zeit anzuempfehlen. Was aber spricht eigentlich gegen eine Einordnung und Bewertung solcher historischen Quellen nach gegenwärtigen Maßstäben und im Wissen um historische Entwicklungslinien? In der Deutung von Schlink wird dadurch den historischen Personen Unrecht getan.

Schlink bedient sich in seiner kulturpolitischen Philippika wiederholt juristischer Vergleiche, vor allem der Metapher des Gerichts: „Es muss moralisch Gericht gehalten werden – mit heutigen Maßstäben über gestriges Verhalten“. Insbesondere die im Zusammenhang der Diskussion um die Studie „Das Amt“ (2010) gemachte Aussage des Freiburger Zeithistorikers Ulrich Herbert, in der Konsequenz der Forderung, die handelnden Personen im Horizont ihrer Zeit moralisch zu beurteilen, gebe es „keine Verantwortlichen mehr, sondern nur noch in unterschiedlichem Maße Getriebene“, provoziert Schlink.[11] Der genauere Zusammenhang, den Schlink bezeichnenderweise nicht erwähnt, bezieht sich auf einen Kommentar Herberts zu Ansichten Daniel Koerfers, einem Enkel von Gerhart Feine (1894-1959), eines früheren Beamten des Auswärtigen Amts und einer Ausnahmegestalt. Feine versuchte 1944 in Budapest im Zusammenwirken mit dem schweizer Botschaftsangehörigen Carl Lutz und dem schwedischen Diplomaten Raoul Wallenberg die Deportation der noch verbliebenen ungarischen Juden zu verhindern. Koerfer wirft der Studie nicht nur vor, nicht zur Versöhnung beizutragen und dass sich ihre Autoren zu wenig in die damalige Lage der Beamten des Auswärtigen Amtes eingefühlt hätten, sondern bezeichnet sie sogar als „Buch der Rache“.[12] Herberts sehr knappe Wiedergabe der Position Koerfers lautet: „Es (sic!) wirbt um Verständnis für die Täter und ihr Umfeld, für differenzierte Betrachtung, und dem werde das Buch nicht gerecht“. Diese Darstellung bewertet Herbert dann noch einmal, den gegen die „68er“ gerichteten Pauschalvorwurf Koerfers parierend: „Solche Töne haben wir in Deutschland lange nicht mehr gehört. So ähnlich haben nach 1945 alle großen und kleinen NS-Funktionäre argumentiert: Ihr wisst ja nicht, unter welchen Zwängen wir standen! In der Konsequenz gibt es dann gar keine Verantwortlichen mehr, sondern nur noch in unterschiedlich starkem Maße Getriebene, letztlich: Opfer“.[13]

Dass in Herberts Darstellung wiederum durchaus bedenkenswerte Aussagen aus dem Gespräch nicht aufgenommen werden, ist bedauerlich. Gleichwohl bleibt seine Zurückweisung der pauschalen Zuspitzungen Koerfers nachvollziehbar. Für Herbert ist Geschichtsschreibung weder eine neutrale Tätigkeit noch ein Beitrag zur Versöhnung, sondern Aufklärung, die auch mit der Benennung von historischer Verantwortlichkeit zu tun. Im Widerspruch zu einer solchen Position entwickelt Schlink jedoch eine Definition des Denunziatorischen, die im Zentrum seiner Argumentation steht und deshalb hier ausführlich zitiert sei:

„Das ist denunziatorisch, obwohl es niemanden auf den Scheiterhaufen, ins Lager oder ins Gefängnis bringt. Es unterwirft Personen einem Maßstab, der ihnen nicht gemäß ist, und überantwortet sie einem Gericht, das ihnen nicht gerecht wird. Das Gericht ist fest etabliert, und der Maßstab wird verlässlich exekutiert. Aber das schließt Denunziation nicht aus, es ist deren Voraussetzung.

Es schafft eine Kultur des Denunziatorischen, weil es den Umgang mit Geschichte insgesamt prägt, den wissenschaftlichen wie den alltäglichen, den Umgang mit der politischen Geschichte wie mit der Literatur- und Kulturgeschichte.

