Aberwitzige Ontologien und bizarre Metaphysiken

Philippe Descola legt in „Jenseits von Natur und Kultur“ eine Anthropologie der Natur vor

Von Stefan DiebitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Diebitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Jenseits von Natur und Kultur“ ist der ambitionierte Versuch, die Art, in die der Mensch sich in die Welt eingliedert, anhand bloß zweier Merkmale so zu schematisieren, dass prinzipiell jede Ontologie damit erfasst werden kann. Im Mittelpunkt eines ethnologischen Buches steht natürlich das Verhältnis des Menschen zur Natur, insbesondere zu den Tieren. Der Autor, Philippe Descola, ist Schüler des großen Ethnologen Claude Leví-Strauss und derzeit Inhaber eines Pariser Lehrstuhls für Anthropologie der Natur.

Mit Totemismus, Animismus, Analogismus und endlich mit dem von ihm höchst unglücklich so bezeichneten Naturalismus reduziert der Autor die zunächst schier unendliche Vielfalt der Weltbilder auf nur vier Grundmuster, die er nach dem Verhältnis von Interiorität und Physikalität gruppiert, so dass unterstelltes Innenleben und äußere Erscheinung die Kriterien für seinen Ordnungsversuch sind. Dabei ist es für einen Ethnologen selbstverständlich, dass er die Ontologien von Amerindianern und Aborigines als den europäischen ganz gleichgewichtig behandelt und nicht etwa auf sie herabschaut. Nur gelegentlich findet sich angesichts besonders bizarrer Vorstellungen ein angedeutetes Kopfschütteln. Von einer Stufen- und Rangfolge wird natürlich keine Rede sein, denn eine Entwicklung vom Niederen zum Höheren würde ein Ethnologe unserer Tage unter keinen Umständen behaupten.

Für den Rezensenten aber wirkt es etwas bemüht, dass Descola die bizarren und zumindest für einen Europäer unserer Zeit ganz willkürlichen, gelegentlich sogar abwitzigen Ontologien von Amerindianern und Aborigines auf eine Stufe stellt mit Analogismus und Naturalismus. Der Analogismus, in der Vergangenheit für mehrere Hochkulturen bestimmend (Descola nennt China und Indien, man könnte aber auch das europäische Mittelalter dazu zählen), besteht in der Betonung der Unterschiede, die durch ganz willkürlich gesetzte Parallelen wieder aufgehoben werden. Dabei thematisiert Descola nicht, dass in der Metaphorik der Sprache – wahrscheinlich aller Sprachen dieser Welt – der Analogismus zwangsläufig anwesend ist, und so sollte er sich deshalb außer in unserer eigenen Kultur auch in animistischen und totemistischen Gesellschaften finden. Analogismus wäre dann kein besonderes Weltbild, sondern ein Merkmal des menschlichen Denkens überhaupt.

Aber bereits der Animismus ist nicht einfach ein Glaubenssystem, das hinter uns liegt, sondern animistische Grundmuster verbergen sich in zahllosen abergläubischen Vorstellungen, von denen wohl kaum ein Mensch unserer Tage ganz frei ist.

Hat allein der australische Totemismus sich nicht in unser Denken hinübergerettet? Denn ähnlich wie Animismus und Analogismus bestimmt der Naturalismus, so Descola, bis heute unsere Vorstellungen. Er kann das schreiben, weil nach seiner Auffassung das europäische Denken noch immer von der aristotelischen Naturphilosophie geprägt ist, die in Form von strengen Hierarchien ihre Spuren hinterlassen hat: „die Gattungen sind festgelegt und die Arten unteilbar, und deshalb sind die lebenden Geschöpfe je nach dem Grad ihrer Vollkommenheit, jedes an seinem Platz, entlang einer scala naturae verteilt, die auch Unterschiede entsprechend der Seele berücksichtigt, wie jeder Organismus sie besitzt.“

Es ist etwas verwirrend, dass Descola ausgerechnet jene Ansicht der Dinge, die einen scharfen Schnitt zwischen Mensch und Natur zieht, „Naturalismus“ nennt und nicht etwa „Anti-Naturalismus“. Denn die ihm offenbar nicht bekannte Position, die eigentlich immer materialistisch argumentiert, müsste dann ja anti-naturalistisch heißen; einen rechten Sinn ergibt das nicht.

