Piefke sein Miljöh

Die Werkausgabe Rudolf Lorenzens wurde um Feuilleton-Texte aus den 1960er-Jahren ergänzt

Von Jörg AubergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Auberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Siegfried Kracauer beschrieb Berlin als einen Ort, an dem man schnell vergisst. Straßen wie der Kurfürstendamm waren für ihn „die Verkörperung der leer hinfließenden Zeit, in der nichts zu dauern vermag“. Die permanente Transformation des urbanen Raums unter dem Diktat der Gegenwärtigkeit tilgte die Vergangenheit aus der Erinnerung. So erscheinen die feuilletonistischen Miniaturen, die Rudolf Lorenzen in den 1960er-Jahren veröffentlichte und nun in dem schmalen, zu seinem 90. Geburtstag herausgebrachten schmalen Band „Die Hustenmary“ in Buchform erschienen, wie Depeschen aus einer verlorenen, ausgelöschten Zeit.

Lorenzens Flaschenposten stammen aus einer Vergangenheit, in der man noch einer „Zuzugsgenehmigung“ (einer Berliner Form der „Greencard“) bedurfte, um sich im westlichen Teil Berlins niederlassen zu können. 1954 heiratete Lorenzen, den es nach dem Zweiten Weltkrieg von Norddeutschland nach Bayern verschlagen hatte, die Journalistin und Schriftstellerin Annemarie Weber und zog nach Berlin, in die Frontstadt des Kalten Krieges, wo er für Tageszeitungen, Magazine und den Rundfunk arbeitete und 1959 den Kriegsroman „Alles andere als ein Held“ veröffentlichte, der heute zwar als bedeutendes Werk des Nachkriegsrealismus anerkannt ist, jedoch in den frühen 1960er-Jahren rasch in Vergessenheit geriet.

Seinen Lebensunterhalt bestritt Lorenzen als schreibender „Boulevardier“, der in seinem „Paradies zwischen den Fronten“ (wie er die Enklave Westberlin in seiner subjektiven Retrospektive bezeichnet) flaniert und beobachtet, ohne dass er philosophische oder essayistische Betrachtungen über das Berliner Milieu betreibt, in dem er sich bewegt. Es sind Momentaufnahmen aus einer verschwundenen Zeit. In den besten Texten lässt Lorenzen das untergegangene Westberlin aufblitzen, etwa die Kreuzberger Künstlerbohème der 1960er-Jahre um Günter Bruno Fuchs und Robert Wolfgang Schnell, die das ehemalige Viertel der Arbeiter und Kleinbürger kurzfristig in einen Ort der Kunst umwandelten, der sich nur in seiner insularen Existenz behaupten konnte.

„Kreuzberg in seiner Spielfreude, Schlamperei, Kauzigkeit und Kunstfertigkeit – kein Schwabing, kein Montmartre darf es je werden“, postuliert der gelernte Westberliner Lorenzen, „Kreuzberg darf nicht überschwemmt werden vom Tourismus, dessen nivellierendes Spezifikum schon immer war, die Originale zu vertreiben und Bizarres einzuebnen in eine Wüstenei, die allenfalls noch originell zu nennen ist.“ Überleben sollten die Piefkes in ihrem Milieu, in das auch ein „Volksschauspieler“ wie Rudolf Platte eintauchte, der von den Berufsberlinern wie ein offizieller Repräsentant des „kleinen Mannes“ gefeiert wurde, obgleich er längst im Villenviertel Dahlem seine Heimstatt gefunden hatte und mit einem Ford Mustang zu den Drehorten fuhr.

In raren Momenten evoziert Lorenzen die falsche Kulissenwelt des untergegangenen Westberlins, doch zumeist bleibt der „Boulevardier“ hinter dem Erkenntnisvermögen des zerbombten und zerfetzten Flaneurs zurück. Im titelgebenden Eröffnungsstück stellt sich eine gealterte Berliner Prostituierte, die das „Herz am rechten Fleck“ hat, in einem vom Dialekt gezeichneten Monolog als eigenwillige und eigensinnige Unternehmerin dar, während die hässliche Seite des Gewerbes ausgeblendet bleibt. Ohnehin bleibt für eine zeitkritische Reflexionstiefe wenig Raum, was auch den Orten der Erstveröffentlichung geschuldet gewesen sein mag: Die Westberliner Presseorgane der 1960er-Jahre waren keine zeitgemäßen Reprisen der „Frankfurter Zeitung“, sondern spiegelten die spießige Biederkeit der Westberliner Insulaner wieder. Der Boulevardier ist ein Mitläufer, ein „Mann der Menge“, der sich von den Dingen der Oberflächenwelt und den Erfordernissen des Marktes treiben lässt. In seiner apolitischen Ausrichtung kann er Erkenntnisse durch die Zeit schleusen, welche die Entrücktheit auf eigentümliche Weise überhöhen. „Es ist nur gut, daß die Post kein Privatbetrieb ist, und ihr mit Sicherheit diese Gefahr nicht droht“, heißt es in einem Text aus dem Jahre 1966. „Dann plötzlich müßte sie sich umkrempeln, müßte Service bieten und nicht Service vom Kunden verlangen.“ Dass Jahrzehnte später das privatisierte Postunternehmen seine Kunden nötigte, Briefmarken selbst auszudrucken, liegt hier noch Lichtjahre entfernt von der Vorstellungswelt des Boulevardiers.

Titelbild

Rudolf Lorenzen: Die Hustenmary. Berliner Momente.
Verbrecher Verlag, Berlin 2012.
116 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783943167184

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