Es prägt sogar den Umgang mit der Gegenwart. Bei einer Bewertung historischer Personen, als lebten sie heute, bei einem Umgang mit der Geschichte, als sei sie Gegenwart, bleibt das nicht aus. […] Vergangenheitsbewältigung hat den Graben zwischen Vergangenheit und Gegenwart eingeebnet; indem der Maßstab der Gegenwart an die Vergangenheit angelegt wurde, wurde der Entlarvungs- und Demontierungsimpuls, der sich zunächst auf die Vergangenheit richtete, auch auf die Gegenwart erstreckt“.

Selbst mit der Definition aus Schlinks früherem Essay, wo mit Denunziation eine Form des Verrats und der Bruch einer Loyalitätsbeziehung bezeichnet wurde, kommen diese Ausführungen nicht mehr ohne Weiteres überein. Welche Loyalitätsbeziehung könnte etwa zwischen heutigen Studierenden und Gustav Freytag bestehen, die durch eine moralische Bewertung des Programmatikers des Bürgerlichen Realismus „verraten“ würde? Nimmt man Schlink hier allerdings beim Wort, so muss zunächst geklärt werden, welche Form von Loyalität gemeint ist. Am plausibelsten erscheint dann, die von ihm unterstellte Aufkündigung einer Solidarität mit Gustav Freytag als mangelnde Empathie und Identifizierung mit einem erfolgreichen deutschen Autor des 19. Jahrhunderts zu verstehen. Die behauptete Kultur der Denunziation wird so lesbar als eine geringere affektive Bindung an die deutsche Geschichte, wobei Geschichte als kollektives nationales Gedächtnis gedacht wird und nicht im Sinne einer selbstreflexiven Historiografie. Für eine solche Deutung spricht auch die Reminiszenz an die Bismarck-Verehrung seines Großvaters. Widersprüchlich ist dabei die einerseits geforderte Distanz zu den historischen Personen, die ganz offenkundig mit der identitätspolitischen Aufladung konfligiert. Im Weiteren soll dies auch im Blick auf die sprachliche Form des Aufsatzes genauer dargelegt werden.

Trotz der juristischen Termini erzeugt Schlink ein hohes Maß an begrifflicher Unschärfe. Wie überhaupt kann Denunziation die Voraussetzung für ein „fest etabliertes“ Gericht sein und wer sollte dieses etabliert haben? Mit diesem Vergleich dramatisiert und verallgemeinert Schlink eine Kritik, die sich gegen einen Teil der gegenwärtigen Öffentlichkeit richtet und die aus früheren Aufsätzen bekannt ist. Zum einen macht er offenbar die „engagierten Lehrer“, zum anderen aber auch Historiker_innen und Kulturwissenschaftler_innen verantwortlich für den von ihm beklagten Zustand einer Ubiquität des Moralischen.[14]

Beiden Personengruppen gegenüber erhebt er pauschal schwere Vorwürfe. In dem früheren Aufsatz „Die Gegenwart der Vergangenheit“ (2001) war seine Kritik am moralischen Gestus als Generationendiskurs formuliert, in den sich der Autor einbezog. Während er die seiner Generation zugeschriebene Thematisierung von Nationalsozialismus und Holocaust in den 1960er-Jahren legitimiert, weil sie noch gegen Widerstände durchgesetzt werden musste, hält er das spätere Insistieren für funktionslos: „Aber das Insistieren, das meine Generation damals mit rebellischem Stolz und nicht ohne moralische Kraft eingeübt hat, hat sie auch dann noch beibehalten, als es seine Funktion verloren hatte“.[15]

Er sieht darin sogar ein generationenüberschreitendes Problem, das zu einer Banalisierung der Vergangenheit führe. Zusätzlich sieht er als eine Gefahr, dass die von seiner Generation aus der Beschäftigung mit NS und Holocaust gezogene Lehre „eher eine moralische als eine institutionelle“ sei.[16] Und dann folgt nur wenig später die überraschende Behauptung, dass sich in „richtig funktionierenden Institutionen […] das Moralische von selbst“ verstehe.[17] Tatsächlich ist jedes Moralsystem, das sich auch als „konjunktiver Erfahrungsraum“ (Karl Mannheim) beschreiben lässt, weitgehend internalisiert. Das gilt für Systeme partikularer Moral genauso wie für universale. In einer Beschäftigung mit moralischen Empfindungen jedoch das Erklärungsbedürftige zur Selbstverständlichkeit zu machen, lässt sich wohl nur als identitätspolitische Wunschvorstellung deuten.

