Beziehungs-Wirrwarr in der Bohème

Franz Hessels „Heimliches Berlin“ in einer schönen Neuedition

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Franz Hessels Bücher sind Liebhaberstücke. Obwohl 1999 eine fünfbändige Werkausgabe des kleinen Igel Verlags erschien, die jedoch (wohl aus lizenzrechtlichen Gründen gegenüber Suhrkamp) streng limitiert und zudem wenig schön gestaltet war, und wiewohl seine Romane in der Bibliothek Suhrkamp einst neu aufgelegt wurden, sind all diese Editionen vergriffen. Und sie werden antiquarisch zu recht beachtlichen Preisen weit jenseits des Ramschs gehandelt. So bedauerlich es ist, dass Suhrkamp diesem Weggefährten Walter Benjamins nicht die gebührliche Aufmerksamkeit zukommen lässt, so schön ist es, dass sich nun kleinere Verlage um schön gemachte Einzelausgaben bemühen. Der vbb Verlag für Berlin-Brandenburg hält eine kommentierte Ausgabe des wohl wichtigsten Buchs des Flaneurs, Feuilletonisten und impressionistischen Romanciers vorrätig: „Spazieren in Berlin“. Und der Lilienfeld-Verlag hat nun Hessels Kurzroman „Heimliches Berlin“ in einem schön gestalteten Büchlein, versehen mit einem aufschlussreichen Nachwort von Manfred Flügge, wieder herausgebracht.

Das ‚Heimlich‘ des Romantitels meint hier weniger geheim oder verborgen; es bezeichnet vielmehr Berlin als unvergleichbare, unersetzliche Heimat für Charaktere und kuriose Begebenheiten der 1920er-Jahre Bohème. Ihre spezifisch urbane Mischung aus Studenten und Professoren, aus Varieté-Künstlerinnen und reichen Lebemännern, Kunsthändlern und Jungkommunistinnen kennzeichnete die ‚Transit-Stadt‘ Berlin, in der statt festgefügter Milieus und Traditionen dynamische Szenen die Geselligkeitsformen damals wie heute prägen.

Franz Hessel schrieb den Kurzroman zu der Zeit als er auch zwei Bände von Marcel Prousts monumentaler „Suche nach der verlorenen Zeit“ übersetzte. Während Prousts gewaltiges Erinnerungswerk aus einem zeitlich entrückten Erzählpunkt die Erlebnisse vieler Lebensjahre evoziert, halten sich Hessels 13 schmale Kapitel weitgehend an die Ereignisse eines einzelnen, kurz zurückliegenden Tages. So wahren sie geradezu klassizistisch die Einheit von Raum und Zeit, wie sie einst für Tragödienhandlungen gefordert waren. Allerdings ist Hessels aus vielen Dialogen und Binnenerzählungen komponiertes Bohème-Bild, wie Prousts Gesellschaftspanorama, doch eher eine Gesellschaftskomödie. Es geht um Irrungen und Wirrungen der Gefühle, um Geldprobleme, Familienangelegenheiten und natürlich um Paare die sich (beinahe) trennen und (beinahe) finden. Der Handlungsbogen weist im Grunde genommen auf eine umgekehrte Komödienlogik: Hier siegt der alte Gatte über den jungen Liebhaber. Hessel kannte solche Doppelbindungen aus seinem Privatleben; François Truffauts berühmter Film „Jules und Jim“ beruht auf einer Episode aus dem Leben Helen Hessels zwischen ihrem Mann Franz und dem französischen Autor Henri-Pierre Roché, der einen Roman aus der Dreiecksgeschichte machte.

In Hessels Roman „Das heimliche Berlin“ führen die imaginierten und halbherzig begonnenen Fluchten der Professorengattin Karola letztlich nicht nach Rom oder Italien, sondern zurück in die Familienwohnung, die wegen finanzieller Nöte mit einem Untermieter geteilt wird. Die lebenshungrige Frau zweifelt, ob sie ihrem kleinen Sohn eine gute Mutter sei. Zudem wünscht sie sich sehnlich, noch einmal neu anzufangen und mehr zu sein als ‚nur‘ Mutter. Sie zweifelt an der ruhigen Liebe ihres vergeistigten Mannes Clemens, der als schlecht bezahlter außerplanmäßiger Professor der Altphilologie wirkt und sich mit Nachhilfestunden durchschlägt. In moralistisch aphoristischer Zuspitzung konstatiert sie, dass Clemens sie am meisten lieben werde, wenn sie weg sei; im Alltag brauche er ja keines Menschen Gegenwart.

Doch der Verlauf des Romans belehrt sie und die Leser eines besseren. Der Untermieter, ein charmanter Engländer, bringt die komplizierten Verkettungen der Gefühle, die den kleinen Romankosmos durchziehen, in einer Plauderei schön auf den Punkt, wenn er die nicht bemerkte und schon gar nicht erwiderte Liebe Odas zum Professor kommentiert: „Er ist vermutlich der einzige hier, der nichts von ihrer Liebe weiß. Er liebt nur Karola, seine Frau, blind wie ein Gatte, verehrerisch wie ein Schüler – ach, in diesem Hause verstehen sich alle gut aufs Lieben, aber die Kunst, sich lieben zu lassen, wollen sie nicht lernen.“

