„Die Juden sollen weg“

Alan Steinweis’ brillante Darstellung „Kristallnacht 1938“

Von Armin NolzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Armin Nolzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 10. November 1938 klopfte es gegen 3 Uhr früh an der Haustür des Bürgermeisters von Lesum, einem kleinen Ort in der Nähe Bremens. Der Amtsinhaber Fritz K., ein gelernter Stoffhändler und Führer des örtlichen SA-Sturms, öffnete schlaftrunken und erblickte den Kalfaktor des Lesumer Rathauses, der ihn darum bat, ein dringendes Telefongespräch entgegenzunehmen. Fritz K. zog sich an, eilte an seinen Dienstort und ergriff den Telefonhörer. Am anderen Ende der Leitung vernahm er die Stimme des wachhabenden Offiziers der Bremer SA-Standarte. Dieser fragte ihn, ob die antijüdischen Aktionen bereits liefen und welche „Erfolge“ sie gezeitigt hätten. Fritz K. wusste von nichts, denn bislang hatte er keinen Befehl seines direkten SA-Vorgesetzten erhalten. Sein Gesprächspartner setzte ihn ärgerlich davon in Kenntnis, dass im Deutschen Reich in dieser Nacht auf allerhöchsten Befehl hin alle jüdischen Geschäfte und Synagogen zerstört werden sollten. Fritz K. konnte dies kaum glauben. Auf mehrmaliges Nachfragen bekam er nur die Auskunft: „Die Juden sollen weg“. Kopflos eilte Fritz K. wieder nach Hause zurück und rief seiner Frau zu, ihm sei befohlen worden, die Lesumer Juden zu töten. Selbst ein mehrmaliges Nachfragen bei anderen SA-Stellen zeitigte überall dasselbe Ergebnis: „Die Juden sollen weg“. Und dies hieß für Fritz K. nichts anderes, als dass sie getötet werden mussten.

Fritz K. mobilisierte daraufhin seinen SA-Sturm und setzte dessen Angehörige von dem vorgeblichen Mordbefehl in Kenntnis. Er befahl zweien seiner Untergebenen, den ortsansässigen jüdischen Arzt Dr. G. zu erschießen, der 78 Jahre alt und im Ruhestand war. Als sich der 1885 geborene Ingenieur August F. jedoch weigerte, diese Weisung auszuführen, wurde er von Fritz K. an seinen Eid auf den „Führer“ erinnert; die anderen SA-Kumpane verspotteten ihn derweil für seine „Feigheit“. Danach setzte sich der SA-Stoßtrupp, der aus mehreren Dutzend Personen bestand, in Bewegung und marschierte vor dem Haus des Arztes auf. Man klingelte, Dr. G. öffnete, und die Häscher drangen ins Haus ein. Schließlich händigte der ranghöchste SA-Führer August F. eine Pistole aus und erneuerte die Aufforderung zum Mord. Noch einmal weigerte sich August F., der im Ersten Weltkrieg auf deutschen U-Booten Dienst getan und mit dem Eisernen Kreuz Erster Klasse ausgezeichnet worden war. Schließlich gab er klein bei, erschoss G’s 65jährige Ehefrau, die sich zwischen die Männer geworfen hatte, und dann den Arzt, der mit vier Kugeln im Rücken starb.

Diese und unzählige andere grausame Episoden schildert Alan Steinweis, Historiker und Direktor des Center for Holocaust Studies an der University of Vermont, in seinem brillanten Buch „Kristallnacht 1938“, das 2009 im amerikanischen Original erschienen ist. Für Steinweis ist die Lesumer Mordnacht durchaus typisch für den Judenpogrom, der zwischen dem 7. und 11. November 1938 im Deutschen Reich durchgeführt wurde. Zwar liefen diese Aktionen nicht immer auf vorsätzlichen Mord hinaus. Die Improvisation und die Missverständnisse, wie sie im Fall Lesum offenbar aufgetreten waren, erwiesen sich aber dennoch als verheerend. Insgesamt ermordeten die NS-Täter und ihre Helfershelfer im Deutschen Reich im Verlauf dieser vier Tage mehr als 400 Juden und verschleppten 30.000 in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen. Dort kamen noch einmal mehr als 400 vor allem männliche Juden ums Leben. Hunderte begingen in den kommenden Wochen Selbstmord. Alles in allem dürfte die Zahl der aufgrund des Novemberpogroms 1938 ermordeten oder verstorbenen Juden bei fast 1.500 gelegen haben. Insgesamt 1.406 Synagogen oder Betstuben wurden niedergebrannt oder vollständig zerstört.