Ebenso wirft eine ähnlich überraschende These im jüngeren Aufsatz von 2011 ein plötzliches Schlaglicht auf den offenbaren Überdruss des Autors an weiterer Auseinandersetzung mit NS und Holocaust: „Jedes Stadt-, jedes Gerichts-, jedes Kirchen- und jedes Vereinsarchiv enthält Quellen aus dem Dritten Reich, und wenn sie erhoben werden, werden sie den Weg der Ausgrenzung und Verfolgung der Juden bestätigen. Was sonst?“

Das genau ist ja das Problem, das auch heute noch die Gegenwart affiziert. Hält Schlink es etwa für richtig, diese Akten deshalb nicht mehr zu analysieren? Warum dann eigentlich die ganze Aufregung über eine Studie wie „Das Amt“, wenn sowieso allen heute klar ist, dass jede Institution in Nazideutschland auf die eine oder andere Weise in den Völkermord involviert war? Ist das nicht eine immer wieder neu beklemmende Einsicht, die obendrein über Jahrzehnte geleugnet wurde, und, wie Schlink selbst schreibt, zunächst gegen Widerstände durchgesetzt werden musste?

Es lässt sich anfügen: bis heute gibt es Widerstände gegen eine Anerkennung des völligen Verlusts universal-menschlicher Wertorientierungen bei einer Mehrzahl der verantwortlichen deutschen Bevölkerung während des Nationalsozialismus. Warum sollte es für Angehörige jüngerer Generationen falsch sein, sich auch damit auseinanderzusetzen, um – im emphatischen Sinne – „moralisch“ zu lernen? Das lässt Schlink völlig außer acht und wiederholt seine beschränkte These vom moralischen Missbrauch: „Ständig wird Gegenwart zu neuer Vergangenheit und hält dem neuen moralischen Blick nicht mehr stand. Ständig wird es in der Gegenwart neue Stoffe für moralische Skandalisierungen geben“.

Weil Schlinks Argumentation im Wesentlichen anhand von Beispielen entwickelt wird, ist es notwendig, auch auf diese einzugehen. Die Beschränkung auf Debatten zur deutschen Geschichte oder Gegenwart bestätigt, dass es Schlink im Hinblick auf seine „Kultur der Denunziation“ tatsächlich um ein Problem ausschließlich der deutschen Auseinandersetzung mit der deutschen Nationalgeschichte zu tun ist. Sein Fazit nach der Lektüre von „Das Amt“ war, dass man die Studie nicht lesen könne, „ohne den Eindruck zu gewinnen, die Verfasser seien über die deutschen Diplomaten moralisch empört und sie wollten mit ihrer Darstellung moralisch empören“. Dass dies auch legitimer Zweck einer wissenschaftlichen Studie sein könne, wird von Schlink vehement abgelehnt. Tatsächlich erscheint widersprüchlich und nicht nachvollziehbar, dass die Verfasser der Studie darauf bestehen, sie hätten keine moralischen Urteile gefällt, sondern lediglich die Geschichte des Auswärtigen Amts erforscht und auf individuelles Handeln nur im Sinne einer Illustration hingewiesen.[18] Beides lässt sich wohl kaum völlig voneinander trennen. Patrick Bahners hat in einem Beitrag zur Debatte ironisch darauf hingewiesen, dass sich die Autoren der Studie, die angetreten waren, die Legende vom unpolitischen Fachdiplomaten aus der Welt zu schaffen, erstaunlicherweise selbst als unpolitische Historiker begriffen.[19] Damit wiederum behaupten sie ein fragwürdiges Forschungsideal, dem zwar die Studie selbst nicht entspricht, das dem von Schlink ironischerweise aber gar nicht so unähnlich ist.