Neben der Liebe sind es vor allem das fehlende Geld und der dadurch schwierige Lebensunterhalt, die beredet werden. Der Gelehrte folgt dem paradoxen Motto ‚Genieße froh, was du nicht hast‘ und begnügt sich folgerichtig weitgehend bedürfnislos mit dem Anschauen begehrenswerter Objekte in Schaufenstern. Hingegen verspürt seine Schwägerin Margot das Bedürfnis, ja die „Pflicht, uns alle reich zu machen. Unser einziges Laster ist die Armut.“

Vor allem auch der so schöne wie verarmte, adlige Student Wendelin, bedürfe unbedingt eines standesgemäßen Luxus’, findet Margot: „Meine Erfahrung ist, Mangel im Alltäglichen, schäbige Kleider, unwürdige Trambahnfahrten, minderwertige Menüs, überhaupt die billigen Qualitäten schädigen meine unsterbliche Seele. Ich will möglichst mühelos von dem heiß servierten Reichtum von heute meinen Tribut haben. Und das will ich auch für Wendelin. In welcher Weise es geschieht, ist ganz gleichgültig, wie es heute gleichgültig ist, womit man handelt. Ein Junge wie Wendelin muß sein Reitpferd haben, ein hübsches pied-à-terre, den besten Schneider. Und das alles so bequem wie möglich.“

Margot hängt an den Dingen. Sie hat einen Besitztrieb, der ihrem Schwager Clemens gänzlich abgeht. Weswegen er auch, entgegen Margots Empfehlung, keineswegs eifersüchtig auf Wendelin ist, den jungen Adeligen, den seine Ehefrau begehrt. Dieser attraktive Student tändelt zwischen verschiedenen Frauen. Er ist ein regelrechter Cupido − wie der Roman überhaupt von zahlreichen antikischen Motiven und Anspielungen durchzogen wird, was gut zum Bildungsmilieu des Altphilologen passt und die moderne Großstadt sowie ihre unkonventionellen Lebensversuche mit einem historischen oder mythologischen Echoraum ausstattet. Wendelins Abschied aus Berlin, das er wegen Geldmangels Richtung Landgütern der Familie verlassen muss, bildet den Anfang und das Ende des novellenhaft kurzen Romans, der freilich mehrere nahezu unerhörte Begebenheiten eher nüchtern und mit feinem Humor darstellt.

Mit Eißner, einem überaus reichen Lebemann, tritt die Macht des Geldes in den Roman. Doch vermag auch er es nicht, die von ihm begehrte Karola aus Berlin nach Rom zu entführen. Weiter als bis in zwielichtige Tanzetablissements im Südwesten Berlins, in denen sich lesbische Paare lieben und streiten, führt auch dieser Ausbruch nicht. Hier wird erkannt und beredet, wie die Varietékünstlerin Fancy Freo der Bürgersfrau Karola das Leben mit Kind und gelehrtem Gatten neidet. Und wie diese wiederum den Applaus der Tingeltangel-Künstlerin für erstrebenswert hält. Jede ersehnt, was sie nicht hat. Und doch zeigt dieses Buch kaum wirkliche Veränderungen. Am Ende scheinen alle an ihre Ausgangsorte zurückgekehrt. Eine humorvoll weise Zusammenfassung des Geschehens bietet Clemens, den man in manchem wohl als Stellvertreter seines Autors betrachten darf, in seinem väterlich-versöhnlichen Gespräch mit dem Nebenbuhler: „Das ist ja eine echt rührende Familienbegebenheit, und wir beide, du und ich, spielen darin einigermaßen lächerliche Rollen.“

Es ist eine gute Nachricht, dass wir über 70 Jahre nach Franz Hessels Tod − im französischen Exil in Sanary-sur-Mer nach einem Schlaganfall im Internierungslager Les Milles in der Provence − diesen eigentümlich luftigen Berlin-Roman wieder lesen können. Während sein Sohn Stéphane Hessel als sehr alter Mann mit seinem Manifest „Empört Euch“ soeben zum Idol der rebellierenden Jugend wird, die gegen die Zumutungen des Wirtschaftssystems protestiert, kann man mit dem kleinen Buch des Vaters einen moralfreien Blick zurück in das Vorkrisen-Berlin der 1920er-Jahre werfen. Jedoch ist nach der Krise oftmals vor der Krise und vor der Krise bedeutet für viele Lebensläufe natürlich auch nach der (letzten) Krise. Clemens, der so merkwürdig gleichgültige, gelassene und generöse Professor des Romans, der seinem Namen mit seiner Sanftmut alle Ehre macht, berichtet dem Jüngling, er habe das ererbte Vermögen in den Wirtschaftskrisen eingebüßt und müsse seither arbeiten; für ein zweites Kind reiche es daher nicht. Auch hier könnte man einen heutigen Nachhall in den Debatten zu Demografie und Wirtschaft finden.

Allerdings klingt Hessels sanfter Roman keineswegs wie ein heutiges Buch aus der Bohème und auch nicht wie Christopher Isherwoods grelleres Panorama derselben Epoche in „Goodbye to Berlin“, der Vorlage des Films „Cabaret“. Näher als dem Expressionismus und den Unterschichten- und Ganoven-Milieus von Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ steht Hessels Konversationsroman letztlich den Gesellschaftsromanen Theodor Fontanes; sein Schauplatz sind die Viertel des bürgerlichen Westens. Das schnell gelesene Büchlein bietet anmutige und anregende Lektüre. Hessels Berlin evoziert Vergleichsmöglichkeiten mit finanziellen und emotionalen Lagen von Bürgertum und Boheme im aktuellen Berlin.

Titelbild

Franz Hessel: Heimliches Berlin. Roman.
Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2011.
150 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783940357236

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