Weit mehr als ein bloßer ‚Bericht‘

„Erinnerungskultur in Südosteuropa“ herausgegeben von Reinhard Lauer

Von Stephan KrauseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Krause

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Untertitel dieses Bandes lautet tatsächlich „Bericht über die Konferenzen der Kommission für interdisziplinäre Südosteuropa-Forschung“ und ohne Zweifel an der (formalen) Korrektheit dieser Bezeichnung lässt sich jedoch hier schon sagen, dass die zahl- und umfangreichen Beiträge weit mehr als schlichte Referate darstellen. Die Einordnung in die Reihe „Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen“, deren zwölfter Band (NF) hiermit vorliegt, ist daher wohl eindeutiger. Er umfasst insgesamt 18 Beiträge, die sowohl von Beiträgerinnen und Beiträgern aus den Literaturwissenschaften (aus beinahe allen südslawischen Fächern, der Balkanologie, der Albanologie und der Hungarologie) und der Geschichtswissenschaft (mit dem Schwerpunkt auf südosteuropäischen Ländern, etwa auf Albanien, Bulgarien, Montenegro, Rumänien, Slowenien, Ungarn) sowie aus der Byzantinistik stammen.

Reinhard Lauers ‚Einleitende Bemerkungen‘ skizzieren einen zugleich interdisziplinären und regional-mehrkulturellen Spielraum als sowohl programmatische wie erläuternde Vorgabe des Sammelbandes. Seine Berufung auf die von Wolfgang Höpken vorgeschlagenen Umrisse einer auf Südosteuropa ausgerichteten Erinnerungsforschung sind hierbei äußerst hilfreich, und die ernsthafte Umsetzung des Höpken’schen Ansatzes spiegelt sich breit und eindrücklich in dem vorliegenden Band. Daran anknüpfend greifen die vertretenen Einzeluntersuchungen in ihren Ansätzen und Themen sowohl die Voraussetzungen auf, unter denen sich in dem jeweils betrachteten Land Erinnerungskultur(en) entwickelt/n und sie fragen darüber hinaus jeweils gleichermaßen nach darin identifizierbaren formalen Spezifika.

Anschaulich wird so, etwa in dem Beitrag von Rajko Bratož, der nationale Mythos der Abkunft der Slowenen vom Volk der Veneter. Der Autor spricht titelgebend und in seinem gesamten Aufsatz vom ‚Veneter-Ideologem‘, dessen apokryphe und absurd anmutende Verbindungen mit der ethnischen und kulturellen Herkunft des slowenischen Volkes er auf einer detaillierten Quellenbasis überzeugend ausbreitet. Bratož gelingt eine eingehende und erhellende Darstellung der diskursiven Nutzung der Herkunftserzählung als ideologisch aufgeladenes Narrativ und entlarvt es zugleich als fast triviale Legende, die historischer, archäologischer, linguistischer Grundlagen völlig entbehrt und doch eine große Verbreitung erreicht hat.

Einen guten Zusammenhang zu Bratož’ Studie bietet auch die instruktive Untersuchung des ungarischen Historikers Tiborc Fazekas, der sich mit der „Herkunft der Ungarn“ beschäftigt. Im Unterschied zum slowenischen Fall ist mit der Vorgeschichte zur Wanderung der Ungarn nach Europa in das Karpatenbecken ein entscheidender Teil des ungarischen masternarrative zwar erforscht, doch durchaus umstritten. Fazekas nennt hier insbesondere die Aporie zwischen wissenschaftlich fundierten Lehrmeinungen und sogenannten „fiktiv-literarischen Herkunftstheorien“ mit sehr zweifelhaftem historischem Wahrheitsgehalt. Die große Divergenz zwischen den beiden inhaltlichen und diskursiven Ausrichtungen der Narrative wird bei Fazekas sehr pointiert deutlich, sodass dabei auch die Haltung zu erkennen ist, aus der heraus der Wissenschaft in diesem Disput der „Verrat an den Interessen der Nation [vorgeworfen]“ wird.

Barbara Beyers höchst kenntnisreiche Studie zum „Krali (Krale) Marko oder Marko Kraljević (Kraleviti)“ soll als weiterer exemplarischer Vertreter dieses Bandes angeführt werden. Bereits die je nach Sprache unterschiedlichen Namen dieser historischen und mythisierten Figur, um die es bei Beyer geht, zeigen, dass diesem Phänomen der Erinnerungskultur nur mit einem interdisziplinären Ansatz beizukommen ist. Beyer praktiziert dies in ihrer instruktiven Darstellung mit einer Materialfülle und Ausführlichkeit, die den Gegenstand sehr plastisch werden lässt. Die Beigabe mehrerer Illustrationen, die das Erscheinungsbild dieses ‚junak balkanski‘ bis hinein ins 21. Jahrhundert vermitteln, rundet die Ausführungen zum Helden „Marko über allen“, dem Kämpfer, König, Nationalhelden und schließlich gar „heldischen ‚Typus‘“ äußerst kompetent ab.

Am Schluss des Buches findet sich ein Personenregister, das sich zur weiteren Orientierung als sehr nützlich erweist. Schön wäre die unmittelbare Integration der im Anhang abgedruckten Bilder in die Texte der einzelnen Artikel gewesen, hätte dies doch die Bedeutung der Bildmedien für die Argumentation zusätzlich befördert; wenigstens aber hätten die Illustrationen, wie bei den Bibliografien geschehen, wohl direkt im Anschluss an die Artikel eingefügt werden können. Zudem wären kurze biobibliografische Angaben zu den Autorinnen und Autoren des Bandes durchaus sinnvolle Ergänzungen gewesen.

Dies aber sind minimale Abstriche, die sich ohne weiteres hinnehmen lassen, da mit „Erinnerungskultur in Südosteuropa“ ein Band vorliegt, der Interdisziplinarität nicht nur verspricht, sondern an dem sich deren nachhaltige Erkenntnisgewinne unmittelbar und als große Bereicherung nachvollziehen lassen.

Titelbild

Reinhard Lauer (Hg.): Erinnerungskultur in Südosteuropa. Bericht über die Konferenzen der Kommission für Interdisziplinäre Südosteuropa-Forschung im Januar 2004, Februar 2005 und März 2006 in Göttingen.
De Gruyter, Berlin 2011.
438 Seiten, 119,95 EUR.
ISBN-13: 9783110253047

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