Die Moral, das Ich, die Politik und das Geistlose

Grundsätzliches zum Verhältnis von Literatur und Politik anlässlich von Günter Grass’ Gedicht „Was gesagt werden muss“

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

„Die Außenpolitik ist an der Politik das Geistlose“, erklärte Peter Hacks 1987 im Begleitessay zu seinem Stück „Jona“. Das heißt nun nicht, dass jeder Idiot sie betreiben könnte – das Stück zeigt gerade eine Königin, die mit ihrer „Staatsschlaubergerei“ scheitert und am Ende nur durch einen unwahrscheinlichen Zufall ihr Reich behält. Es bedeutet aber, dass Außenpolitik nach einer ganz eigenständigen Machtmechanik abläuft, in der ein Zuviel an Gedanken über einen Inhalt nur stört.

Nun gibt es in Deutschland nach den Erfahrungen aus Kaiserreich und Faschismus ein gewisses Misstrauen gegen moralabstinente Realpolitik. Man kann zwar Wilhelm II. und Adolf Hitler gewiss kein Übermaß an realistischer strategischer Planung nachsagen – schon die Menge der Kriegsgegner, die zumal der Letztere am Ende auf den Plan gerufen hatte, spricht gegen einen solchen Verdacht. Doch lautete für Jahrzehnte eine Lektion aus der Vergangenheit, dass eine Vereinseitigung des Machtaspekts in der Außenpolitik nicht erstrebenswert sei.

Realismus und Moral in der Außenpolitik

Diese Lehre schien immerhin einen gewissen Schutz gegen einen vorschnellen Einsatz deutschen Militärs zu bieten. Freilich versuchte bereits 1983 Heiner Geißler, damals Generalsekretär der CDU, im Streit um die westliche Atomrüstung die Argumentation umzudrehen: Erst der Pazifismus habe Auschwitz möglich gemacht. Er griff damals den Grünen-Abgeordneten Joschka Fischer an, der seinerseits 1999, nunmehr als Außenminister, den Interventionskrieg gegen Jugoslawien mit der Behauptung rechtfertige, es gelte ein neues Auschwitz zu verhindern.

Nun muss man nicht mit der serbischen Politik jener Jahre sympathisieren, um das Unangemessene jenes Vergleichs zu erkennen. Doch ist eine Diskussion über den Realitätsgehalt solcher Parallelen, soweit von Politikern geäußert, ohnehin sinnlos – sie zielen nicht auf historisch richtige Aussagen, sondern haben allein die Durchsetzung der je gewünschten Politik zum Zweck. Wichtig ist, dass spätestens seit jenem Krieg Vergleiche mit der Nazi-Zeit von allen politischen Lagern zu beliebigen Zwecken eingesetzt werden. Schriftsteller machen hier keine Ausnahme, und selten argumentieren sie differenzierter als die Politiker, die immerhin im Regelfall ein konkretes Interesse als Entschuldigung für ihre Plattheiten vorweisen können.

Zwar muss ein politischer Konflikt stets vor allem politisch betrachtet werden, und das heißt immer: die Interessenlage und nicht die Moralität aller Beteiligten in den Vordergrund zu stellen. Doch konnte man das jugoslawische Problem auch moralisch diskutieren, jenseits wahlweise einerseits der Behauptung, im Kosovo drohe ein neues Auschwitz und andererseits dem Hinweis, dass wie schon 1941 deutsche Flugzeuge Belgrad bombardierten. Zu fragen war hier, ob ethnische Morde drohten oder gar schon begangen wurden; ob sie eindeutig einer Seite zuzurechnen waren; ob die militärische Intervention ein geeignetes Mittel war, sie zu beenden; und ob die dabei zu erwartenden Opfer in einem vertretbaren Verhältnis zu den dadurch verhinderten Verbrechen standen. Über den unmittelbaren Anlass hinaus ist vor allem zu fragen, ob eine Welt, in der irgendwelche Koalitionen mit oder ohne UN-Mandat ständig mit humanitär begründeten Angriffe drohen, wirklich eine angenehmere Welt ist – und dies unabhängig davon, ob den jeweiligen Opfern in einem Konflikt Hilfe zu gönnen ist.

