Kuriositätenkabinett Mittelalter

Jörg Pilawa und der Versuch, das vermeintlich dunkle Zeitalter in bunten Farben auszumalen

Von Stefan MatterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Matter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Mittelalter boomt, die Beschäftigung mit der Zeit der Ritter und Burgen hat Hochkonjunktur. Allerdings gilt das weniger für die akademischen Mittelalterwissenschaften, die im Zuge der Universitätsreformen und Sparrunden der letzten Jahre drastische Mittelkürzungen haben hinnehmen müssen, als für die breitenwirksame Aufbereitung des Zeitalters in grossen Publikumsausstellungen, Mittelaltermärkten, Computerspielen und Filmen. Dieses Interesse spiegelt sich nicht zuletzt auf dem Büchermarkt, der seit Jahren regelrecht überschwemmt wird mit historischen Romanen, die häufig den Blick auf Gaukler, Kurtisanen oder andere gesellschaftliche Randgruppen richten, deren Lebensumstände in den historischen Quellen besonders schlecht belegt sind und die Spannung durch sex and crime versprechen.

Augenscheinlich dasselbe Publikum soll mit dem hier anzuzeigenden Buch angesprochen werden, in welchem der laut Klappentext „beliebteste[…] Moderator des deutschen Fernsehens“ seine Sicht auf das Mittelalter auszuführen verspricht. „In 14 unterhaltsamen, reich bebilderten Kapiteln erzählt Jörg Pilawa von Tischsitten und vom Eheleben, von Kaisern und Bauern, von Lotterpfaffen und Metallkriegern, von Zahnwürmern und Hahnenwürgern sowie von Ländern, wo der Pfeffer wächst“. Dass dies nicht ganz der Wahrheit entspricht, erfährt man nur auf Umwegen. Entstanden sei die „vergnügliche Zeitreise durch die Jahrhunderte“ nämlich in Zusammenarbeit mit der Medienagentur Geschichte in Hamburg – die wiederum wirbt auf ihrer Homepage für den Band, indem sie angibt, sie habe „für dieses Buch die Recherche, die Konzeption und das Verfassen der Texte“ übernommen. Was im Bereich der Wissenschaft unlauter wäre, gehört in der Welt der Unterhaltungsmedien möglicherweise zum guten Ton. Wie dem auch sei, die persönliche Sicht Jörg Pilawas auf das Mittelalter darf man von dem Buch also nicht erwarten. Trotzdem ist es nicht uninteressant. Indem das Buch Teil der aktuellen Mittelalter-Renaissance ist, erlaubt es allerdings mehr Rückschlüsse auf die Interessen unserer Zeit, als dass es über mittelalterliche Verhältnisse informiert.

Die vierzehn Kapitel des Bandes sind unter sich nicht zusammenhängend, jedes für sich jedoch klug ausgewählt und die dargebotenen Informationen sachlich weitgehend korrekt. Wir werden belehrt über „Essen und Trinken im Mittelalter“, „Von der Medizin und ihren Folgen“, „Ritter zwischen Kampftraining und Frauendienst“ und vieles andere mehr. In den Text sind alle paar Seiten Multiple-Choice-Fragen eingestreut, die im Anschluss aufgegriffen und gelöst werden. Sie erinnern an die ebenfalls von der Medienagentur entwickelten Quizshows mit Jörg Pilawa. Die Quiz-Fragen, die zunächst eine willkommene Auflockerung der Lektüre darstellen, wirken mit der Zeit jedoch etwas ermüdend, da durch die Abschweifungen in den teilweise recht ausführlichen Erläuterungen zu den falschen Antworten der Lesefluss deutlich gestört wird. Jedes Kapitel schliesst mit zwei Literaturhinweisen, die das Weiterlesen erlauben.

Was uns da vom Mittelalter erzählt wird, soll erstaunen und Spass machen. Zumindest das Erstaunen stellt sich auch beim Fachmann ein, wird doch das Mittelalter als eine Zeit präsentiert, aus der vor allem absonderliche Kuriositäten zu berichten sind. Ein paar Beispiele aus dem ersten Kapitel illustrieren dies und sind auch repräsentativ für das ganze Buch. Es geht in diesem ersten Kapitel darum, was im Mittelalter auf den Tisch kam und in welcher Form und nach welchen Regeln es gegessen beziehungsweise getrunken wurde. „Wein wurde in rauen Mengen gebechert“, erfahren wir da, und die Schweden hätten „nach Schätzungen mancher Historiker“ über vierzig Mal mehr Bier getrunken als heute. Dass Bier damals einen wesentlich niedrigeren Alkoholgehalt hatte, wird nicht erwähnt, stattdessen wird gleich noch eine weitere Untersuchung von Historikern erwähnt, die nahelege, „dass erhebliche Teile der Bevölkerung im Mittelalter praktisch ständig unter Drogen standen.“ Vor allem die Landbevölkerung sei praktisch „gezwungen [gewesen], sich vor lauter Not und Elend ununterbrochen zu betrinken“. Das ist natürlich ebenso reißerisch wie unbelegbar, zudem wären solche Pseudostatistiken vermutlich deutlich aussagekräftiger, wenn sie mit Erhebungen aus anderen Epochen verglichen werden würden. Wie auch immer, der Alkoholkonsum kann jedenfalls kaum als etwas typisch Mittelalterliches gelten und diese Art des Umgangs mit ihm ist schwerlich dazu geeignet, dem Leser das Mittelalter zu erklären.

