„Der Tod ist die andere Seite unseres Lebens“

Zum Roman „Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen“ von Aharon Appelfeld

Von Natalia Blum-BarthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Natalia Blum-Barth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit seinem neuen Roman „Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen“ mutet der israelische Schriftsteller Aharon Appelfeld seinen Lesern einiges zu. Mit der Offenbarung der Gedanken, Träume und Ängste des 16-jährigen Erwins, eines Shoah-Überlebenden, der einen Neuanfang im noch zu gründenden jüdischen Staat wagt, erinnert der 1932 in der Bukowina geborene Autor auch seine eigene Lebensgeschichte.

Der Inhalt des Romans ist schnell zusammengefasst: Erwin leidet unter Schlafzwang und wird von anderen Flüchtlingen von Ort zu Ort auf dem Weg nach Israel geschleppt. In Neapel stößt er zu einer Gruppe von Jugendlichen und nimmt teil am Hachschara, dem Ausbildungsprogramm, das auf Leben, Arbeit und Kampf im neuen Land vorbereiten soll. Zusammen mit anderen Waisen, die als einzige in ihren Familien die Hölle der Judenvernichtung überlebt haben, unterzieht er sich paramilitärischen Übungen und lernt Hebräisch. Kurz nach der Ankunft in Palästina wird Erwin gleich im ersten Kampf schwer verletzt. Dank Dr. Winter, der in acht Operationen ein medizinisches Wunder bewirkt, wird Erwin nach zwei Jahren langsam wieder auf eigenen Beinen stehen können. Verwundet werden auch einige seiner Kameraden und selbst der Ausbilder Efrajim. Während Erwin durch seine Behinderung ans Bett gefesselt ist und sein physisches Leben sich im Krankenhaus und im Sanatorium abspielt, gelangt er in Träumen an Orte seiner Herkunft und begegnet dort seinen ermordeten Eltern und Verwandten.

In diesem Roman geht es aber nicht um den Plot, sondern um den Tod, dem Erwin so oft in seinem Leben geweiht war und nur knapp entkommen ist. Es geht um die Frage, wie das Leben, der Neuanfang – wie er den Shoah-Überlebenden in seiner ganzen Radikalität durch die Namensänderung und den Sprachwechsel abverlangt wurde – angesichts all der Verluste und Toten möglich ist. Erwin, Robert, Eduard, Benno, Marek und all die anderen Jugendlichen, denen nicht nur Familie und Heimat, sondern auch Kindheit und Jugend geraubt wurden, stehen für zerstörte Karrieren, gebrochene Lebensläufe, bedrängte Existenzen und den Zwang, „andere Menschen in uns“ zu tragen.

Alfred Gong, ein ebenfalls aus der Bukowina stammender Autor, beschrieb die Toten der Shoah in seinem 1961 entstandenen Gedicht „Genealogie“ als „anonyme Schattenläufer durch mein Blut“. Für Erwin sind es allerdings keine anonymen Schatten, sondern in erster Linie „die Bilder von zu Hause“. Der Schlaf scheint das Medium zu sein, das diese Verbindung ermöglicht: „Im Schlaf war ich eng mit meinen Eltern verbunden, mit dem Haus, in dem ich aufgewachsen war, führte mein Leben und ihr Leben fort.“ Erwin wird Nacht für Nacht von seiner Vergangenheit eingeholt und glaubt ihre Botschaft zu verstehen: „All deine neuen Beschäftigungen sind nur eine Illusion, um nicht zu sagen ein Irrtum. Du gehörst deinem Vater und deiner Mutter und wirst ihnen immer gehören, es gibt keinen Ort ohne sie.“