Gefahren der humanitären Weltordnung

An Jugoslawien wird hier aus zwei Gründen derart ausführlich erinnert: Weil sich an diesem Krieg die analytische – nicht propagandistische – Hilflosigkeit eines mit historischen Parallelen operierenden Zugriffs zeigte, und vor allem, weil er der erste humanitär begründete Krieg der Epoche nach 1989 war. Dadurch prägt er die Weltpolitik bis heute und auf absehbare Zeit.

Der zweite Golfkrieg, in dem die USA 1991 mit UN-Mandat der Eroberung Kuweits durch den Irak entgegentraten, war noch ein klassischer, rational begrenzter Staatenkrieg. Die militärischen Operationen wurden eingestellt, nachdem das vorgegebene Ziel erreicht war; es ging nicht um einen Regimewechsel im Irak. Der Jugoslawienkrieg wurde so eingeleitet und geführt, dass sein Ergebnis die serbische Führung delegitimieren musste. Tatsächlich wurde sie dann 2000 mit westlicher Unterstützung gestürzt.

Slobodan Milosevic starb in einer Gefängniszelle in Den Haag, Saddam Hussein wurde aufgehängt und Muammar al-Gaddafi totgeschlagen, bevor er bei einem Prozess Peinlichkeiten ausplaudern konnte. Nordkoreas Kim Jong Il jedoch starb in einem seiner Eisenbahnzüge, und zwar, soweit bekannt, an einer Krankheit. Man könnte folgern, dass der Besitz von Atomwaffen das Leben verlängert, jedenfalls das Leben ihrer Besitzer.

In weiten Teilen der Welt ist Gewalt ein übliches politisches Mittel. Wer Interesse an einer Intervention hat, findet leicht einen humanitären Vorwand; und wer beim besten Willen keinen findet, muss nur irgendeinen Clan zu einer Revolte bewegen, die zu einer gewaltsamen staatlichen Gegenreaktion führt. In Libyen wurde das durchgespielt, Syrien ist ein entsprechender Kandidat. Sicher kann in dieser Lage nur sein, wer Angreifer zwar nicht besiegen kann, ihnen aber Verluste zufügen kann, die für deren heimische Öffentlichkeit untragbar sind. Anders formuliert: Im Zeitalter der humanitären Intervention ist souverän nur der Staat, der über Massenvernichtungswaffen verfügt. Der Iran, man muss seine Regierung nicht mögen, hat ein existentielles Interesse an atomarer Bewaffnung.

Allerdings haben Vertreter seiner Regierung mehrfach ihren Willen erklärt, Israel zu vernichten. Verteidiger des Iran argumentieren, es handele sich um Falschübersetzungen, doch sind die von ihnen vorgeschlagenen Versionen keineswegs harmloser. Israel hat also ein Überlebensinteresse daran, dass der Iran nicht über Atomwaffen verfügt. Es steht damit Recht gegen Recht, Not gegen Not – wollte man dies literarisch formen, so wäre die gemeinhin für veraltet erklärte Tragödie, wie Hegel sie erklärte, die geeignete Form. Der politisch denkende Autor müsste das relative Recht der Handelnden sowie ihr notwendiges Unrecht bedenken. Die moralisierende Solidarität mit den Einzelnen hingegen, mit den möglichen oder wirklichen Opfern, bedeutet nur Willkür und keine Erkenntnis.

Was er besser nicht gesagt hätte

Günter Grass’ Gedicht „Was gesagt werden muss“ wirkt, angesichts der politischen Lage, hilflos. So sinniert das Ich über „das behauptete Recht auf den Erstschlag, / der das von einem Maulhelden unterjochte / und zum organisierten Jubel gelenkte / iranische Volk auslöschen könnte“. Nun wird zwar in Israel tatsächlich über einen Angriff diskutiert, mit dem verhindert werden soll, dass der Iran zur Atommacht wird. Ein solcher Erstschlag dürfte auch zivile Opfer fordern, da bei der Zerstörung von Nuklearanlagen die Ausbreitung von Radioaktivität in Kauf genommen wird. Dass dadurch das iranische Volk ausgelöscht würde, steht aber weit außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit.

Möglich ist, dass es sich bei dessen Präsidenten Ahmadinedschad um einen „Maulhelden“ handelt. Würde man das, was Grass über Politik zu sagen versucht, politisch sagen, so würde man von der Möglichkeit sprechen, dass Ahmadinedschad durch Hetze gegen einen äußeren Feind lediglich seine Macht im Inneren zu festigen versucht. Ernsthaft überprüft werden könnte die These erst, wenn der Iran tatsächlich in der Lage wäre, Israel zu vernichten. Es liegt auf der Hand, dass Israel an dieser Form der Verifizierung kein Interesse hat.

