Rekonstruktion des ausgesparten Zentrums

Dirk Braunstein über Theodor W. Adornos Kritik der politischen Ökonomie

Von Robert ZwargRSS-Newsfeed neuer Artikel von Robert Zwarg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Angesichts der Unmengen an Forschungsliteratur zur Kritischen Theorie sind Zweifel daran, ob es eines weiteren Buches in den düsteren Gängen von Universitätsbibliotheken bedarf, durchaus angebracht. Dirk Braunsteins Studie „Adornos Kritik der politischen Ökonomie“ zerstreut diese Zweifel und beweist gleichzeitig, dass ein Zugang, der sich dem Geist der Kritischen Theorie verpflichtet fühlt, ohne deswegen Adorno zum Säulenheiligen zu machen, möglich ist. Das größte Verdienst der Arbeit liegt allerdings in ihrem Gegenstand selbst, zeichnet sich die akademische Aneignung Adornos doch vor allem dadurch aus, dass die Verbindung zur marxistischen Tradition, mithin die Kritik des Tausch- und Identitätsprinzips bis auf wenige Ausnahmen eskamotiert wird. Der Titel des Buches ist dabei unbedingt ernst zu nehmen. Nicht Adornos Verhältnis zur Karl Marx, kein simpler Abgleich der Quellen mit ihrer Interpretation, steht im Vordergrund. Vielmehr gelingt es Braunstein, Adorno als eigenständigen Kritiker der politischen Ökonomie lesbar zu machen, der sich natürlich an Marx orientiert, diesem mal folgt, mal ihn verfehlt und an anderen Stellen bewusst einen anderen Weg geht.

„Das Zeigen ist der vorherrschende Gestus der Arbeit“, so Braunstein bescheiden in der Einleitung der Studie. Obgleich es sich bei „Adornos Kritik der politischen Ökonomie“ um eine Dissertation handelt, geht ihr der trockene, zögerliche, zuweilen betont distanzierte Gestus vieler akademischer Qualifikationsschriften ab. Einfallsreiche und treffende Überschriften strukturieren den Text, die Sprache ist klar und verfällt bis auf wenige Ausnahmen nicht einer Imitation von Adornos Stil. Braunstein nimmt Adorno ernst und widerspricht, wo er es für notwendig befindet.

Von Jürgen Habermas ist der Satz überliefert, mit politischer Ökonomie habe Adorno sich „nie befasst“. Das Anliegen Braunsteins ist es, zu zeigen, dass das Gegenteil der Fall ist. Ausgespart wurde jenes ökonomiekritische Zentrum nicht von Adorno, der sich zeitweise intensiv mit politische Ökonomie beschäftigte, sondern vielmehr von einem zurichtenden akademischen Diskurs. Zwar vertraten dies auch schon andere Autoren, derart umfassend und präzise existierte bis jetzt allerdings noch keine Auseinandersetzung mit der Rolle der Ökonomiekritik in Adornos Werken. Darüber hinaus bezieht Braunstein umfangreiche, bisher unveröffentlichte Archivmaterialien und Vorlesungsprotokolle ein, bis hin zum Verweis auf Unterstreichungen und Marginalien in Adornos Handexemplaren. Der Verweis auf zahlreiche Seminar- und Vorlesungsmitschriften wirft dabei auch ein Licht auf Adorno als Lehrer.

Das weitgehend chronologisch aufgebaute Buch erlaubt nicht nur die ungebrochene Lektüre entlang der von Braunstein identifizierten Phasen in Adornos Auseinandersetzung mit der Kritik der politischen Ökonomie, sondern auch das Wieder-Lesen einzelner Kapitel im Bezug auf bestimmte Werke. Gerade weil Braunstein nicht nur vom zwischen Buchdeckeln verewigten Endprodukt von Adornos Schaffen ausgeht, sondern zwischen ausgedehnten Briefwechseln, überarbeiteten Manuskripten, Notizen und dem schlussendlich veröffentlichten Text changiert, hat der Leser das Gefühl, einem lebendigen, dynamischen Reflexionsprozess beizuwohnen. Dass Braunstein dabei stellenweise wiederholen muss, was andere inzwischen kanonisierte Studien bereits dargelegt haben, tut der Sache dabei keinen Abbruch. Die Länge des Buches beruht dabei keineswegs auf Redundanz, sondern unter anderem auf der methodischen Prämisse, Texte tatsächlich in langen Zitaten sprechen zu lassen. Im Vergleich zu der verbreiteten Tendenz, Gedanken zu zerpflücken, nimmt sich dieser Ansatz geradezu entspannend aus. Außerdem – diese Randbemerkung sei erlaubt – enthält Dirk Braunsteins Band „Adornos Kritik der politischen Ökonomie“ einen der schönsten Druckfehler (der vielleicht keiner war), den man in einem Buch finden kann.

Die Rekonstruktion nicht nur eines Themas, sondern vielmehr eines leitenden und strukturierenden Prinzips innerhalb des Werkes eines Denkers, verführt schnell zur Homogenisierung. Kaum etwas stört die Praxis des historisch arbeitenden Philosophen derart wie scheinbar Unsystematisches, Brüche oder Wendungen im Denken und ungleiche Entwicklungen.