Besonders bemerkenswert ist Schlinks Vorstellung, dass historische Personen in der aktuellen Geschichtsschreibung einem Maßstab unterworfen würden, „der ihnen nicht gemäß ist“. Tatsächlich erscheinen die juristischen Maßstäbe, nach denen Gerichtsurteile ausgesprochen werden, aus der Sicht der Verurteilten wohl selten als angemessen, was das Problematische dieser Analogie offenbart. Mit seiner besonderen Empathie gegenüber historischen Personen der deutschen Geschichte verbindet Schlink Deutungen, die eine geschichtspolitische Positionierung bezeichnen. Äuffälligerweise ist ja die Rhetorik, in der hier für das Einfühlen in die Moralvorstellungen historischer Personen votiert wird, selbst voller Werturteile – und damit moralisch. Die prominente und abwegige Verwendung des Begriffs der Denunziation zeigt das wohl am offensichtlichsten, aber auch die Rede vom „fest etabliert[en]“ Gericht oder die Unterstellung eines „Programms“ moralisierender Verurteilung sind polemische Zuspitzungen.[20]

Zur wertenden, verzerrenden Darstellung gehört auch die Behauptung, es müssten „Legenden her, die endlich entlarvt“ würden, die für den moralischen Gestus unentbehrlich seien. Schlink behauptet kontrafaktisch, solche Legenden seien lediglich von den inzwischen verstorbenen Angehörigen der Kriegsgeneration entwickelt und verteidigt worden und daher inzwischen bedeutungslos: „Aber heute sind sie tot. Sie leisten keinen Widerstand mehr. Sie müssen nicht mehr bekämpft werden. Ihre Legenden, Beschönigungen und Verfälschungen sind erledigt. Ihre Geschichte so zu schreiben, wie sie war, erfordert keinen Mut mehr“.

Eine solche Vorstellung verkennt, dass Ansichten der Vergangenheit immer perspektivisch sind und deren nachträgliche Geschichtsschreibung weiter auf Aushandlungsprozessen beruht, die nicht mit dem Aussterben der jeweiligen Erlebnisgeneration schon beendet wäre. Richtig ist sicherlich, dass die Widerstände geringer geworden sind. Dabei erkennt Schlink durchaus an, dass das Demontieren von Legenden über den Nationalsozialismus zunächst mutig erkämpft werden musste und so „das rebellische Aufbegehren der sechziger und siebziger Jahre […] dadurch auch zur moralischen Leistung“ wurde. Schlink suggeriert nun allerdings, dass zwar der vergangenheitspolitische Gegner nicht mehr existiere, der moralische Gestus sich aber erhalten habe. Anzunehmen ist wohl, dass sich beides verändert hat.

Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive kann Schlinks Lektürewiedergabe zu dem von Florian Krobb herausgegebenen Sammelband „Studien zu Gustav Freytags kontroversem Roman“ (2005) kaum unwidersprochen hingenommen werden. So schreibt er, das Interesse der im Band versammelten Studien gelte der Mentalität des deutschen Bürgertums, „aber nicht der Mentalität, wie sie damals existierte, sondern wie sie sich heute blamiert“. Wie ein Blick ins Vorwort des Herausgebers schnell zeigt, setzt der Sammelband aber an der These an, dass der schnelle und dauerhafte Erfolg des Romans offenbar darauf beruhe, einen Nerv „seiner eigenen Zeit und der folgenden hundert Jahre“ getroffen zu haben.[21] Erklärtes Interesse des Bandes ist es daher: „Den Gründen dieser Wirkmächtigkeit nachzuspüren, den historischen und literaturgeschichtlichen Ort des Romans genauer zu vermessen und neue Sichtweisen und Untersuchungsfragen an den Roman heranzutragen“.[22] Den Band interessiert also der literarische Text, das literaturpolitische Programm Freytags und die Rezeptionsgeschichte. Schlinks Interesse beschränkt sich dagegen auf die herausgelöste historische Gestalt Freytags, den er vor vermeintlicher moralischer Verurteilung in Schutz nehmen zu müssen meint: „Mit heutigem moralischen Maßstab vermessen, erweisen sich Freytags Judenbild, Polenbild, Frauenbild und Amerikabild als gestrig und defizitär“. Schlink kommt weder auf den Gedanken, dass Freytags „Judenbild, Polenbild, Frauenbild“ auch von Zeitgenossen schon kritisiert wurde, noch interessiert ihn die erstaunliche Persistenz einer über hundert Jahre währenden Erfolgsgeschichte, durch die wohl offensichtlich etwas über die Mentalität des deutschen Bügertums zwischen 1855 und 1965 zu lernen sein könnte. Es mag müßig sein, erneut darauf hinzuweisen, dass eine einfache Trennung heutiger Perspektive von einer Rekonstruktion der historischen Mentalität sowieso nicht möglich ist. Jedes heutige Verstehen einer Vergangenheit enthält immer auch den gegenwärtigen Horizont. Erkenntnis besteht immer im Abgleich mit den eigenen Vorerwartungen und Deutungsmustern. Das gilt selbstverständlich auch für die Aussagen von Schlink und war bereits der klassischen Hermeneutik vertraut.

Bei der Forderung nach einer „differenzierte[n] und nuancierte[n] Beschäftigung“ mit Thilo Sarrazins Millionenbestseller „Deutschland schafft sich ab“ bezieht sich Schlink dagegen ausgerechnet auf die Behauptung, dass sich das „gesellschaftliche Bedürfnis“ nach einer Diskussion um das Buch gerade an der Tatsache seines millionenfachen Verkaufs ablesen lasse. Während Schlink im Falle von Gustav Freytag das Ziel einer kritischen Rekonstruktion der problematischen Erfolgsgeschichte des Bestsellers, die der Sammelband von Krobb unternimmt, zugunsten seiner polemischen Verteidigung des historischen Autors unterschlägt und sich so an der gesellschaftlichen Bedeutung und politischen Rolle Freytags demonstrativ uninteressiert zeigt, ist es bei Sarrazin nun gerade das Argument des Verkaufserfolgs, über das Schlink ein gesellschaftliches Interesse am Text behauptet. Auch wenn selbstverständlich richtig ist, dass Probleme moderner Einwanderungsgesellschaften diskutiert werden müssen, vermag nicht einzuleuchten, warum das ausgerechnet über ein Buch voller Ressentiments geschehen soll, das in der Tradition einer Beschwörung des Untergangs der eigenen Kultur steht, wie sie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in Deutschland immer wieder unternommen wurde.[23]

Das lässt sich vor allem durch Affinitäten zwischen der von Sarrazin in seiner Schrift aufgerufenen kulturellen Tradition und Schlinks Kulturideal erklären. Insbesondere seine Aversion gegen die Verbindung von moralischen Urteilen und gegenwärtiger Geschichtsschreibung greift einen bekannten Topos neu-rechten Denkens auf. Zu denken wäre dabei etwa an Arnold Gehlens gegen die Kritische Theorie gerichtetes letztes Buch „Moral und Hypermoral“ (1969), worin unter anderem die These vertreten wird, dass die von den Westalliierten nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik installierte neue politische Ordnung von der jungen Generation in unangemessener Weise moralisch aufgeladen worden sei: „Er (=Gehlen; H. J. H.) verurteilt dieses Bestreben als eine unzulässige Politisierung der Moral, deren Wurzel jedoch lange im Prozess der Aufklärung angelegt gewesen sei“.[24]

