Eine Reise nach Nirgendwo

Anmerkungen zum Reise-Roman „Schwarzes Schilf“ von Matthias Wegehaupt

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Matthias Wegehaupts Roman beschreibt die Lebenskrise eines Mannes „in den besten Jahren“. Sein Name ist Sonntag, und er hat seinen Job im mittleren Management einer Firma in einer deutschen Stadt verloren. Ein Vorfall, wie ihn heutzutage immer mehr Personen nachvollziehen können, weil sie selbst oder Personen ihres sozialen Umfelds von dem Phänomen Arbeitslosigkeit betroffen sind. Für die einen ist es nur ein Job, eine Arbeit, mit der sie den pekuniären Hintergrund für ihr Leben bestreiten müssen. Aber der Teil der Arbeitnehmer, die sich mit ihrem Job identifizieren oder sogar ihre Persönlichkeit über diese temporäre Tätigkeit definieren, für diese Personengruppe ist der Verlust des Arbeitsplatzes zwangsläufig mit einer Lebenskrise, mit einem Identitätsverlust verbunden. Dabei sei natürlich unbestritten, das jeglicher Arbeitsplatzverlust zu einer Krise führen kann, fällt doch die gesellschaftliche Bestätigung der Nützlichkeit des Einzelnen weg und damit auch seine Akzeptanz im sozialen Umfeld.

Wegehaupts Protagonist heißt Sonntag. Ab sofort ist für ihn jeden Tag Sonntag, immer frei. Er wird nicht mehr gebraucht: „Das Bühnenstück war zu Ende. Der Vorhang war gefallen. Das Licht ausgeschaltet, und der, der zu nichts mehr gebraucht wurde, lehnte erledigt an einem Blumenkiosk mitten in einer Bahnhofshalle.“ Er irrt durch seine Stadt, orientierungslos und vielleicht – so könnte für den Leser der Eindruck entstehen – gesteuert von einem fernen, undeutlichen Plan. Seine Bewegungen führen ihn zum Bahnhof. Er besteigt einen Zug. Traumwandlerisch scheint er sein Ziel zu kennen: „Die aufgepeppten Badeorte an der Bahnstrecke schienen sich alle Mühe zu geben, Gäste anzulocken. Bald würde er am Ziel sein. Was dann? Er würde in den Wald gehen.“

Sonntag landet an der Ostsee, in der Nähe von Usedom. Er mietet ein Segelboot und beginnt mit einer Bootsreise. Dabei wird die Hauptfigur mit einer differenzierten Metaphorik aus dem Schiffsbereich charakterisiert: „Auf Grund gesetzt, dachte er. Ich bin auch auf Grund gesetzt, alles ist auf Grund gesetzt.“ Erst auf einem Segelboot nimmt die Schockstarre des Protagonisten ab, die ihn mit der Kündigung erfasst hatte. Er erkennt seine Probleme, seine Einschränkungen. Sonntag hat die Identität stiftenden Aspekte seines Lebens vergessen: „Auch die Geige hatte er im Stich gelassen. Nur die Karriere hatte gezählt.“ Ihm bleibt nach dem Jobverlust nichts mehr, er ist verloren: „Sonntag nahm nichts von alledem wahr. Sonntag im trostlosen Anderswo.“ Zwischenzeitlich realisiert er sein Problem, versucht es zu reduzieren: „Ordnung schaffen. Erst einmal das.“ Trotzdem gibt es keine Lösungsangebote. Wegehaupt schnürt den Protagonisten Sonntag in ein enges Netz der Verzweiflung. Meditative Hilfe bietet er seiner Hauptfigur nur durch die Bewegung an, durch das Reisen auf dem Boot: „Segeln, weitersegeln. Segeln ging immer noch.“

Der verzweifelten Hauptfigur werden interessante Begleiter an die Seite gestellt. Eine stark präsente Nebenfigur ist der Maler. Er verkündet prägnante Thesen zur Befindlichkeit der Welt und ihrer Bewohner: „Denn die existentielle Krise ist nicht der Umstand, dass euch das Geld knapp wird, es ist die Krise des Geistigen.“ Die Krise spiegelt sich auch in Sonntags Reise. Dass dies zu Diskrepanzen in der Wahrnehmung führt, bemerkt der Leser sowohl als auch der Protagonist: „Alle sind wir seltsame Reisende. Reisende auf der Reise ins Nichts.“ Aber nur langsam eröffnen sich Perspektiven. Zumindest wird dem Protagonisten klar, dass er sich mit den Verhältnissen arrangieren muss, um nicht an ihnen zu scheitern. „Man schimpft nicht auf den Wind, der ist, wie er ist, man lernt es, ihn zu nutzen und den Böen zu begegnen.“

Sonntag beginnt die Krise als Chance zu sehen und seine Reise als eine temporäre Ruhezone: „Dies sind die friedlichen Tage, in denen uns die Chance gegeben ist, zu begreifen, dachte er. Dies sind die Tage der Frist.“ Nicht einfacher wird es durch den historischen Hintergrund vor dem der Autor seine Protagonisten agieren lässt. In Peenemünde wird der Leser immer wieder mit den Überbleibseln der NS-Diktatur und der DDR-Vergangenheit konfrontiert – und mit den Versuchen ihrer „Aufarbeitung“. Eine Ausstellung mit Plakaten aus dem „Dritten Reich“, Militärschrott aus NS- und DDR-Zeit und die touristische Aufbereitung – alles das begleitet Sonntag auf seiner Reise zwischen Vergangenheit und Zukunft. Dass dabei die persönliche mit der gesellschaftlichen Krise einhergeht, wird nur dezent angedeutet, was dem Roman sehr zu gute kommt. So ist es eine individuelle Krise, die paradigmatischen Charakter annimmt – und in ihrer seltsamen Resignation hoffnungsvoll erscheint.

Am Ende des Romans stellt Sonntag ernüchternd fest: „Ängste aber machen sehend.“ Dies begreift Sonntag als produktive Erkenntnis. Und segelt weiter. Dem eigenen, selbstbestimmten Leben entgegen. Ein großer Roman, geschrieben wie auf einem schmalen Grat. Wegehaupt folgend, könnte man auch sagen: „Schreiben. Ja, schreiben geht noch!“ Eine exzellente, nutzbringende Lektüre erwartet den Leser!

Titelbild

Matthias Wegehaupt: Schwarzes Schilf. Roman einer Reise.
Aufbau Verlag, Berlin 2012.
410 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783351033842

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