Dies mag besonders für ein Projekt wie Dirk Braunsteins Relektüre von Adornos Kritik der politischen Ökonomie gelten. Während sich die Auseinandersetzung Adornos mit der Marx’schen Theorie vor allem durch historisch gesättigte Quellenarbeit belegen lässt – was Braunstein zweifelsohne gelingt –, ist für die Rekonstruktion von Adornos eigener Kritik der politischen Ökonomie ein hohes Maß an Interpretation und Synthese vonnöten. Der Nachweis einer solchen ist, um die akademische lingua franca zu benutzen, eine „starke These“, vor allem weil es sich bei Adornos Zentralbegriff, dem des Tausches, nicht lediglich um eine ökonomische, sondern auch um eine erkenntnistheoretische Kategorie handelt.

Doch Braunstein entgeht der Gefahr einer Zurichtung und einer ungerechtfertigten Homogenisierung des Adornoschen Werkes vor allem durch eine detaillierte Darstellung des Weges, auf dem Adorno mit Marx in Berührung gekommen ist und sich ihm genähert hat. Dies geschah, wie für so viele Intellektuelle seiner Zeit, zu allererst vermittelt über Georg Lukács. Nachweisen lässt sich auch eine Intensivierung der Auseinandersetzung mit der Kritik der politischen Ökonomie nach 1945, was den Schwerpunkt des Buches auf dieser Phase rechtfertigt. Vor allem im Hinblick auf die gängige Praxis der akademischen Behandlung der Kritischen Theorie, dem Ausspielen der frühen gegen die vermeintlich pessimistische und normativ unzureichend begründete späten Schriften, lohnt sich die Lektüre von Braunsteins Rekonstruktion des sogenannten Spätwerks Adornos.

Es ist diese Periode, in der sich Adornos Ökonomiekritik als Metaökonomie, die bei Marx ansetzt und gleichzeitig über ihn hinausgeht, herauskristallisiert. Metaökonomisch verfährt Adorno insofern, als er nicht nur Marxens Kategorien selbst noch einmal theoretisiert, sondern weil der Begriff des Tausches bei Adorno gleichzeitig Zentrum der politischen Ökonomie und historisch wie erkenntnistheoretisch weit über den traditionellen Bereich der „Wirtschaft“ hinausgeht. Insofern Adornos Denken von einem kritischen Begriff der Totalität bestimmt ist, der viel mehr bedeutet, als dass alles mit allem zusammenhängt, werden auch die Kategorien der politischen Ökonomie nochmals rekonfiguriert. Erlaubte beispielsweise Marxens Rede von der produktiven Arbeit eine ganze Strömung des Marxismus, sich mit der (wenngleich ihn verfehlenden) Berufung auf Marx an die „Befreiung der Arbeit“ zu machen, schreibt Adorno: „Aus diesen Stellen geht wirklich hervor, daß die gesamten Kategorien der bürgerlichen Gesellschaft, für die hier die Produktivität im Sinn des Tauschprinzips einsteht, also mit anderen Worten, das gesamte System, das er entwickelt, nicht etwa ein System des Absoluten ist oder Wahrheit sein soll. Er will vielmehr zeigen, daß in der Tat das Ganze [...] das Unwahre ist.“

Ökonomie meint für Adorno insofern „mehr als bloß Kapitalismus“, so Braunstein. Seine Kritische Theorie zielt auf „den Umgang der Subjekte mit sich und mit anderen Subjekten resp. Objekten; zielt – und das ist das von ihrem Material unablösbare kritische Moment der Philosophie Adornos – auf die Möglichkeit des menschlichen Zusammenseins angesichts der Unmöglichkeit unmittelbarer Einigkeit.“

Der Tausch als Totalität konstituierende Praxis ist und bleibt – so unterstreicht Braunstein – das Zentrum von Adornos Philosophie, das zu ignorieren oder zu auszutreiben, Adornos Werk verfehlt. Es ist eine merkwürdige Pointe, dass gerade der Tauschbegriff und mit ihm Adorno selbst, auch von jenen verworfen wurde, die sich selbst explizit in der Tradition der Kritik der politischen Ökonomie verorten, wie Braunstein mit Verweis auf zahlreiche Beiträge aus der Grauzone zwischen Akademie und politischer Linken nachweist. Es ist in diesem Zusammenhang zu betonen, dass Adorno gerade im Hinblick auf einen Zentralbegriff des traditionellen Marxismus, den der Klasse, welcher zugleich die zuallererst verabschiedete Kategorie einer bürgerlichen Theorie ist, einen bis heute wertvollen Beitrag geleistet hat. An diesem ist insofern festzuhalten, also er eine objektive Spaltung der Gesellschaft benennt, diejenige zwischen Käufern und Verkäufern von Arbeitskraft. Wo eine Verbindung, womöglich sogar eine notwendige, zwischen diesem objektiven Verhältnis und dem subjektiven Bewusstsein hergestellt wird, das schließlich gar Befreiung garantieren oder ermöglichen soll, ist dies zu kritisieren. Darin steckt – neben vielem anderen – die Wahrheit von Jürgen Habermas’ Satz von der „verschwiegenen Orthodoxie“ Adornos, wenngleich in spiegelbildlicher Verkehrung der Habermas’schen Intentionen. Die Darstellung dieses, im besten Sinne, orthodoxen Adornos ist ein kaum zu überschätzender Beitrag von Dirk Braunsteins Arbeit.

Titelbild

Dirk Braunstein: Adornos Kritik der politischen Ökonomie.
Transcript Verlag, Bielefeld 2011.
439 Seiten, 36,80 EUR.
ISBN-13: 9783837617825

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