Der Wunsch nach transgenerationeller Harmonie

Am Ende seines Essays ist Schlink bei einer romantischen Vision angelangt, deren Scheitern er in den beiden Romanen „Der Vorleser“ und „Das Wochenende“ vorführt: die transgenerationelle Harmonie und Aussöhnung zwischen den Generationen im nationalen Kollektiv.[25] Ein deutscher Student bemerkt im Gespräch mit deutschen und amerikanischen Studierenden, dass sein Großvater in der SS gewesen sei. Schlink kommentiert, dass der Student auf die anschließenden interessierten und emphatischen („Sie tat es interessiert, ruhig, fast sanft“) Nachfragen einer amerikanischen Studentin nach seinem Großvater zunächst die meisten Antworten schuldig blieb: „Er war stolz, dass der Vater mit dem alten Nazi gebrochen hatte; er selbst hatte ihn nur drei Mal gesehen, das letzte Mal mit vierzehn Jahren“. Im Verlauf des Gesprächs, das Schlink hier aus seiner Sicht wiedergibt, begann sich der Student jedoch mehr und mehr für den Großvater zu interessieren: „Der Student hatte an meinem Seminar teilgenommen, und ich erinnerte mich an die moralische Strenge seiner Urteile. Unter den behutsamen Fragen der amerikanischen Studentin schien sich sein strenger Blick auf den Großvater zu wandeln.“ Und in der Deutung Schlinks erhält das hier offenbar beobachtete, beginnende Interesse für den vermutlich längst verstorbenen Großvater einen fast utopischen Glanz: „Es war, als wolle der Student erstmals wissen, wer sein Großvater eigentlich war“.

Auch Ralph Giordano berichtet in seiner Studie „Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein“ (1987) von einem Gespräch mit einer deutschen Nachgeborenen, mit einer Schülerin aus der Oberstufe eines Gymnasiums. Die hatte bei einer Diskussion mit dem Autor gesagt: „Ich höre, lese und sehe immer so schreckliche Dinge aus der Zeit von damals. Wer hat die eigentlich begangen? Mein Opa und meine Oma – das sind so liebe Menschen!“ Auf Giordanos Nachfrage, ob sie denn mit ihren Großeltern auch über die Nazizeit gesprochen habe, verneint sie, „zögernd, nachdenklich“.[26] Auch hier wird also im Blick auf die transgenerationelle Kommunikation ein Defizit konstatiert, das allerdings eine andere Deutung erfährt als bei Schlink. Tatsächlich zieht sich der Autor auch nicht auf eine scheinbar neutrale Position zurück, sondern bewertet den überlieferten Diskussionsausschnitt ganz eindeutig: „Da nützt denn auch alle Liebheit nichts, vielmehr schließt sich der Kreis: Die alte Schizophrenie, das Kainszeichen der ersten Schuld, ist auch in der zweiten voll erhalten geblieben – die Spaltung der Persönlichkeit in eine privat humanitäre, politisch jedoch antihumanitäre Hälfte!“[27]

Giordanos Beobachtung liegt nun ein Vierteljahrhundert zurück. Dennoch hat die Differenz in der Wahrnehmung und Darstellung in diesem Falle wohl wenig mit dem zeitlichen Abstand zu tun. Schlinks vergangenheitspolitische Thesen schreiben sich von einer zum Teil generationellen und kollektiven Problematik her, für die allerdings nur individuelle Antworten möglich sind: der Umgang mit geliebten, geachteten oder verehrten Personen, die in Verbrechen verstrickt waren. Darum dreht sich im Kern das zentrale Erkenntnisinteresse des Autors in vielen seiner Veröffentlichungen. In seinen ebenfalls 2011 veröffentlichten Heidelberger Poetikvorlesungen, die Schlink im Sommer 2010 hielt, findet sich dazu eine aufschlussreiche Passage. Schlink erinnert sich in der ersten seiner drei Vorlesungen unter dem Titel „Über die Vergangenheit schreiben“ an seinen Englisch- und Turnlehrer, den er als einen „wunderbaren Lehrer“ bezeichnet, „dem ich die frühe Liebe zur englischen Sprache verdanke und auch eine frühe Einsicht in die relative Bedeutung der Gerechtigkeit“.[28] Später sollte sich herausstellen, dass dieser Lehrer nicht nur in der SS, sondern auch „an den Furchtbarkeiten des Dritten Reichs beteiligt war“.[29] Bemerkenswert ist nun, zu welchem Fazit er abschließend im Hinblick auf seinen früheren Lehrer gelangt: „Ich kann meinem Lehrer für das, was er mich gelehrt hat, darum nicht weniger dankbar sein“.[30] Auch das mag eine für sich genommen legitime Haltung sein, mit der jemand für sich auf ein Dilemma reagiert, indem er es bestreitet. Vor dem Hintergrund des Rigorismus, mit dem Schlink die gegenwärtige Öffentlichkeit als  „Kultur des Denunziatorischen“ geißelt, ergibt sich jedoch ein anderes Bild: da obsiegt dann der zwanghafte Wunsch nach nationaler Harmonie, die die belastende Hypothek dieser Täter für die Opfer und deren Nachfahren sowie für die nachfolgenden Generationen im „Täterkollektiv“ nicht nur trotzig ausblendet, sondern sich auch noch über das angebliche Moralisieren der anderen empört. Moral versteht sich eben doch nicht von selbst.

[1] Bernhard Schlink, „Der Vorleser“, Zürich 1997, S. 179.

[2] Hans-Joachim Hahn, „Repräsentationen des Holocaust. Zur westdeutschen Erinnerungskultur seit 1979“, Heidelberg 2005, S. 238. Der Literaturhinweis im Zitat bezieht sich auf Raphael Gross und Werner Konitzer, Geschichte und Ethik. Zum Fortwirken der nationalsozialistischen Moral, in: Mittelweg 36 (1999) H. 4, S. 44-67. In dem Aufsatz setzen die Autoren bei der Beobachtung an, dass nicht nur die Verbrechen der Nationalsozialisten, sondern auch die Erinnerung an sie beständig moralisch beurteilt werden. Sie erinnern im Hinblick auf Heinrich Himmlers berüchtigte Posener-Rede daran, dass bereits die Täter im Nationalsozialismus bemüht waren, eine moralische Haltung zu den Verbrechen einzunehmen. Siehe auch Raphael Gross, Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral, Frankfurt/Main 2010 (darin wurde auch der frühere Aufsatz erneut abgedruckt, S. 201-236).

[3] Schlink, „Der Vorleser“, S. 179.

[4] Ebd., S. 239.

[5] Etwa Sascha Feuchert u. Lars Hofmann, „Bernhard Schlink: Der Vorleser. Lektüreschlüssel für Schüler“, Stuttgart 2005, S. 21 f.

[6] Schon vor fünf Jahren hat Matthias N. Lorenz in einer erhellenden Analyse von Schlinks Erzählung „Die Beschneidung“ (2000) aufgezeigt, wie hier die Wahrnehmung, als nachgeborener Deutscher nach dem NS in Bezug auf die ‚historische Korrektheit‘ Denk- und Sprechverboten zu unterliegen, nicht etwa nur Figurenrede sei, sondern von der Konstruktion der gesamten Erzählung nahe gelegt werde. Vgl. Matthias N. Lorenz, „‚Political Correctness‘ als Phantasma. Zu Bernhard Schlinks ,Die Beschneidung‘“, in: Klaus M. Bogdal, Klaus Holz, ders. (Hrsg.), „Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz“, Stuttgart u. Weimar 2007, S. 219-242, hier S. 230. Auch der Essay von 2011 spielt mit der Behauptung einer weit verbreiteten ‚historischen Korrektheit‘, gegen die er sich richtet. Er ist eine Wiederaufnahme von Thesen, die Schlink bereits 2001 in seinem Aufsatz „Auf dem Eis. Von der Notwendigkeit und Gefahr der Beschäftigung mit dem Dritten Reich und dem Holocaust“, in: Der SPIEGEL, (2001) H. 19, S. 82-86; wieder abgedruckt unter dem Titel „Epilog: Die Gegenwart der Vergangenheit“, in: „Schlink, Vergangenheitsschuld und gegenwärtiges Recht“, Frankfurt/Main 2002, S. 145-156.

[7] Schlink war auch Betreuer von Jakob Noltes Dissertation „Demagogen und Denunzianten. Denunziation und Verrat als Methode polizeilicher Informationserhebung im preußischen Vormärz“ (Berlin 2007), die zwischen 1999 und 2004 entstand.

[8] Bernhard Schlink, Der Verrat, in: Michael Schröter, Der willkommene Verrat. Beiträge zur Denunziationsforschung, Weilerswist 2007, S. 13-31.

