„… ich bin ein Verschweiger“

Im seinem letzten Journalband „Urkundenfälschung“ behandelt Paul Nizon den Zeitraum des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem Band „Urkundenfälschung“, dem fünften Journalband, den Paul Nizon seit 1995 erscheinen lässt, findet der seit 1977 in Paris lebende Schriftsteller Anschluss an die unmittelbare Gegenwart. Das Buch – erneut herausgegeben von Wend Kässens – enthält ausgewählte Notate aus Nizons achtem Lebensjahrzehnt, der Zeitspanne zwischen 2000 und 2010. Wie seine vier Vorgänger seit „Die Innenseite des Mantels“ (Suhrkamp 1995) stellt es eine Mischung aus Werkkommentar und Lebensbericht, Alltagsprotokoll und Ideenreservoir dar. Herausgefiltert aus mehreren tausend Notizseiten, die, wie es in der Nachbemerkung Nizons zu „Die Innenseite des Mantels“ nachzulesen war, „wie Freßzettel, vor Arbeitsbeginn oder in der Nacht“ entstanden sind – „das Hinschreiben dauerte in der Regel gerade so lange, wie das Tippen erforderte“ –, dokumentiert der Band eine Existenz, die ganz auf das Schreiben hin angelegt ist und aus dem Bewusstsein ihrer Sonderstellung in der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur heraus zu ihrer ganz eigenen Ausdrucksart gefunden hat. Letztere mag manchem heute manieriert – ja antiquiert – vorkommen, zu Nizon gehört sie gleichwohl dazu.

„Mein Schreibleben und Lebschreiben ist letztlich ein Sprachringen und ich ein Sprachmensch ganz und gar“, heißt es gleich in der ersten Notiz vom 4. Januar 2000. Und indem das Buch unter dem Datum des 18. Oktober 2010 mit Bemerkungen zum Briefwechel zwischen Siegfried Unseld und Thomas Bernhard schließt, orchestriert es abschließend noch einmal eine Grundüberzeugung des Autors bezüglich der eigenen Position im Literaturbetrieb. Denn in der Besessenheit des Schreiben-Müssens durchaus Bernhard verwandt, sind doch sofort die Unterschiede zwischen Nizon und ihm evident, wenn der Blick auf die öffentliche Aufmerksamkeit, sprich: den Erfolg, der beiden Werken zuteil wurde, fällt. Bei Bernhard war es die – nicht selten durch das Mittel des Skandals provozierte –, Beachtung, die zuweilen weit über den Bereich des Nur-Literarischen hinausging, wenn man zum Beispiel an die Scharmützel denkt, die sich dieser Autor mit der geliebt-gehassten Heimat Österreich und deren offiziellen Repräsentanten lieferte. Bei Nizon hingegen ist es die Existenz eines literarischen „Höhlenmensch(en) ohne nennenswerten Verkauf, dem erstaunlicherweise schon früh der Titel eines bedeutenden bis großen Autors verliehen wurde“. Dass diese Situation durchaus auch larmoyant – und im Übrigen häufiger als nötig – beklagt wird, unterscheidet diesen fünften Journalband ein wenig von seinen Vorgängern.

„Urkundenfälschung“ dokumentiert ein Jahrzehnt, in dem mit „Das Fell der Forelle“ (2005) nur ein neues Prosawerk Nizons erschien. An einem weiteren Roman-Projekt, das im Dezember 2007 den Arbeitstitel „Der Nagel im Kopf“ erhält, arbeitet der Dichter. Man darf es sich nach den zahlreichen Bemerkungen im Journal wohl als eine Art poetisches Vermächtnis vorstellen. Mit ihm wird der Bogen über ein halbes Jahrhundert zurückgeschlagen zu jenem Rom-Aufenhalt als Mitglied des Schweizer Instituts im Jahre 1960, bei dem Paul Nizon endgültig beschloss, Schriftsteller zu werden, und in dessen Folge 1963 der Roman erschien, mit dem der junge Autor schlagartig Berühmtheit erlangte: „Canto“ (1963). Ansonsten sichtet Nizon in den Jahren zwischen 2000 und 2010 sein Notizenkonvolut und gibt drei Bände dieses Parallelunternehmens zu seinem poetischen Werk heraus. Mit Genugtuung registriert er die wachsende Aufmerksamkeit, die seinem Werk entgegengebracht wird und sich in einer stattlichen Reihe renommierter Preise sowie zahlreichen öffentlichen Ehrungen aus Anlass seines 80sten Geburtstages im Jahre 2009 niederschlägt.