Es ist einer der großen Vorzüge von Steinweis’ Darstellung, dass er die bisherigen, weit niedriger liegenden Opferzahlen verwirft und eine realistischere Schätzung vorlegt. Darüber hinaus korrigiert der Autor die ältere Forschung in vier Punkten: Erstens, so Steinweis, bildete der Novemberpogrom keine Zäsur in der antijüdischen Politik des NS-Staates, sondern markierte den (traurigen) Höhepunkt jener gezielten Gewaltausübung gegen Juden, wie sie schon seit dem Frühjahr 1933 praktiziert worden war. Zweitens war der Novemberpogrom nur bis zu einem gewissen Grad von oben, das heißt von Adolf Hitler, Joseph Goebbels sowie den Zentraldienststellen der NSDAP, organisiert. Steinweis kann demgegenüber nachweisen, dass lokale Initiativen von unten, etwa in Kassel am 7. November 1938 oder eben auch in Lesum, eine weit wichtigere Rolle für den Verlauf des Pogroms spielten als bisher angenommen. Drittens ist die Vorstellung, die Pogromtäter seien ausschließlich Angehörige von Partei, SA und SS gewesen, korrekturbedürftig. Steinweis verweist zu Recht auf die unzähligen Jugendlichen, die sich am Pogrom beteiligten, und auf Frauen, die jüdische Geschäfte plünderten. Viertens revidiert Steinweis die bisherige Ansicht, die Mehrheit der Deutschen habe den Novemberpogrom missbilligt, und verweist auf ganz unterschiedliche Reaktionsweisen, die sich nicht über den allzu dichotomisch gedachten Leisten Zustimmung oder Ablehnung schlagen lassen. Alles in allem gelingt es ihm, unsere Kenntnisse über die Vorgänge zwischen dem 7. und 11. November 1938 entscheidend zu vertiefen.

Dieser Umstand verdankt sich nicht zuletzt auch einer außergewöhnlichen Akribie bei der Quellen- und Literaturrecherche. Systematisch benutzt der Autor jene Prozessakten, die im Zuge von Strafverfahren gegen die Pogromtäter nach 1945 entstanden sind und durch das Münchener Institut für Zeitgeschichte gerade teilverfilmt werden, um sie der Forschung zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus analysiert Steinweis mehrere hundert Zeugenaussagen der nach dem Novemberpogrom geflüchteten Juden, die in der Wiener Library in London lagern. Schließlich wertet er jene unzähligen lokalhistorischen Studien aus, die zum Novemberpogrom 1938 publiziert worden sind. Sein Mut zur inhaltlichen Verdichtung und sein sachlicher, bisweilen lakonischer Sprachduktus lassen das Buch zu einem beeindruckenden Zeugnis eines Abschnitts der deutschen Geschichte werden, von dem man lange gemutmaßt hat, er sei unwiederbringlich vorbei. Dass die Vergangenheit nicht nur nicht tot, sondern nicht einmal vergangen ist, wie man mit William Faulkner sagen könnte, diese Erkenntnis beginnt sich angesichts der Morde der rechtsradikalen Jenaer Terrorzelle allmählich auch in der „Berliner Republik“ durchzusetzen. Und Steinweis’ Buch zeigt eindringlich, wohin solche Gewalt führt.

Titelbild

Alan E. Steinweis: Kristallnacht 1938. Ein deutscher Pogrom.
Übersetzt aus dem Englischen von Karin Schuler.
Reclam Verlag, Stuttgart 2011.
207 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783150107744

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