Üblicherweise wird die den gegenwärtigen Diskurs beherrschende Gegenbewegung, die mit zahlreichen, teils sehr einflussreichen Autoren den Menschen zu den Tieren zählt, auch nicht länger zwischen Pflanze und Tier unterscheiden mag und generell nur graduelle Übergänge, aber keine scharfen Schnitte sehen möchte, als Naturalismus bezeichnet. So ist etwa der renommierte Biologe Volker Sommer stolz darauf, „sich und anderes Viehzeug als geistlose Wesen zu begreifen“. Von einem Aristotelismus lässt sich angesichts derartiger Äußerungen, die man fast beliebig vermehren kann, wohl kaum sprechen, und der Gedanke an eine Rangordnung, gar mit dem Menschen an der Spitze, würde diesen Autor und viele andere auf die Barrikaden treiben. Ist es doch eben dies, wogegen sie erbittert ankämpfen. Aber alle diese Autoren werden von Descola ignoriert, und er glaubt allen Ernstes, bis ins 16. Jahrhundert zurückgehen zu müssen, um endlich in Michel de Montaigne einen Widerpart zu Aristoteles zu finden. Zu dessen Äußerungen fügt er noch hinzu, man dürfe „das Gewicht dieser Gegenstimmen nicht übertreiben“. Hier ist dem sonst so belesenen Descola doch wohl einiges entgangen.

Es ist der (aristotelische) Naturalismus, der in einer für den Ethnologen Descola anstößigen Weise zwischen Natur und Gesellschaft unterscheidet. Descolas Zweifel gelten nicht allein seiner Hauptfrage – Wo fängt die Kultur an, wo hört die Natur auf? –, sondern betreffen überhaupt die verschiedenen Möglichkeiten, die Natur mit Begriffen der Gesellschaft oder auch die Gesellschaft mit den Begriffen der Natur zu erfassen, beide in Beziehung zueinander zu setzen und endlich in ein Ordnungssystem zu bringen, das in früheren Zeiten auch in eine Rangordnung münden mochte. In jedem Fall ist es das wandelbare Verhältnis von Natur und Gesellschaft, das Descola in seinem Buch thematisiert.

Es ist die von Aristoteles ausgehende systematische Unterscheidung zwischen Mensch, Tier, Pflanze und totem Gegenstand, die Descola nicht akzeptieren mag. „Warum soll die Grenze die Sprache oder die poiesis sein und nicht die Unabhängigkeit der Fortbewegung?“ Damit wäre der Unterschied zwischen Mensch und Tier aufgehoben, und die nächste seiner Fragen bezweifelt eine Differenz zwischen Tier und Pflanze, um endlich alles in einen Topf zu werfen: „Die Unabhängigkeit der Fortbewegung und nicht das Leben? Das Leben und nicht die materielle Dauerhaftigkeit, die räumliche Nähe oder die akustischen Effekte? […] Der bis heute zurückgelegte ethnographische und historische Weg zeugt zur Genüge davon, daß das Bewußtsein bestimmter Diskontinuitäten zwischen Menschen und Nichtmenschen an sich nicht ausreicht, eine dualistische Kosmologie hervorzubringen.“

Natürlich könnte ein derart umfangreiches, einen großen Teil der Forschung zusammenfassendes Buch eine brauchbare Einführung in die Ethnologie sein, und es ließe sich auch schlicht als ein Überblick über die Literatur ansehen oder als solcher gebrauchen. Aber es bietet viel mehr, etwa Material zu einer Entwicklungsgeschichte verschiedenster Moralsysteme, das wunderbar geeignet ist, die so einleuchtend logischen Szenarien der Soziobiologie ad absurdum zu führen, in denen uns mit sehr schlichten Mitteln nahegebracht wird, wie sich in ferner Vergangenheit Mitgefühl oder überhaupt soziales Handeln durchsetzten. Wie bizarr, widersprüchlich und durch und durch willkürlich die Vorstellungen sind, die Ethnologen noch so eben beschreiben konnten, bevor Völker oder auch nur kleinste Stämme endgültig untergingen oder verelendeten, davon macht man sich keinen Begriff, und Ähnlichkeiten mit den idealisierten Spekulationen von Schreibtischgelehrten wären nicht etwa zufällig, sondern sind ganz und gar unmöglich. Nichts war oder ist so, wie man sich das vorstellt oder besser: ausrechnet. So kommt der Leser aus dem Wundern nicht heraus.

Die Übersetzerin zählt zu den renommiertesten ihres Standes, und Eva Moldenhauer braucht wohl schon deshalb kaum vorgestellt zu werden. Auch mit diesem Buch ist es ihr gelungen, ein umfangreiches Werk in ein bemerkenswert schönes und klares, oft genug sogar elegantes Deutsch zu übertragen. Und auch weil Descola selbst ein fähiger Schriftsteller ist, ist die Lektüre trotz ihrer Schwierigkeiten und gelegentlicher Längen ein Vergnügen.

Titelbild

Philippe Descola: Jenseits von Natur und Kultur.
Übersetzt aus dem Französischen von Eva Moldenhauer.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
638 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783518585689

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