Die Kunst kommt einem sehr leicht abhanden

Walter Kappacher erzählt in seinem Roman „Land der roten Steine“ eindrucksvoll von der Natur und der Suche nach einem anderen Leben

Von Julia IlgnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Ilgner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit „Land der roten Steine“ ist jetzt, zwei Jahre nach „Der Fliegenpalast“, in dessen Folge Walter Kappacher mit dem renommierten Büchnerpreis ausgezeichnet wurde, der neue Roman des österreichischen Schriftstellers erschienen. Und so wenig sein letztes Buch, eine subtile Hommage an Hugo von Hofmannsthal sowie an die Literatur an sich, bloße Biografie war, so wenig genügt das neue den Kriterien konventioneller Reiseliteratur.

Auch der hiesigen Hauptfigur, dem pensionierten Arzt Michael Wessely, verleiht der Einzelgänger und Autodidakt Kappacher, wie das Feuilleton ihn immer wieder nannte, Züge eines alter ego – ein wiederkehrendes Phänomen, das Paul Ingendaay einmal mit den Worten umschrieb: „Ein Künstler durchleuchtet erzählend den anderen und erzählt damit auch von sich selbst.“

So ist denn auch Wessely kein bloßer Jünger des Hippokrates, sondern vor allem ein empfindsamer Mensch, ein verlorener Romantiker, der am glücklichsten war, als er als junger Medizinstudent Gedichte und Prosaskizzen schrieb und sich gemeinsam mit Gesinnungsgenossen in endlosen Gesprächen über Poesie verlor. Seitdem sind 40 Jahre vergangen, Wessely hat sich verliebt, ohne die Frau, eine junge Wissenschaftlerin namens Elisabeth, und seine Tochter Hanne bei sich halten zu können; gelebt hat er allein, die meiste Zeit zurückgezogen im beschaulichen Gastein im Salzkammergut, das der Autor mit großer Vertrautheit schildert. All dies wird weniger erzählt als in Fragmenten erinnert.

Die Rückschau erfolgt nicht plötzlich, eine Reihe von Veränderungen bereiten sie vor: Das Glück vom unbeschwerten Rentiersdasein zerschlägt sich jäh. Private Verluste säumen den Weg in ein anderes, ein „neues Leben“ – das, wie bereits in „Selina“ (2005), als Sehnsuchtstopos die Erzählung leitmotivisch und strukturell grundiert. Drei Stationen hat Wessely zu bewältigen, die in Anlehnung an Dante und Seneca bedeutungsvoll mit dem „neuen“, dem „glücklichen“ und dem „kurzen Leben“ überschrieben sind, wobei der mittlere Teil mit der eigentlichen Reiseerzählung den größten Raum einnimmt.

So stirbt der Vater, wiewohl nach langer Krankheit, doch überraschend und führt Wessely die Toten der vergangenen Jahre vor Augen. Die Mutter lebt nicht mehr, ebensowenig Elisabeth. Am Ende der großen Reise, auf die Wessely, so der Erzählrahmen, am letzten Tag des Jahres erinnernd zurückschaut, steht schließlich der überraschende Tod des engsten Freundes aus Studienzeiten. Mit Hans, der inzwischen als Fotojournalist die verborgensten Erdwinkel bereiste und mit eben jenen in der Heimat Vortragssäle füllte, wollte Wessely losziehen – nun ist er ein Übriggebliebener, der sich fragt, „ob es [s]ein Schicksal sei, es mit lauter Verstorbenen zu tun zu haben“. Irgendwie schon, könnte man meinen, liegt doch über allen weiteren Begegnungen die Ahnung eines frühen Todes. Doch die trist-melancholische Grundstimmung trügt. Nicht bedauernd oder niedergeschlagen blickt da jemand in eine unheilvolle Zukunft, sondern nachdenklich, aufmerksam und bewusst.

Als ein solcherart Reisender bricht Wessely auf. Sein Ziel sind die Canyonlands im US-Bundesstaat Utah, eben jenes „Land der roten Steine“, das Colorado und Green River in ewigen Zeiten aus dem Hochplateau herausgefräst haben: Eine bizarre Steinlandschaft changierender Formationen, in der monumentale Felsgruppen und Klippengebirge mit weiten Sandwüsten wechseln. Der Weg ins Innere des Reservats ist mühsam und beschwerlich und nur mittels eines Geländejeeps zu bewältigen, dessen Manövrierung dem Fahrer das Äußerste abverlangt. Den Risiken und Gefahren, die Hitze, Wassermangel und Schlangen mit sich bringen, steht die atemberaubende Schönheit der Natur gegenüber: Sie ist die eigentlich Bedrohte. Während noch vor 100 Jahren die Flußläufe besiedelt waren und Herden in den Ebenen weideten, verhindert heute die durch den Klimawandel bedingte Dürre jegliches Leben.

Die gewählte Route führt Wessely von Moab, einer Kleinstadt am Rande des Canyons, mitten hinein in „The Maze“, das karge, unwirtliche Zentrum des Parks. Die sukzessive Annäherung an diese labyrinthische Todeszone, die Negation menschlichen Lebensraumes schlechthin, chiffriert ein Schlüsselthema des Romans: Die Suche nach Einsamkeit, aber auch das Wagnis, sich auf diese einzulassen. So verwundert es denn kaum, dass Wessely, der von sich sagen kann, „dass er an dem Ort, wo er lebte, keinen hatte, den er Freund nennen könnte“, auf einmal der einzige Teilnehmer der Tour ist. Begleitet wird er lediglich von Everett Kish, einem Navajo-Indianer, dessen letzte Führung Jahre zurück liegt. „Die Begrüßung war knapp, der Händedruck kräftig.“ In der Abgeschiedenheit und Verlassenheit des Ortes nähern sich die Männer langsam an. Beide sind Suchende: Während Wessely seines verstorbenen Freund gedenkt, mit dem er die Reise unternehmen wollte, sucht Kish die Stelle auf, wo er einen früheren Kollegen, den Rettungsflieger Chick, verlor. Der schweigsame Mann leidet an der Gegenwart, nicht ohne zu handeln: Seinen lukrativen Job als Testflieger bei einer Firma in Houston hat er aufgegeben, um sich ein traditionelles Blockhaus im abgelegendsten Winkel am Fuße der La Sal Mountains zu bauen; da er die Geschwindigkeit der zeitgenössischen Medien nicht erträgt, schaut er Filme aus den 50er- 60er- und 70er-Jahren. Verlust und Schweigen schaffen einen Raum, in dem beide für eine kurze Dauer in der Natur etwas wieder finden. Sie vollführen eine gemeinsame Entschleunigung gegen „die schreckliche Eigenschaft, alles beschleunigen zu wollen“: La vita beata comincia.

Auf der erzählerischen Ebene wird der kathartische Moment der Einkehr in epische Landschaftsschilderung übersetzt, wie sie seit der Romantik selten geworden ist. Die Einfühlung in das toskanische Hügelland des Lehrers Stefan in „Selina“ und auch der sezierende Blick des hochsensiblen Hofmannsthal auf jede noch so kleine Veränderung in dem geliebten Bad Fusch bereiten den Roman vor, in dem jedoch die Topografiebeschreibung zum Vehikel einer veränderten Daseinserfahrung wird. Die Detailgenauigkeit und das behutsame Gespür für die Eigengesetzlichkeit der Natur, mit der Kappacher seine Figur alles sie Umgebende erschauen lässt, ist vielleicht das Erbe des medizinischen Berufes: Die genaue Beobachtungsgabe des Arztes, dem auch die angeschlagene Gesundheit seines Fahrers nicht entgeht. Nicht touristisch ist der Blick, kein Apparat bannt die Steinwelt auf Zelluloid. Und doch ist das detailgenaue Registrieren des Fotografen Kappacher aus „Schönheit des Vergehens“ (2009) und dem wohl parallel zum Roman entstandenen Band „Vom Anfang und vom Ende“ (2012) allpräsent. So geraten auch die Canyonlands nicht nur zum wesentlichen Schauplatz, sondern mehr noch zum heimlichen Protagonisten der Erzählung. Witterungseinflüsse, Druck und Verschiebungen haben das Gestein unterschiedlich geformt. Ebenen wechseln mit steilen Hängen, kein Fels gleicht dem anderen, ein irritierendes Spiel von Farbe und Form fordert den Betrachter – und in ihrer Versprachlichung zugleich den Leser – heraus.

In ständigen Perspektivwechseln und in immer neuen Ansätzen versucht Wessely beschreibend zu fassen, was er vor sich sieht. Vergleiche und Metaphern, etwa die anthropomorphisierende Umschreibung eines sich in eine Kluft schmiegenden Felsstücks, „dessen Umrisse einem Kind ähnelten“, scheinen nicht hinzureichen. Die Natur gerinnt zum essentiellen Erlebnis, das sich dem sprachlichen Ausdruck entzieht: „Er dachte, in meiner Reiseerzählung hab ich den Zustand, in den dieser Anblick am ersten Reisetag mich versetzt hat, zu beschreiben versucht, aber er war für mich jenseits des sprachlich Erfassbaren gewesen. Es handelte sich um etwas Unaussprechliches; […] Es zu schauen, war wohl das höchste an Glücksgefühlen gewesen, was er je erlebt hatte, so als hätte er für einen Moment in das seit Anbeginn verlorene Paradies blicken dürfen.“

Zurück in Deutschland gerät ihm der Wunsch, dieses elysische Urgefühl wiederzufinden, zum alles beherrschende Gedanken. Doch die Musen gebären sich bisweilen launisch und keinesfalls entspringt ein neues Leben aus dem Fortführen des alten: „Das Verlorene überwog bei weitem“ – „ein Zurück war jedoch nicht möglich.“ Unter den zahlreichen intertextuellen Anspielungen, die Wessely unter die Glücks- und Wahrheitssucher der Weltliteratur reiht, kommt ein abgewandeltes Dürer-Zitat der Sache am nächsten: „Die Kunst kommt einem sehr leicht abhanden, und es bedarf zahlloser Gebete und einer gewaltig langen Zeit, um sie wieder zu erwerben.“ Eine grenzenlos erscheinende Zukunft freilich steht Wessely nicht mehr bevor, ihm, dem das menschliche Leben immer unheimlich lang vorgekommen war. „Jetzt auf einmal war er also am anderen Ende angelangt.“

Mit der Silvesternacht bricht die Handlung ab und der Erzähler lässt offen, ob es Wessely gelingt, sein Leben so zu führen, wie er es einst bei der Betrachtung der Landschaftsbilder Max Weilers erdachte: „wie wenig wirklich Wesentliches es im Leben gibt; dass es darauf ankam, dies zu erkennen und sein Leben entsprechend einzurichten.“ Ähnlich wie im „Fliegenpalast“ mag sich der Leser jedoch eines hoffnungsvollen Nachklangs nicht zu erwehren, gelingt doch dem Autor Walter Kappacher in grandioser Manier, woran Wessely zu scheitern glaubt: Die Übersetzung einer außerordentlichen Naturerfahrung in Poesie.

Titelbild

Walter Kappacher: Land der roten Steine. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2012.
159 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783446238619

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