[9] Ebd., S. 31.

[10] Trotz der in den letzten Jahren unternommen Forschungen, kann etwa die Entwicklung einer Moralgeschichte des Nationalsozialismus noch als ein „weitgehend unbearbeitetes Forschungsfeld“ gelten; vgl. Gross, „Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral“, S. 10.

[11] „Am Ende nur noch Opfer“. Ulrich Herbert im Gespräch mit Christian Semler und Stefan Reinecke, in: Die taz, 8.12.2010, (Aufruf am 1.4.2012).

[12] „Das ‚Amt‘ ist aber kein Buch der Erklärung und kein Buch der Versöhnung. Es ist kein Buch der anteilnehmenden, sorgfältigen Ermittlung, sondern der pauschalisierenden Wertung, die fast durchweg dominiert. Es ist – ich muss es so offen aussprechen – ein Buch der Rache.“ In: Macht „Das Amt“ es sich zu einfach? Ein Gespräch zwischen dem Historiker Daniel Koerfer und Frank Schirrmacher, F.A.Z., 29.11.2010, (Aufruf am 1.4.2012).

[13] Herbert, „Am Ende nur noch Opfer“.

[14] Sein Eindruck von seinen Studierenden war: „Und um das Moralische ging es den Studenten bei ihrem Urteil über die Autoren und Texte in diesem wie in meinen anderen Seminaren zur Geschichte des Rechts und der Rechtswissenschaft mehr als um alles andere“.

[15] Schlink, „Epilog: Die Gegenwart der Vergangenheit“, S. 146 f.

[16] Ebd., S. 149.

[17] Ebd., S. 150.

[18] Eine Sammlung vieler im Internet verfügbarer Dokumente zur Debatte um „Das Amt“ bietet: Pressespiegel zur Debatte um das Auswärtige Amt und seine Vergangenheit. Ausgewählte Artikel und Interviews, zusammengestellt von Georg Koch, Matthias Speidel und Christian Mentel, Stand: 12.3.2012, (Aufruf am 1.4.2012).

[19] Patrick Bahners, Wie einmal sogar Habermas überrascht war, F.A.Z. vom 14.01.2011, (Aufruf am 5.2.2012).

[20] So auch die Verwendung des von Carl Schmitt übernommenen Begriffs des „Partisanen“, den Schlink in der Formel „Partisan der Gerechtigkeit“ zweimal verwendet.

[21] Florian Krobb (Hg.), 150 Jahre Soll und Haben. Studien zu Gustav Freytags kontroversem Roman, Würzburg 2005, S. 10.

[22] Ebd.

[23] Vgl. dazu den instruktiven Essay von Volker Weiß, „Deutschlands Neue Rechte. Angriff der Eliten – Von Spengler bis Sarrazin“, Paderborn et al. 2011.

[24] Ebd., S. 33.

[25] Wie schon „Der Vorleser“ richtet sich auch „Das Wochenende“ gegen eine Kultur, in der Nachgeborene über ihre Eltern und Großeltern richten. Im Zentrum des Romans steht die Konfrontation des aus der Haft entlassenen ehemaligen Linksterroristen Jörg mit seinem Sohn Ferdinand, der ihm vorhält, zu Wahrheit und Trauer ebenso unfähig zu sein wie die Nazis es waren. Einer der anwesenden früheren Wegbegleiter des Vaters hält dieses „Gericht sitzen“ des Sohnes über den Vater für „grausig“. Die als transgenerationell sich fortpflanzende Unerbittlichkeit beschriebene Haltung wird als das zentrale gesellschaftliche Problem diagnostiziert. Vgl. Bernhard Schlink, „Das Wochenende“. Roman, Zürich 2008, S. 159 f. und S. 162.

[26] Ralph Giordano, „Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein“, Hamburg und Zürich 1987, S. 360 f.

[27] Ebd., S. 361.

[28] Bernhard Schlink, „Gedanken über das Schreiben“, Zürich 2011, S. 20.

[29] Ebd., S. 21.

[30] Ebd.