Lehrer „müssen die Dinge klären“

In Nina Bußmanns Debütroman „Große Ferien“ gehen einem Lehrer die Antworten auf sein eigenes Leben aus

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Etwas ist vorgefallen. Aber was? Nina Bußmanns Debütroman „Große Ferien“ – für einen Auszug aus dem Buch erhielt die Autorin 2011 beim Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb den 3sat-Preis – beantwortet diese Frage bis zum Ende nicht. Es gibt lediglich Andeutungen darüber, was zwischen dem Physik-, Mathe- und Erdkundelehrer Schramm und Artur Waidschmidt, dem begabten Außenseiter unter dessen Schülern, passiert sein könnte. Von einer „Geschichte“, die so nicht gewesen sei, obwohl sie an der Schule fleißig kursiere, ist da die Rede. Später heißt es: „Im Kartenzimmer ist es passiert, dabeigewesen ist niemand, die Globen können es bezeugen.“ Und eine Seite, bevor er endet, deutet der Roman das Austeilen einer Ohrfeige an, doch die erhobene Hand ist eine „im Zaudern gefrorene“. Etwas ist vorgefallen. Was das gewesen ist, bleibt konsequent im Dunklen. Das Geschehene freilich hat Folgen für Schramm, den vornamenlosen Protagonisten eines Buchs, das man verschlingt, obwohl es einen auf kein Ziel zuführt, sondern in ein seelisches Labyrinth hineinzieht.

Denn der Lehrer, der seit 30 Jahren keinen einzigen Tag an seinem Arbeitsplatz gefehlt hat und sich ob seiner beruflichen Geradlinigkeit nie einen Vorwurf machen musste, obwohl es durchaus Schüler gab, „die ihn einen Menschenschinder nannten, einen Tyrann und Faschisten“, ist seit dem ominösen Vorfall nicht mehr in der Schule gewesen. Und was ihm ein Arzt bei einem früheren Schwächeanfall, der ihn mitten im Unterricht ereilte, riet, nämlich sich selbst besser kennen zu lernen, das tut er nun sozusagen coram publico.

Einen knappen Tag lang wird der Leser zum Zeugen eines ständig die Richtung ändernden Denkprozesses. Während Schramm in der Einfahrt seines von den ungeliebten Eltern ererbten Hauses das Unkraut beseitigt und damit die Ordnung nach Außen hin aufrechtzuerhalten sucht, wird er der Gedanken, die ihm bei dieser monotonen Tätigkeit, bei der ihm nur der Hund des Nachbarn zusieht, durch den Kopf gehen, weniger Herr. Sie lassen sich weder an der Wurzel packen wie Unkraut noch sonstwie vermeiden. Er muss sie aushalten im Verlaufe der unterschiedlichsten Reminiszenzen an Kindheit und Erwachsenwerden, große Pläne und herbe Enttäuschungen, den Schulalltag und das gänzlich anders angelegte Leben des jüngeren Bruders Viktor, der die Siegermentalität schon mit seinem Namen zu bekunden scheint. Dabei wird er sich des Scheiterns seines eigenen Daseinsentwurfs nur allzu bewusst. Und plötzlich ist der Vorwurf Artur Waidschmidts gar keine „kleine, alberne Frage“ mehr, die den Lehrer provoziert und an den Rand einer Tätlichkeit geführt hat, sondern wird zum existenziellen Problem eines Menschen in der Krise: „Wie halten Sie das eigentlich aus, fragte Waidschmidt. Ich an Ihrer Stelle hätte längst den Verstand verloren, Verstand verloren oder umgebracht oder beides, sagte er, beides nacheinander.“

Lehrer scheinen die neuen Helden der deutschen Literatur zu sein. Nach Judith Schalanskys Inge Lohmark aus ihrem „Bildungsroman“ „Der Hals der Giraffe“ (2011), nach dem ebenfalls vornamenlosen, gänzlich desillusionierten Lehrer Schiefer in Kay Weiands Buch „Schiefer eröffnet Spanisch“ (2008), nach Texten von Jan Böttcher („Das Lied vom Tun und Lassen“, 2011), Klaus Böldl („Der nächtliche Lehrer“, 2010), Markus Orths („Lehrerzimmer“, 2003) und Juli Zeh („Spieltrieb“, 2004), um nur die wichtigsten zu nennen, scheint klar zu sein, dass sich die Schule wie kein anderer Ort dazu eignet, Probleme, die die ganze Gesellschaft betreffen, exemplarisch aufzuarbeiten. Denn in der Schule stoßen mit Lehrern hier und Schülern da nicht nur unterschiedliche Generationen aufeinander, die Schule stellt an die, die sich in ihr treffen, auch die Frage des „Wohin“ und erwartet darauf eine gemeinsame Antwort. Weichen Lehrer dem aus, ziehen sie sich zurück hinter ihre angestammte Autorität und verstehen ihre Aufgabe lediglich darin, Wissen zu vermitteln und Gehorsam einzufordern, kommt es zum Konflikt.

Der Schüler Artur Waidschmidt, seinen Klassenkameraden hoch überlegen, verzweifelt nicht zuletzt daran, dass ihm ein Lehrer, dem er sein Vertrauen entgegengebracht hat, durch die widerstandslose Hinnahme eines Lebens enttäuscht, das sich in Alltäglichkeiten erschöpft. Sein provokantes Auftreten ist eigentlich ein Appell an den Älteren, auszubrechen, mehr zu wagen, zu verwirklichen, was einst in seinen Träumen blühte. Als Waidschmidt merkt, dass er zu viele Hoffnungen in seinen Lehrer gesetzt hat, verlässt er die eigene Außenseiterposition und passt sich scheinbar seinen Mitschülern an. Man darf das auch als Absage an eine Zukunft verstehen, wie sie ihm in der Person Schramms vor Augen steht und alles andere ist als erstrebenswert.

„Große Ferien“ ist letzten Endes aber mehr als nur eine Lehrer-Schüler-Geschichte. Sich geschickt über einen personalen Erzähler in die Gedankenwelt ihres Helden einklinkend, entwirft Nina Bußmann mit ein paar Anleihen – vor allem bei Thomas Bernhard – das Psychogramm eines Gescheiterten. In wunderbaren Kontrast gebracht hat die in Berlin lebende Autorin dabei die Genauigkeit ihrer Beobachtung noch der kleinsten Dinge. Man lese nur die den Roman einleitenden Seiten, in denen der knieende und jätende Schramm dem Leser erstmalig vor Augen tritt! Dazu gehört aber auch das Diffuse jenes Vorfalls, um den das Denken des knapp fünfzigjährigen Lehrers beständig kreist. Der taugt tatsächlich nicht als einer, an dem das Leben eines gerade in den Kämpfen des Erwachsenwerdens Stehenden ausrichtbar wäre. Aus den Provokationen Waidschmidts aber erwächst der Impuls für Schramm, sein Dasein generell auf den Prüfstand zu stellen. Das Ergebnis fällt mager aus und macht wenig Mut, sich nach den großen Ferien wieder den Herausforderungen einer Institution zu stellen, die heute mehr denn je die Fragenden auch hinter dem Pult braucht. Antworten gibt es nämlich schon mehr als genug.

Titelbild

Nina Bußmann: Große Ferien. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
200 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783518422786

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