Verlorene Träume, verdrängte Sehnsüchte

Sherwood Andersons tieftrauriger Episodenroman „Winesburg, Ohio“ (1919) wurde neu übersetzt

Von Jana BehrendsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jana Behrends

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Pfarrer, in dem „etwas Griechisches“ erwacht und der fortan seine Nachbarin beobachtet. Eine Frau, die ihre Mädchenträume aufgeben musste und seitdem immer stärker einer verbitterten Greisin gleicht. Ein pensionierter Arzt, der auf Papierschnipseln Gedanken notiert, um sie anschließend wegzuwerfen: Das ist das Personal in Sherwood Andersons „Winesburg, Ohio“, einer „Reihe von Erzählungen aus dem Kleinstadtleben Ohios“, die 1919 erstmals veröffentlicht wurde und nun in der ersten Neuübersetzung seit 50 Jahren von Eike Schönfeld erschienen ist. Ruhelosigkeit, eine unbestimmte Sehnsucht und das Fehlen jeglicher Illusionen bestimmt den Alltag der Menschen in dem amerikanischen ländlichen Städtchen.

Alle Fäden gehen beim jungen George Willard zusammen, einem jungen, melancholischen und etwas selbstgefälligen Redakteur des „Winesburg Eagle“. Bei ihm fassen die Figuren häufig einen kurzen Moment den Mut, sich zu öffnen. Dann sacken sie wieder in sich zusammen und gehen ihrer Wege. George Willard reift, sicher auch durch sein desillusioniertes Umfeld, langsam zu einem jungen Mann heran: In einer der letzten Geschichten spürt er schon die „Traurigkeit der Erfahrenheit“, die die Erwachsenen von den Jungen unterscheidet.

Eine vordergründige, ländliche Idylle, in der die Welt noch nicht auf dem Kopf steht, wird sprachlich so wunderschön beschrieben, dass „die Schönheit des Landes“ nicht nur die Figur Ray berührt. Besonders exemplarisch sind „die verwachsenen kleinen Äpfel in Winesburgs Obstgärten“: „Spaziert man im Herbst in die Obstgärten, ist der Boden hart vom Frost. Die Äpfel sind von den Pflückern schon von den Bäumen gezupft. Sie wurden in Fässer gelegt und in die Städte verschickt, wo sie in Wohnungen gegessen werden, die voller Bücher, Zeitschriften, Möbel und Menschen sind. An den Bäumen hängen nur noch einige wenige schrumplige Äpfel, die die Plücker verschmäht haben. […] Man läuft über den gefrorenen Boden von Baum zu Baum, pflückt die schrumpligen, verwachsenen Äpfel und füllt sich damit die Taschen. Nur wenige kennen die Süße der verwachsenen Äpfel.“

Denn die „Hast unserer Zeit“ macht sich auch im ländlichen Ohio vor hundert Jahren immer breiter: „Vieles von der brutalen Unwissenheit, die auch eine bewundernswerte, kindliche Form von Unschuld in sich barg, ist auf immer verschwunden.“ Die Figur Louise Bentley etwa war „von Kindheit an neurotisch, eine jener überreizten Frauen, die der Industrialismus in späteren Tagen in solch großer Tag auf die Welt bringen sollte.“

Klar ist: Auch in Winesburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts stand die Welt an der Schwelle zur Moderne. Deutlich macht das besonders Louises mit sich hadernder Vater Jesse, ein Landwirt: Einerseits ist er ein gläubiger Mann mit Hang zum Purismus, andererseits erwacht in ihm die Gier, und er will „schneller Geld machen, als es durch die Bestellung des Landes möglich war.“

Auch gelegentliche Anflüge von Humor – „Alte Stühle, Holzböcke, Trittleitern und leere Kisten warteten im Dunkeln auf Schienbeine, um sie aufzuscheuern“, heißt es über eine Rumpelkammer – können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Protagonisten voller innerer Zerrissenheit sind und in ihrer Einsamkeit aufgrund der Unfähigkeit, sich anderen mitzuteilen, allmählich versumpfen: „[Sie] zwang sich, tapfer der Tatsache ins Auge zu sehen, dass gewiss viele alleine leben und sterben, auch in Winesburg“, heißt es über Alice, nachdem sie aufgrund einer „leidenschaftlichen Ruhelosigkeit“ vergeblich versucht hat, Kontakt zu Fremden aufzunehmen.

Was bleibt den Figuren? Daniel Kehlmann hat, wie er in seinem Nachwort schreibt, über 100 von ihnen gezählt, 33 tauchen in mehreren Geschichten auf, und er stellt fest, dass die Episoden in ihrem Zusammenhang betrachtet rätselhafter erscheinen als für sich betrachtet, da der Leser auf der ständigen Suche nach Auflösung ist. „,Winesburg, Ohio‘ gehört wie Prousts ,Suche nach der verlorenen Zeit‘ oder Nabokovs ,Die Gabe‘ in die Reihe jener Bücher, die sich gewissermaßen selbst erzeugen, indem sie eine Figur bis an den Punkt führen, da sie durch eine plötzliche Explosion der Erkenntnis imstande sind, ebenjenes Werk zu verfassen, das wir gerade lesen“, schreibt er. Zu dieser (Selbst-) Erkenntnis dürfte George Willard gelangt sein. Er ist möglicher fiktiver Verfasser der Episoden – und der einzige, der die Möglichkeit zum Ausbruch nutzt.

Titelbild

Sherwood Anderson: Winesburg, Ohio. Eine Reihe von Erzählungen aus dem Kleinstadtleben Ohios.
Nachwort von Daniel Kehlmann.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Eike Schönfeld.
Manesse Verlag, Zürich 2012.
300 Seiten, 21,95 EUR.
ISBN-13: 9783717522683

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