Privat sorgt das Scheitern von Nizons dritter Ehe und deren Scheidung im Jahr 2003 gewiss für mehr Verunsicherung, als die wenigen Sätze, die das vorliegende Journal ihnen widmet, preiszugeben gewillt sind. Nicht zuletzt das Gefühl zunehmender Einsamkeit, wie es zum Beispiel im Gespräch mit Dieter Bachmann zum Ausdruck kam – „Die Einsamkeit des Alters macht mir schon ein bisschen zu schaffen… Es ist, wie gesagt, das fehlende Gefühl der Zugehörigkeit. Hier werde ich, wenn Leute gehen oder ich von Besuchen zurückkomme, in die Situation des definitiven Alleinseins gestoßen.“ –, dürfte mit dafür verantwortlich sein, dass allzu viele Gedanken um die eigene Bedeutung und die Abgrenzung einer als singulär – an einer Stelle heißt es: „dinosaurisch“ – verstandenen Künstlerexistenz von anderen Lebensentwürfen kreisen. Letzteres führt auch zu etlichen apodiktischen Urteilen, die sicher nicht jeder Leser zu teilen vermag.

Viele Passagen im fünften Journalband betreffen die Themen Familie und Herkunft sowie Nizons Unfähigkeit zu dauernden Partnerschaften, als deren Ursache er seine Schreibmanie, die im jeweiligen Partner Eifersucht erzeugt habe, identifiziert. Die Eintragungen, welche die Eltern des Autors und seine Schwester Tamara betreffen, wirken dabei, im Unterschied zu enthusiastisch aufgearbeiteten Leseerlebnissen, Museums- und Kinobesuchen oder Begegnungen mit Freunden, sezierend, ja gelegentlich kalt. Registriert wird das Auseinanderfallen von Sein und Schein in der Familie, jene für das spätere Leben konditionierende „Lügenhaftigkeit bezüglich unseres sozialen Status, der ja in Wirklichkeit nur angeberische Fassade war, die wiederum eine flickschusterhafte Realität verbarg“. Nicht zuletzt aus Scham über diese „Nichtverankerung im Herkommen“ und das „Überlebensgewurstel“ der Eltern erklärt sich für den rückblickenden Nizon dann auch das seine Kunst lebenslang tragende Projekt, sich die eigene Wirklichkeit zu erschreiben, schreibend zu sich selbst zu kommen.

Wenig bis gar nicht öffnet sich das Journal des Schriftstellers den Tagesereignissen des Jahrzehnts. Zwischen der Eintragung vom 29. Juli 2001 und jener vom 4. Dezember desselben Jahres wartet man vergeblich auf einen Kommentar zu den Terroranschlägen vom 11. September. Allein die im letzten Quartal des Jahres 2005 Frankreich erschütternden gewalttätigen Unruhen, die von den so genannten Banlieues im Großraum von Paris ausgingen, erfahren eine längere Kommentierung. Dabei kann der Autor freilich nicht verhehlen, dass er selbst den „eurozentrischen Kulturhochmut“ teilt, den er mitverantwortlich macht für die Ereignisse.

Am besten ist das Journal – und das hat es zweifellos gemeinsam mit seinen vier Vorgängern – immer dort, wo es Nizon gelingt, einmal ganz von sich selbst abzusehen und Stimmungen, Atmosphären sprachlich einzufangen. Beschrieben werden Gänge durch Rom, Jahrzehnte nachdem ihn die Ewige Stadt zum Dichter promoviert hat, Straßenszenen aus Paris, Fahrten mit Bus und Bahn oder Fußgänge durch die Seinemetropole, um dabei die Aufmerksamkeit auf das scheinbar Nebensächlichste zu richten. Es sind unbekannte Menschen und ihr Faszinosum für einen, der ihnen für ein paar Minuten gegenübersitzt oder -steht, ehe er – durchaus bedauernd – für immer aus ihrem Leben scheidet. Filmimpressionen und scharfsinnige Betrachtungen zum Werk von bildenden wie schreibenden Künstlern. Oder die zahlreichen Traumnotate, in denen gelegentlich die Sprachtarnung, hinter der er sich so gerne verbirgt, fast zur Gänze abfällt und man den „unverfälschten“ Paul Nizon erahnen kann.

Titelbild

Paul Nizon: Urkundenfälschung. Journal 2000-2010.
Hrsg. von Wend Kässens.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
375 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783518422601

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