Die toten Eltern beschwören eine kaum fassbare Verbindung zu ihrem Sohn über Zeit, Raum und selbst den Tod hinweg. Auch Erwin beteuert dieses Bündnis: „Was war, das bleibt. Ihr werdet immer mit mir zusammen sein, auch Großvater und all die hohen Bäume in seinem Hof leben in mir weiter, und jetzt noch viel mehr.“ Stellenweise gewinnt man den Eindruck, dass Erwin von den Toten verfolgt wird, dass sie ihn aufsuchen, um ihn zu sich zu holen. Dieser Eindruck verstärkt sich insbesondere während seiner vielen Operationen, die er im Traumzustand als Reisender in einem Zug zu seinen Heimatorten wahrnimmt. Der Zug steht für jenen Schwebezustand zwischen Leben und Tod, den Erwin folgenderweise zusammenfasst: „Damals kämpften die Engel der Qualen und die Engel der Heilung um meinen Körper“. Angesichts dieses Kampfes verblasst für den Protagonisten der Kampf, den seine Kameraden mit ihren palästinensischen Nachbarn führen. Vielleicht deshalb bleiben die zeitgeschichtlichen Hintergründe unscharf. Man vernimmt aber hin und wieder die Kritik des Autors am Bestreben, aus den Shoah-Überlebenden neue jüdische Menschen zu machen, die einen neuen Namen tragen, eine neue Sprache sprechen und ihre Vergangenheit vergessen.

Erwins „Damm gegen das Vergessen“ ist die Entscheidung, Schriftsteller zu werden. Trotz der Ermahnungen seiner toten Familie, von der Muttersprache nicht abzurücken, entschließt er sich, auf Hebräisch zu schreiben: „Ich fühle, dass diese Sprache, von der ich einstweilen nur die oberste Schicht berühren kann, mich mit dem verbindet, was ich mitgebracht habe.“ Dieser neuen Sprache muss sich der Protagonist wie jeder translingualer Autor anvertrauen können, seine Erlebnisse, sein ganzes kulturhistorisches Gedächtnis muss er in die neue Sprache übertragen können. Erwin tut es, indem er die Bibel liest und abschreibt sowie sich der Lektüre der hebräischen Autoren widmet. Ihm wird aber auch klar, dass Hermann Hesses „Siddharta“, Franz Kafkas „Ein Landarzt“ und das ihm unbekannte Werk seines Vaters ebenso dazu gehören. Wie kaum ein anderer Roman der interkulturellen Literatur offenbart „Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen“ den beinahe mystischen Prozess der Erlangung der Sprache.

Eine ganz besondere Bedeutung kommt dabei der Melodie zu. In der zweiten Hälfte des Romans ist die Suche nach der Melodie das zentrale Thema des Buches: „Den richtigen Ton hatte ich noch nicht gefunden, ich versuchte verschiedene Melodien, dabei war mir eines klar: Ich musste mit einer Beschreibung meines ersten Zuhauses beginnen, denn dort war die Melodie versteckt, die mir meine Eltern vererbt hatten.“ Das Ringen um Ton, Melodie und Rhythmus der neuen Sprache machen eine enorme Musikalität des Romans aus. Diese wird in kurzen, unpreziösen Sätzen artikuliert, die den Archetypus und Duktus der biblischen Sprache beschwören.

Angesichts des Sprachwechsels kommt auch den Toten, die Erwin in Träumen aufsuchen, eine ganz besondere Funktion zu. Sie werden zu „wissenden Zeugen“ (Chiellino), die über die Wahrhaftigkeit der Inhalte wachen. Mit seinen biografischen Romanen steht der Sprachwechsler Appelfeld auf eine besondere Art und Weise im Dienste der hebräischen Sprache. Nach dem Literaturwissenschaftler Carmine Chiellino ist „das Schreiben eines Romans mit autobiographischen Zügen oder einer Autobiographie der Weg, um die neue Sprache als Instanz aufbauen zu können.“ Für den Shoah-Überlebenden und den israelischen Schriftsteller Aharon Appelfeld ist das Schreiben auch eine psychologische Not: „Mutter, ich muss es tun. Was ich nicht verstehe, werden mir die Bäume erzählen, die Felsen und die Hügel, und wenn ich die Wunder nicht sehe, wird der Junge, der dort geblieben ist, sie mir zeigen.“

Appelfelds neuer Roman ist mit Rilke gesprochen „Summe des Schweigenden, das / sich zu sich selber bekennt, / brausende Einkehr in sich / dessen, das an sich verstummt, / Dauer, aus Ablauf gepreßt, / um-gegossener Stern…“.

Titelbild

Aharon Appelfeld: Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen. Roman.
Übersetzt aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2012.
285 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783871347320

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