Moderne und Verkehr

Anette Schlimms weitreichende Studie „Ordnungen des Verkehrs“

Von Stephan KrauseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Krause

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Strukturierung und System(e) des Verkehrs und von dessen sozialer Funktion anhand des Diskursverhaltens von Verkehrswissenschaftlern beziehungsweise operativ agierenden Verkehrsexperten aufzuzeigen und deren Rolle kritisch zu beleuchten, ist das Anliegen der umfangreichen diskursgeschichtlichen Studie von Anette Schlimm. Verkehr als gesellschaftliches Dispositiv und nicht allein als Frage technologisch zu diskutierender und letztlich zu lösender Probleme ist dabei das Thema. Dies stellt die Autorin detailliert und sehr anschaulich anhand deutscher und britischer Verkehrsentwicklungen dar. Das Problem verkehrlicher Beziehungen, dem sich Verkehrsfachleute widmen, wird in Schlimms wissenschaftsgeschichtlicher Untersuchung als Komplex von Fragestellungen angesehen, die zunächst ein abstraktes Ganzes darstellen, letztlich das eigentliche Objekt der Reflexion über Verkehr und die doch in konkrete soziale Zusammenhänge ‚übersetzt‘ sichtbar werden.

Dass diese auch von sozialgeschichtlichen Überlegungen maßgeblich bestimmte Auseinandersetzung mit dem Problem Verkehr letztlich eine bemerkenswerte Strategie ausbildet, mit den Herausforderungen der Moderne zurechtzukommen, ist das eigentlich spannende Thema dieses zwar historisch, aber explizit nicht chronologisch angelegten Bandes. Das Thema wird von der Autorin facettenreich dargestellt und mit viel Material erläutert. Dies geschieht etwa anhand der in den Augen von Verkehrsexperten maßgeblichen historischen Rolle, die insbesondere der Verkehr bei der Umsetzung menschlicher und sozialer Grundsätze spielt. Der ausführlichen diachronen Analyse der Problemgeschichte von Verkehr und Modernisierung fügt Schlimm außerdem eine engagierte Betrachtung aus synchroner Perspektive hinzu. Im Hintergrund steht dabei das (durchaus klassische) Begriffspaar Moderne und Mobilität in direkter Verknüpfung mit den Paradigmen Macht und Herrschaft, verstanden auch als Beherrschung des (sozialen) Raumes durch Verkehr. Zwischen Moderne und Verkehr besteht ein enger Zusammenhang, in dem aber zugleich eine gegenläufige Struktur erkennbar wird, erläutert Schlimm. Denn bildeten die Vermehrung und Effektivierung von Verkehrsbewegungen ein Kennzeichen der Moderne und sind Ausdruck von Modernisierung, so sind sie im selben Moment auch deren Gefährdung.

Die „spezifisch moderne Ausprägung von Expertendiskursen“ aber interessiert Schlimm am meisten und von diesem Blickpunkt aus gewinnt ihre Untersuchung letztlich ein Potential, das sie ausdrücklich aus einem interdisziplinär unterlegten Ansatz schöpfen kann und welches auch für angrenzende Disziplinen interessant ist. Erklärter Analysegegenstand bei Schlimm ist die diskursive Produktion von Verkehr. Dem ordnet sie den explizit im Singular definierten Begriff ‚Ordnungsdenken und social engineering‘ zu, der die Arbeit geradezu leitmotivisch bestimmt und der die historische Sichtweise auf das 20. Jahrhundert eigentlich zu differenzieren hilft. Schlimm zeigt daran nachhaltig, wie die Spannungsverhältnisse der verkehrs- und sozialgeschichtlichen Entwicklungen zusammenfallen und den fachwissenschaftlichen Diskurs prägen.

Ein umfangreiches Literaturverzeichnis und ein Sachregister runden dieses auch für Nicht-Fachleute unbedingt lesbare und lesenswerte Buch ab.

Titelbild

Anette Schlimm: Ordnungen des Verkehrs. Arbeit an der Moderne - deutsche und britische Verkehrsexpertise im 20. Jahrhundert.
Transcript Verlag, Bielefeld 2011.
362 Seiten, 35,80 EUR.
ISBN-13: 9783837618280

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