Irritierend ist auch der Anlass, den sich Grass für sein Gedicht ausgesucht hat. Es handelt sich um die von Deutschland unterstützte Lieferung eines mittlerweile sechsten U-Boots an Israel. In der Tat ist dieses U-Boot atomwaffentauglich. Nur ist das Schiff keine technische Voraussetzung für Israel, den Iran nuklear anzugreifen. Über diese Fähigkeit verfügt Israel seit langem, ohne sie genutzt zu haben. Vielmehr eröffnet ein nuklear bestücktes U-Boot die Möglichkeit, auch nach Zerstörung des eigenen Landes einen Gegenschlag zu führen. Auch ein atomar bewaffneter Iran könnte nicht mehr hoffen, einen erfolgreichen Vernichtungsschlag gegen Israel zu überleben.

Mit anderen Worten: Das U-Boot ist nicht die Waffe für den von Grass unterstellten und von niemandem als ihm selbst diskutierten Erstschlag, der ohnehin bereits möglich ist. Es ist die Waffe für den Zweitschlag, der das oben skizzierte strategische Dilemma aufzuheben in der Lage ist. Ein Iran mit Atomwaffen könnte im Notfall seine Souveränität verteidigen, hätte aber kein Interesse an einem Vernichtungsangriff gegen Israel, der seine eigene Vernichtung nach sich zöge. Es wäre dies ein Gleichgewicht des Schreckens, fehleranfällig und daher schlechter als ein vertrauensvolles Miteinander. Aber dieses Gleichgewicht könnte die Überlebensinteressen der Beteiligten wahren.

Die Perfidie des moralischen Ich

Grass sieht dies nicht, weil er keine politischen Interessen wahrnimmt und weil er Positionen nicht abzuwägen vermag. Man hat sein Gedicht einem Leitartikel verglichen, mit gewissem Grund: Es ist als politische Aussage gelesen worden, und nach erster Kritik hat sein Autor trotzig erklärt, er habe nichts zurückzunehmen. Autor wie Leser verstehen den Text als unverstelltes Engreifen in die politische Debatte, und in solcher Lage sollten Literaturwissenschaftler für ein Mal vergessen, was sie im Proseminar über das Verhältnis von Autor und lyrischem Ich gelernt haben. Hier redet der Autor Grass.

Als Leitartikel ist das Gedicht auch darum bezeichnet worden, weil Grass sich im Gegensatz zu früheren politischen Dichtern nicht einmal mehr der Mühe des Reimens unterzogen hat und seine Verseinteilung in äußerster Schlamperei ohne jede ästhetische Funktion daherhinkt. Doch man sollte die Leitartikel verteidigen: Hätte ein Praktikant im Politikressort eine solche Dummheit abgeliefert, er hätte seine Chance zerstört, fortan wenigstens als freier Mitarbeiter ein paar Euro zu verdienen. Im Feuilleton dagegen hat politische Dummheit eine Chance; sie hat die Chance als Gedicht, und ein Gedicht ist es, weil sich da jemand als ein Ich aufbläst, das für sich Bedeutung in Anspruch nimmt.

Das Ich gibt sich moralisch und skrupelbeladen, gleichsam vom Gewissen dazu getrieben, das Unerhörte zu wagen. In diesem Gewissenskitsch liegt das Antisemitische des Gedichts. Kritik an Israel ist zuweilen richtig, jedenfalls nicht antisemitisch. Dumme Kritik gehört zum politischen Tagesgeschäft und muss ertragen werden. So wird denn auch seit vielen Jahren Israel kritisiert, und es gibt in dieser Hinsicht – anders als das Grass-Ich beklagt – keinen „Zwang, der Strafe in Aussicht stellt“. Die haltlose Behauptung ruft die Erinnerung an die antisemitische Lüge von der jüdischen Allmacht auf, die in der Lage sei, die Wahrheit zu unterdrücken. Grass’ Suggestion ist perfide, weil sie dem Gegner jeden Weg versperrt: Schweigen die Juden, so überlassen sie ihm das Kampffeld. Protestieren sie hingegen, so bestätigen sie das Vorurteil über den Zwang, den sie angeblich ausüben.