Sehr typisch für das Mittelalter allerdings sind die ernährungstheoretischen Überlegungen, die gelegentlich angesprochen werden, beispielsweise: „Man glaubte doch tatsächlich, dass die groben Bauern auch grobe Kost zu sich nehmen sollten, weil dies eben ihrer ,Natur‘ am besten entspreche. „Schon die Formulierung macht deutlich, als was diese Sichtweise betrachtet wird, nämlich als grober Unfug. Dass wir heute über andere ernährungswissenschaftliche Erkenntnisse verfügen, erklärt diese Einschätzung aber nur zu einem kleinen Teil – das Trennende liegt nämlich nicht einfach im unterschiedlichen Faktenwissen, sondern in den jeweils ganz anders ausgestalteten Weltbildern, in welche das Faktenwissen eingeordnet werden kann, welches dadurch erst sinnvoll wird. In dem von Gott wohlgeordneten Kosmos hat alles seinen vorbestimmten Platz und seine Funktion, das gilt gleichermaßen für Mensch, Tier und Pflanzen. Sich über die Ordnung der Schöpfung hinwegzusetzen, zeugte nicht nur von der Todsünde der Superbia, es wäre auch im höchsten Grade unnatürlich. Ebendies spiegelt sich in der obigen Aussage. Von einer solchen Sicht der Dinge sind wir heute weit entfernt, unsere Wissenssysteme sind ganz anders strukturiert, unsere Einschätzungen folgen daher anderen Maßstäben. Man würde hier etwas ganz Wesenstypisches des Mittelalters gewissermaßen mit Händen greifen und mit der Gegenwart kontrastieren können, was dem Leser zugleich Einblicke in mittelalterliche Lebenswelten wie auch einen kritischen Blick auf die Gegenwart ermöglichen würde – diese Gelegenheit lassen die Autoren allerdings hier wie an vielen anderen Stellen des Buches verstreichen.

Vielmehr scheinen sie vor allem an jenen Extremen interessiert zu sein, die in dem von Pilawa signierten Vorwort zum Kennzeichen des Mittelalters erklärt werden. Pilawa spricht dort von der „Derbheit der Sprache und den Sitten“, die in Diskrepanz stünden zu der Pracht an den Höfen. Ganz abgesehen davon, dass es Unterschiede in den Umgangsformen bestimmt in allen Kulturen zu allen Zeiten gegeben hat und auch heute gibt, haben wir gerade von ersterem buchstäblich überhaupt nichts überliefert. Auch dies ist nämlich ein wunder Punkt des Sachbuches: An keiner Stelle wird thematisiert, wie unser Wissen über das Mittelalter zustande kommt. Ein paar wenige Ausführungen zur Beschaffenheit der Quellen würden sofort sehr grundlegende Einsichten über das Mittelalter und dessen Rezeption vermitteln können. Wer schrieb aus welchen Gründen und für welche Auftraggeber welche Texte? Überhaupt sprechen schriftliche Quellen ja nicht einfach aus sich selbst. Wenn es etwa im Zusammenhang der Schwertleite heißt: „Für viele Chronisten des Mittelalters war die Zeremonie selbst […] längst nicht so interessant wie die anschließend verteilten Geschenke und Ritterspiele“, dann ist auch zu bedenken, dass die zeremoniellen Abläufe häufig schlicht als bekannt vorausgesetzt werden konnten, also gar nicht verschriftlicht werden mussten. Das ist keine Banalität, sondern ein ganz grundlegendes Problem historischer Schriftquellen, das für unser Mittelalterbild häufig nicht recht überschaubare Konsequenzen hat. Die zahlreichen Zitate aus mittelalterlichen Quellen werden hingegen kaum je kontextualisiert und wenn doch, dann teilweise grob falsch eingeordnet. Die von Caesarius von Heisterbach um 1220 erzählte Anekdote eines Abtes, der von der Kanzel herab den Namen König Arturs fallen lässt, um seine schläfrige Predigtgemeinde aufzuwecken, wird von den Autoren als Textausschnitt aus der Benediktsregel ausgegeben und damit in das 6. Jahrhundert datiert – das ist nicht nur einfach falsch, sondern zu Benedikts Zeit gab es noch längst keine Erzählungen um den sagenhaften König und vorbildlichen Ritter. Dergleichen Fehlgriffe gibt es zahlreiche, sie fallen umso mehr ins Gewicht, als dass sie dem Zielpublikum des Buches wohl kaum auffallen dürften.

Bei aller Freude über den Wunsch, das Mittelalter breiteren Bevölkerungsschichten interessant und bekannt machen zu wollen, bleibt also ein fahler Nachgeschmack. Lernen kann man aus dem Buch allerhand, nur eignet es sich keinesfalls, um eine irgendwie systematische Einführung in die Welt des Mittelalters zu erhalten. Der Informationsgehalt der zusammengetragenen Bruchstücke ist eher mit den Sensationsmeldungen des Boulevard vergleichbar. Wenn man danach sucht, ist man mit dem Buch gut bedient. Aber ebenso wenig wie dieser unsere Zeit zu erklären in der Lage ist, kann Pilawas Buch Erklärungen für das Mittelalter liefern. Wer eine gut lesbare Einführung in die Welt des Mittelalters sucht, greift also auch weiterhin zu den einschlägigen Werken beispielsweise von Horst Fuhrmann oder zuletzt von Johannes Fried. Wer allerdings unterhaltsame und gelegentlich pikante Geschichten aus dem Mittelalter lesen will, der halte sich gleich an die Meister der mittelalterlichen Erzählkunst wie etwa Boccaccio oder Chaucer.

Titelbild

Jörg Pilawa: Pilawas Mittelalter. Eine vergnügliche Zeitreise durch die Jahrhunderte.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008.
252 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783462040470

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