„… denn er erfand, durch Zeichen“

Die Historisch-Kritische Edition von Klopstocks ‚Oden‘

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Klopstocks Oden markieren einen, wenn nicht gar den entscheidenden Paradigmenwechsel der Lyrik im 18. Jahrhundert. Die ‚Erneuerung‘ der poetischen Sprache, die hauptsächlich in Klopstocks innovativen poetologischen Überlegungen zur Metrik und in der ‚Erfindung‘ von über 60 verschiedenen Strophenformen ihren Ausdruck findet, bedeutete zugleich die Freisetzung der Lyrik vom rigiden Formschematismus der Regelpoetik im Sinne Johann Christoph Gottscheds.

So führte auch Klopstocks intensive Auseinandersetzung mit den Inhalten der Querelle des Anciens et des Modernes und der damit verbundenen Frage nach der Integration antiker Versmaße ins Deutsche zu einer Neuausrichtung der metrischen Form: An die Stelle des griechischen Versfußes trat bei Klopstock der deutsche Wortfuß – nicht mehr die sklavische Einhaltung einer tradierten und nur äußerlichen Formvorgabe galt ihm als Maß der lyrischen Rede, sondern der reflektierte Umgang mit dem in der deutschen Sprache in jedem Wort bereits angelegten metrischen Sinnpotential.

Klopstock widersteht in seinen Oden jeder ‚Vergriechung‘ des Deutschen, wie er sie Johann Heinrich Voß vorwarf, und begreift die ‚Nachahmung der Alten‘ vielmehr als einen immer wieder neu zu führenden Dialog mit der Strukturlogik der antiken Dichtung. Ohne diese fundamentale Revision der Lyrik zu einer bis dahin ungekannten poetischen Freiheit und formalen Dynamik wären Goethes Ode „Prometheus“, Schillers frühe Sturm und Drang-Dichtung und insbesondere Hölderlins Lyrik in ‚freiem Versmaß‘ undenkbar.

Mit dem ersten Band der Historisch-Kritischen Ausgabe der „Werke und Briefe“ Klopstocks liegt nun die lang ersehnte textkritische Edition der Oden von Horst Gronemeyer und Klaus Hurlebusch vor, die sich der komplexen und mitunter unüberschaubaren Überlieferungsgeschichte der Gedichte stellt. Die Ausgabe schließt an die von Franz Muncker und Jaro Pawel besorgte historisch-kritische Edition von 1889 an, bietet jedoch einen aktualisierten Textbestand der Oden. So enthält der Band von Gronemeyer und Hurlebusch fünf bislang unveröffentlichte Gedichte Klopstocks sowie Textvervollständigungen der berühmten „Ode an Fanny“ sowie den „Lyrischen Sylbenmassen“, einem zentralen dichtungstheoretischen Textzusammenhang Klopstocks, an dem er die Überlegungen zu ‚Zeitausdruck‘ und ‚Tonverhalt‘ der Versrede entwickelte. Besonders durch die erstmalige Aufnahme aller Anmerkungen und Silbenzählungen am Rand dieser poetologischen Gedichte gewährt die kritische Neuedition einen präziseren Blick auf die 30 Strophenschemata und 32 Strophenbeispiele, bezeugt dabei Klopstocks tiefgehende Analyse griechischer Versmaße und schafft so die Grundlage und den Anreiz zu einer literaturwissenschaftlichen Revision der Texte.

Diese editorische Sorgsamkeit und Texttreue findet sich darüber hinaus auch in Form der Paralleldrucke, bei denen Früh- und Spätfassungen auf gegenüberliegenden Seiten geführt werden. Im Unterschied zur Ausgabe von Muncker und Pawel treten die formalen Unterschiede in der Textstruktur sowie die Änderung einzelner Verspassagen nun direkt in den Blick und müssen nicht mehr über den Varianten- und Leseapparat rekonstruiert werden. Zugleich verzichtet diese Darstellung darauf, einer späteren Fassung den Vorrang vor einer früheren einzuräumen und unterläuft so die gerade für das Werk Klopstocks unhaltbare Vorstellung, nach der die verschiedenen Drucke einer qualitativen Teleologie folgen, an deren Ende der ‚beste Text‘ steht. Gerade durch ihre ‚Gleichstellung‘ gewinnen die verschiedenen Gedichtfassungen ihren singulären Aussagewert, der nicht auf einen abstrakten Ideal-Text hin projiziert werden kann. Dazu zählt auch, dass die Herausgeber sowohl die Interpunktion als auch die Orthografie Klopstocks weitgehend unangetastet lassen. Dies ist besonders dann von Bedeutung, wenn – wie etwa bei der Ode „Mein Wissen“ – der Fassung von 1782 in Klopstocks ‚reformierter Orthographie‘ die spätere von 1798 in herkömmlicher Schreibweise gegenübergesetzt wird. Gronemeyer und Hurlebusch diente hierbei zurecht die Äußerung von Hans Magnus Enzensberger als editorische Maxime, derzufolge wir „in drei verschiedenen Orthographien […] drei verschiedene Gedichte“ lesen.

Der Verantwortung gegenüber der Individualität des einzelnen Textes, die bei Klopstock zentral an dessen formale Struktur bishin zur typografischen Umsetzung gebunden ist, stellt sich die Edition auch mit Blick auf metrische Notationen. So werden bei den von Klopstock selbst für den Druck entsprechend eingerichteten Gedichten dem Text Strophenschemata vorangestellt beziehungsweise Wortfüße über einzelnen Versen notiert. Nur so ist es möglich, auf die für Klopstock so zentrale Spannung zwischen selbst gesetzter Formvorgabe und sprachlicher ‚Auseinandersetzung‘ mit diesem abstrakten Gerüst zu reflektieren, in der die poetische Kraft seiner Dichtung gründet.

Den Wert der von Gronemeyer und Hurlebusch besorgten Edition wird man jedoch erst ermessen können, wenn der Textband durch den zugehörigen Apparat des zweiten Bandes komplettiert wird. Dieser wird nicht nur das „textkritische Verhalten der Herausgeber dieser Ausgabe zu den Grundlagen der Textwiedergabe“ ausführlich beschreiben und begründen, sondern auch ein detailliertes Verzeichnis der Überlieferungsgeschichte der Oden und deren Überlieferungsträger sowie weitere Erläuterungen enthalten. Angesichts des hohen editorischen Standards des Textbandes kann man dem Erscheinen dieses Apparats nur mit größtem Interesse und größter Vorfreude entgegensehen.

Titelbild

Friedrich Gottlieb Klopstock / Elisabeth Höpker-Herberg: Oden. Band 1: Text. Werke und Briefe.
Historisch-Kritische Ausgabe.
De Gruyter, Berlin 2010.
651 Seiten, 219,00 EUR.
ISBN-13: 9783110237504

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