Vom Ich zu sprechen soll eine vernünftige Diskussion über die Meinungen dieses Grass-Ichs verhindern. Wer mag schon gegen einen greisen Mann auftreten, der „mit letzter Tinte“ seine Wahrheit zu schreiben wagt! Das Nicht-länger-schweigen-können, mit dem der scheinbar mutige Kämpfer auftritt, suggeriert Wahrhaftigkeit, ohne doch in der Sache ein Argument zu sein.

Der alte Mann gibt sich so allein, als sei er von Ernest Hemingway geschrieben und kämpfte er gegen einen Hai. Doch reicht ihm das nicht – der einsame Verfechter der Wahrheit muss auch noch als Vertreter einer ganzen Nation auftrumpfen. Dabei gibt er sich skrupulös: Es handelt sich um eine Nation, „die von nie zu tilgendem Makel behaftet ist“. Bereits das vorgebliche Zögern ist idiotisch: Mag einer auch ein Deutscher sein, er kann ja begründen, was er politisch für richtig hält. Danach können dann andere Leute ihre Einwände begründen.

Aber ums Zögern geht es hier gar nicht. Im Gegenteil: Die Vergangenheit dient der Begründung, Israel angreifen zu können. In diesem Kontext wird erst klar, weshalb Grass Israel die Schuld an einem Völkermord an den Iranern zuschieben muss, den doch ganz offensichtlich niemand plant. Nur so steht das gegenwärtige Israel mit dem vergangenen Deutschland auf einer Stufe; doch da das heutige Deutschland, als dessen Vertreter Grass sich aufspielt, als geläutert erscheint, scheint es besonders befugt, dem Juden eine Lektion zu erteilen.

Was politische Literatur kann

Das moralisierende Gedicht mit seinem nur vorgeblich skrupelbehafteten Ich ist tatsächlich ein Dokument moralischer Verkommenheit. Noch Auschwitz dient Grass als Legitimation dafür, Israel das Verteidigungsrecht abzusprechen. Aus diesem Extremfall lässt sich ableiten, wie politische Literatur – soll sie Erkenntnis fördern – nicht beschaffen sein sollte.

Erstens ist die Vergangenheit die Vergangenheit, die Gegenwart ist die Gegenwart. Zeiten und politische Situationen zu vermischen ist Willkür und gehört in den Bereich der Propaganda. Zweitens gehört das Wort „Ich“ gestrichen. Man sollte nichts mehr wissen wollen von der Subjektivität eines Grass, der möglicherweise das schlechte Gewissen wegen seiner SS-Vergangenheit aggressiv nach außen wendet, um sein Leben mit einer ausgeglichenen Bilanz abzuschließen. Es sollte auch nicht interessieren, ob etwas „gealtert und mit letzter Tinte“ geschrieben wurde, denn die Qualität zählt und nicht das Greisige. Drittens hilft die Fixierung auf die Opfer, die kleinen Leute, kurz: auf das Besondere nicht weiter. Man findet sie ja auf allen Seiten des Konflikts, und so stellt jeder herzzerreißend seine Lieblingsopfer dar, und seien es – wie in Grass’ Gedicht – rein virtuelle Opfer. Die Sympathie ist so zwar gesichert, doch das Begreifen nicht. Und ums Begreifen geht es, sollen Opfer vermieden werden.

Aus dem Negativ ergibt sich, was hingegen politische Literatur kann. Sie soll erstens politische Situationen als solche gestalten. Lagen aus der Vergangenheit sind interessant, insofern sie Beispiele für Staatsklugheit oder Staatsdummheit darstellen. Zweitens hilft es, wenn der Autor eine Position über den Parteien einnimmt: jede Partei in ihrem relativen Recht und ihrer relativen Beschränktheit darstellt und den Konflikt als geschichtlichen begreift. Gemeint ist hier ein starker Begriff von Geschichte. Es geht nicht um ein vereinzeltes Ereignis irgendwo auf irgendeiner Zeitleiste, sondern um den Stellenwert des Konflikts im Gesamt der menschlichen Gattungsgeschichte. Das Besondere hat damit, drittens, Bedeutung für eine nennenswerte politische Literatur nur, insoweit es auf ein Ganzes verweist. Dafür gehören die Trümmer einer veralteten Postmoderne, die gesellschaftliche Zusammenhänge trotzig geleugnet hat, ebenso beiseite geräumt wie der aggressive Moralismus eines Günter Grass, der endlich einmal zu schweigen lernen sollte.