Ein Streifzug durch die Heilige Stadt

Der Kanadier Guy Delisle bereist die Welt und macht daraus Comics. Zuletzt zeichnete er in Jerusalem Alltagsszenen und Weltpolitik auf

Von Waldemar KeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Waldemar Kesler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die besten Reisebücher sind die, bei denen der Reisende nicht bloß Fakten zusammenträgt und beschreibt, was er sieht. Wirklich interessant wird es erst, wenn der Leser ein Gefühl dafür bekommt, was das fremde Land mit dem Reisenden macht: wie sich seine Wahrnehmungen und Einstellungen ändern, wie sich seine Erwartungen an der Wirklichkeit abarbeiten.

Der Franco-Kanadier Guy Delisle tut in seinen Comic-Reportagen gar nicht erst so, als würde er versuchen, sich unbedingt auf die fremde Kultur einlassen zu wollen. In seinen ersten beiden Bänden beschrieb er, wie ihn seine Arbeit für die Trickfilmindustrie nach China (Shenzen) und Nordkorea (Pjönjang) verschlagen hatte. In China entdeckte er, wie viel Freude es bereiten kann, sich nicht mit den Einheimischen verstehen zu können. In Nordkorea kämpfte er gegen seine schlechte Laune an, in einer Militärdiktatur festzusitzen, in der die Menschen sich zu verstellen scheinen und Unterhaltung jedweder Art Mangelware ist. So kann es auf Reisen auch gehen: Der allgegenwärtigen Langeweile kommt er zur Not mit selbstgebastelten Papierflugzeugen bei.

Wie zuvor schon in Myanmar („Aufzeichnungen aus Birma“) ist Delisle in seinem neuen Band „Aufzeichnungen aus Jerusalem“ nur als Anhang unterwegs. Während seine Frau Nadège für Ärzte ohne Grenzen arbeitet, kümmert er sich um die Kinder und spaziert durch die Gegend. Bisher hatten seine Reisereportagen den Reiz, eine Innenansicht aus einem autoritär regierten und tendenziell abgeschotteten Land zu geben. In Jerusalem ging es natürlich um den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern. Die Delisles lebten im Jerusalemer Stadtteil Beit Hanina, also in der Osthälfte, die Israel 1967 beim Sechstagekrieg eroberte. Die räumliche Nähe zu den Palästinensern entspricht der Sympathie, die er für sie in ihrer Lage aufbringt. Es ist recht offensichtlich, dass Delisle gegen die israelische Siedlungspolitik ist, ohne dass er es offen aussprechen müsste. Sein Eindruck von der politischen Lage ist durch die Palästinenser geprägt, denen er begegnet. Eines Abends ist etwa seine Haushaltshilfe aufgelöst: Weil die israelische Regierung die Eigentumspapiere ihrer Familie nicht anerkennt, soll das Haus, in dem sie lebt, abgerissen werden.

Bei allen politischen Ausführungen und kleinen Geschichtslektionen vernachlässigt Delisle nie das, was er am besten kann: bizarre Alltagsszenen aufzuspüren. Es passt sehr zu seinem cartoonesken Stil, wenn er im Vorbeigehen einen jüdisch-orthodoxen Smiley oder einen Laden entdeckt, der Spiderman-Kippas verkauft. Er beobachtet, wie eine arabische Familie Kreuze an Christen verleiht, die die Passion Jesu nachahmen wollen. Am eigenen Leib erfährt er, welche sinnlosen Auswüchse Religionstourismus annehmen kann: In der Grabeskirche lässt er sich mit Nadège im Gruppenabfertigungsmodus durch einen dunklen, schmalen Gang schleusen, ohne genau zu wissen, was er eigentlich gerade sieht.

Die Heilige Stadt erlebt Guy Delisle vor allem als geteilt. Eine gewaltige Mauer trennt die israelischen und die palästinensischen Gebiete. Die Mauer drängte sich ihm ganz von selbst als Leitmotiv auf. Zwischen Orten, die ganz nah nebeneinander liegen, gelangen die Menschen nur noch über große Umwege, weil sie nur bestimmte Grenzübergänge passieren dürfen. Die Mauer wartet nur darauf, auf den Bildern aufzutauchen. Manchmal bleibt sie im Hintergrund, und plötzlich drängt sich ihre Präsenz wieder penetrant auf. Sie visualisiert die zerfahrene Situation so gut, dass Delisle sie immer und immer wieder zeichnet, ohne es eigentlich vorgehabt zu haben.

Beim wichtigsten europäischen Comic-Festival im französischen Angoulême erhielt Guy Delisle den Fauve d’Or, den Preis für das beste Album des vergangenen Jahres. Dieser Preis würdigt wohl nicht nur an „Aufzeichnungen aus Jerusalem“, sondern das Format, das Delisle mit seiner eigenen Form der Reisereportage kreiert hat. Wir haben bei seinen Streifzügen durch fremde Länder und Kulturen den Eindruck mitzureisen, weil er sich selbst dabei nie vergisst.

Titelbild

Guy Delisle: Aufzeichnungen aus Jerusalem.
Reprodukt Verlag, Berlin 2012.
336 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783943143041

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch