Dekonstruktionen

Zu Yahya Elsaghes Studie über Thomas Mann und das "Deutsche"

Von Julia SchöllRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Schöll

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Noch ein Buch über Thomas Mann, nicht das erste im großen Jubiläumsjahr 2000, in dem sowohl das 100. Jahr der "Buddenbrooks" als auch der 125. Geburtstag ihres Urhebers gefeiert werden. Doch keines, das sich in die lange Reihe der Sekundärwerke einordnen will - vielmehr ein Buch, das sich vehement und explizit von dem abheben möchte, was die etablierte Thomas-Mann-Forschung als ihren Kanon betrachtet.

Der Zürcher Professor Yahya Elsaghe sucht in "Die imaginäre Nation" nach den Strukturen, in denen sich nach 1866 und 1870/71 die deutsche "nationale Identitätsbildung" vollzog. Thomas Manns Werk präsentiert er als ein typisches Beispiel für die Wege, Umwege und Abgrenzungen, die bei dieser Identitätssuche entscheidend waren. An diesem Œuvre will er aufzeigen, was es während und nach der deutschen Reichsgründung bedeutete, sich als Deutscher zu fühlen. Obwohl Elsaghe in der Einleitung ankündigt, genau das untersuchen zu wollen, was unabhängig von der Autorintention auf "kollektive Zusammenhänge" verweist, liefert er doch eine fast ausschließlich auf Thomas Mann zugeschnittene Untersuchung, die auf den allgemein-soziologischen Zusammenhang nur am Rande eingeht.

Elshaghe bezeichnet seine eigene Betrachtungsweise der Mannschen Epik als 'dekonstruierend', im Sinne seiner Behauptung, dass sich in diesen Texten kollektive Vorstellungen auch gegen den Willen des Autors durchsetzten - eine These, die sich vor allem auf das Spätwerk Thomas Manns bezieht. Thomas Mann, so Elshaghe, habe sich - gegen seinen erklärten Willen - auch im Alter nicht frei machen können von seinen reaktionären und antisemitischen Denkweisen der frühen Jahre. Die Bekenntnisse Manns zur Republik in den zwanziger Jahren kommen als politischer Einschnitt bei Elsaghe nicht vor. Was das Werk bis zum Exil betrifft, so interpretiert Elsaghe den 'Autorwillen' als durchaus offen konform mit reaktionären und antisemitischen Bewegungen seiner Zeit.

Was Elsaghe an diesem Opus Magnus tatsächlich zeigt, ist die regelmäßige Wiederkehr verschiedener Motivkomplexe, zum Beispiel des Gegensatzes von Nord und Süd bzw. Ost und West, wie er schon im "Tod in Venedig" klar zutage tritt. Norden und Westen erscheinen als Orte einer rationalen, väterlichen Welt; dem entgegen stehen Süden und Osten als schwüle, unheil- und krankheitsschwangere Räume, in denen sich nicht nur Gustav Aschenbach, sondern auch Adrian Leverkühn eine todbringende Infektionskrankheit zuzieht. Ansteckungsgefahr und widrige Hygienezustände werden bei Thomas Mann also geographisch dem zugeordnet, was außerhalb der Reichsgrenzen liegt. Doch oft genügt schon ein Umzug von Nord nach Süd innerhalb der Reichsgrenzen, um die ohnehin labilen Helden ins Verderben zu stürzen; die geographische ,Abwärtsbewegung' ist in jedem Fall negativ besetzt. Tony Buddenbrooks zweite Ehe etwa scheitert ebenso kläglich in München wie der "Bajazzo", der nach einer Reise in den Süden nach Sizilien und Afrika irgendwo in der Mitte Deutschlands hängenbleibt und dort endgültig zugrunde geht - ganz im Gegensatz zu ihrem Autor übrigens, der sich im Süden zu einem bewunderten Autor und Nobelpreisträger entwickelt.

Immer wieder rückt Elsaghe den Körper (im Foucaultschen Sinne) ins Blickfeld, sei es in Form der ihn zerstörenden Krankheit oder durch seine hervorstechenden äußeren Merkmale. Vor allem den antisemitischen Stereotypen, die Elsaghe zumindest für das Werk der früheren Jahre überzeugend nachweist, widmet er sich Elsaghe ausführlich. Dabei geht es nicht nur um rein äußerliche Überzeichnungen, wie sie etwa der "faustdicke Antisemitismus" in den Figurenzeichnungen des "Gladius Dei" aufweist. Der Körper, und speziell der jüdische, wird bei Mann immer auch im Kontext mit einer problematischen oder gar abstoßenden Geschlechtlichkeit gezeigt. Überzeugend weist Elsaghe diesen Zusammenhang vor allem in dem ausgesprochenen gelungenen Kapitel über die "Buddenbrooks" anhand Hermann Hageströms nach, der sich in geradezu ekelerregender Körperlichkeit Tony Buddenbrook nähert und versucht, sich die Freiheit sexueller Annäherung zu erkaufen. Nicht zuletzt führt Elsaghe die Motivation zu solch antisemitisch-sexuellen Exzessen auf Manns Scham über seine eigene "Rasseunreinheit" von Seiten der Mutter zurück - ohne jedoch zu erwähnen, dass es später gerade diese Gemischtheit des Blutes sein wird, die den exilierten Autor am eigenen Enkel entzückt, wie Thomas Manns Tagebuch beweist.

Elsaghe ist bemüht zu zeigen, wie wenig sich Thomas Manns Werk im Lauf der Jahre hinsichtlich der von ihm aufgeworfenen Fragestellung wandelt, "solche Konstanz und Einförmigkeit des Gesamtwerkes nachzuweisen" gehörte gar "zu den hauptsächlichen Zielen der Untersuchung". Diese Einheitlichkeit will also bewiesen sein, was dazu führt, dass Elsaghes Argumentation dort 'konstruiert' wirkt, wo sich Thomas Manns Arbeit (wie etwa im Spätwerk) nicht mehr so leicht in ein vorgefertigtes Schema pressen lässt. Die These, auch "Die Betrogene" sei noch von einer "kulturkonservativen Überfremdungsangst" geprägt, kann für den exilierten und zum Weltbürger gereiften Thomas Mann der späten Jahre nicht überzeugen.

Wäre Elsaghe dem Werk Thomas Manns wirklich gefolgt, hätte er die Entwicklung des deutschen Nationalgefühls wohl nicht mit der Reichsgründung, sondern schon mit den Napoleonischen Kriegen der Goethezeit beginnen lassen, deren Bedeutung für das 'Deutschgefühl' die "Lotte in Weimar" deutlich zeigt hat. Da Elsaghe nur diejenigen Werke untersucht, die in der Zeit während oder nach der deutschen Reichsgründung spielen - was eine Menge ist, aber eben nicht das Gesamtwerk - bleiben zwei der wichtigsten Exilwerke außen vor. Neben "Lotte in Weimar" fehlt dieser Untersuchung auch "Joseph und seine Brüder". Elsaghes recht willkürlich gezogener zeitlicher Rahmen schließt somit gerade die beiden Werke aus, die nicht nur schlecht in sein Konzept passen, sondern dieses sogar ad absurdum führen würden. In "Lotte in Weimar" wehrt sich die erwachende deutsche 'Volksseele' eben nicht gegen eine Gefahr aus dem Osten, sondern gegen Napoleon, den 'Erzfeind' aus dem Westen. Und antisemitische Stereotypen im "Joseph" zu finden, dürfte ein Ding der Unmöglichkeit sein, zumal diese Hommage an das Judentum in ihrer Entstehungszeit (1926 - 1942) durchaus als antifaschistisches Statement gewertet wurde.

Was die Lektüre von Elsaghes Buch etwas mühsam macht, ist nicht nur eine verwirrende Gliederung und der Hang, sich in Details zu verlieren, sondern auch sein Selbstverständnis, nach dem wissenschaftliche Texte offenbar kein allzu großes stilistisches Lesevergnügen bereiten dürfen. Auffallend und ärgerlich ist jedoch, wie Elsaghe mit vor allem älteren Arbeiten von Kollegen umgeht: Adorno ist "altklug", Jost Hermands Behauptungen sind "irrwitzig" und Arbeiten anderer gar voller "Stumpfsinn" oder "Banalitäten". Bestimmt lebt wissenschaftlicher Fortschritt von der Kritik, doch selbstbewusste Sachlichkeit wäre hier sicherlich ausreichend.

Elsaghe ist ein genauer Leser und gründlicher Forscher, aus dessen Arbeit viele Stunden im Archiv sprechen. Seine Untersuchung ist eine spannende und wertvolle Ergänzung der Arbeit, die andere begonnen haben. Es ist jedoch kein Buch, das versucht, wie etwa Hermann Kurzkes neue Biographie, den Autor Thomas Mann zu verstehen, zu erklären und dem Leser näher zu bringen. Was Elsaghe unternimmt, ist vielmehr die Dekonstruktion einer Ikone aus größtmöglicher Distanz.

Titelbild

Yahya Elsaghe: Die imaginäre Nation. Thomas Mann und das ,Deutsche'.
Wilhelm Fink Verlag, München 2000.
440 Seiten, 41,00 EUR.
ISBN-10: 3770534557

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch