„Einzig auf die Geschichte kommt es an“

Patrick Foglis und Ferruccio Pinottis Roman „Bleiernes Schweigen“ handelt von Dichtung und Wahrheit im heutigen Italien.

Von Francesca GollRSS-Newsfeed neuer Artikel von Francesca Goll

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die größte Waffe bleibt der Mut, ein Fragezeichen hinter einen Satz zu setzen und eine sinnvolle Antwort zu fordern“ – diese letzten Worte des Romans „Bleiernes Schweigen“ müssen als Aufforderung an den Leser verstanden werden. Wahrlich, der Roman, der im heutigen Italien spielt, wirft viele Fragen auf, rollt alte Fälle wieder neu auf und knüpft an einige der aufwühlendsten politischen Jahre der jüngsten italienischen Zeitgeschichte an. Der Kampf gegen die organisierte Kriminalität seit den 1980er-Jahren, das Attentat auf den Staatsanwalt Giovanni Falcone im Mai 1992 und das auf seinen Kollegen Paolo Borsellino im Juli desselben Jahres sowie die Verhandlungen zwischen Staat und Mafia stehen im Zentrum der Handlung.

Ein verwitweter Schriftsteller und resignierter Journalist wird eines Tages von einer jungen Anwältin kontaktiert, die wichtige Informationen über den Tod seiner Frau hat. Die Anwältin wird jedoch ermordet, bevor sie ihre Einblicke weitergeben kann, und er nimmt die Ermittlungen zum mysteriösen Tod der beiden Frauen selbst auf. Es handelt sich um eine Reise in die Vergangenheit, die keinen Aspekt seines Lebens unberührt lässt; die Beziehungen zu seinem Vater und zu seiner Tochter, die einen schönen Bogen zwischen Vergangenheit und Zukunft spannen, geraten in den Mittelpunkt, genauso wie der Rückblick des Schriftstellers auf das eigene Leben. Die Suche nach der Wahrheit über den Tod der beiden Frauen entwickelt sich zu einem Wunsch nach Klarheit, der sowohl die eigene Existenz als auch die jüngsten politischen Entwicklungen betrifft. Der Erzähler mischt sich ein, schreckt vor Drohungen nicht zurück und setzt seine eigene Existenz aufs Spiel.

Jeder, der Italien kennt, weiß, dass die Realität der Verflechtungen zwischen Staat, Geheimdiensten und Mafia der Fantasie in nichts nachstehen. Und genau dieses Gefühl weckt der Roman: Handelt es sich tatsächlich nur um Fiktion, oder liest man eine geschickt getarnte journalistische Ermittlung? Der Erzähler betont die Schwierigkeit, die Parteien, die sich bekämpfen, auseinander zu halten. Schützt der Staat, der vorgibt, die Mafia zu bekämpfen, tatsächlich seine Staatsanwälte, oder werden diese von der eigenen Partei für die Erhaltung des politischen und wirtschaftlichen Friedens geopfert? In einer korrupten Zeit, in der die Macht der Finanzmärkte, der Politik und der Mafia zunehmend verwoben und verschwommen sind, bleibt nur noch eins: „das Erzählen, die Notwendigkeit, dem Dunkeln Konturen zu entreißen, Zentimeter für Zentimeter, was ungefähr so irrwitzig ist, wie das Meer in Eimern zu leeren“.

Der Akt des Erzählens als lebenserhaltender Prozess zieht sich, neben der Ermittlung, als roter Faden durch den Roman. Jeder erzählt seine eigene Geschichte aus einer ganz persönlichen Perspektive. Jede hat ihre Gültigkeit, ihre Rechtfertigung und trägt ein kleines Stücken zum Gesamtpuzzle der Wahrheit bei. Es geht darum, das Geschehene zu erhalten – und die Geschichten, die alle Figuren wie in einem unstillbaren Fluss erzählen, scheinen den allmählich einsetzenden Prozess des Vergessens bremsen zu wollen. Die Beziehung des Romans zur Wirklichkeit geht über die Fakten und Eckdaten, die der Handlung zugrunde liegen, hinaus. Ein im Text zitierten Auszug aus Javier Cercas’ Roman „La velocidad de la luz“, bringt es auf den Punkt: „Die einzigen Geschichten, die es wert sind, erzählt zu werden, sind die wahren“ – wobei der Literatur eine politische Brisanz und gewissenserweckende Rolle zugesprochen wird.

Der Blick in die Zukunft ist dennoch nicht gerade aufbauend. Der Erzähler setzt seine Hoffnung auf die Generation seiner engagierten Tochter Giulia, Journalistik-Studentin an der Columbia University und somit auch berufliche Erbin der Eltern. Dennoch, die Figur der Tochter bleibt durchgehend etwas schablonenhaft und die komplizierte Beziehung des Vaters zur Tochter überträgt sich auf die Leser. Ihr, Giulia, gilt die Aufforderung, sie möge an „diese Geschichte denken, aufstehen, fordern, dass sie gelesen wird, und ihre verdammten Fragen stellen“. Giulia und den Leser trifft somit ein ähnliches Schicksal: Fragen stellen zu müssen, angestachelt von einer spannenden, gut geschriebenen Geschichte. Der Zweifel, ob es sich tatsächlich nur um einen Roman handelt, weckt umso mehr das Interesse an der Handlung.

Den beiden Autoren, dem Journalisten Ferruccio Pinotti, renommiert für seine brisanten und akkurat recherchierten Artikel, und dem Schriftsteller Patrick Fogli, ebenfalls für akribisch recherchierte Themen zur neueren italienischen Geschichten bekannt, ist ein wirklich mitreißender und lesenswerter Roman gelungen. Die Spannung hält bis zuletzt an, obwohl ein offenes Ende in der Natur der Ermittlungen liegt: Die Attentate auf die Staatsanwälte Giovanni Falcone und Paolo Borsellino sind in Italien bis heute nicht vollständig aufgeklärt. Insofern handelt es sich bei „Bleiernes Schweigen“ um eine doppelt bemerkenswerte Leistung – der Roman ist nicht nur literarisch gelungen, sondern wirbelt auch wieder den Staub um eine der dunkelsten Affären in der neueren italienischen Geschichte auf, deren Folgen sich noch heute in der politischen Schieflage des Landes bemerkbar machen.

Die Übersetzung stolpert leider wiederholt über die italienische Umgangssprache und ihre Floskeln, wobei es zu teilweise grotesken Ausdrücken kommt, wie „am Arsch kriegen“ für das italienische Pendant zu „verarschen“. Oft wird wörtlich übersetzt, wo die Bedeutung im übertragenen Sinne zu verstehen ist. Der flotte Ton der italienischen Ermittler wird aus offensichtlicher Hilflosigkeit der Übersetzerin mit einer anglophilen Wortwahl kompensiert, wobei Ausdrücke wie „Buggy“, „gefaked“ oder „Bullshit“ ziemlich hölzern und, bei pensionierten Journalisten (wohlbemerkt: nicht beim Rapper Bushido), etwas abwegig sind. Über die Wahl des Titels in der deutschen Fassung kann man unterschiedlicher Ansicht sein, dennoch sind die „Bleiernen Jahre“ in Italien ein besetzter Ausdruck, der sich auf die 1960er- und 1970er-Jahre und auf den Terrorismus der Brigate Rosse bezieht. Der italienische Titel „Non voglio il silenzio“ (wörtlich: Ich will das Schweigen nicht) dagegen hebt die Rolle des Erzählens hervor.

Erzählen, Aufarbeiten, Fragen stellen – drei Grundsätze, die im Bezug auf die Verflechtungen zwischen Mafia und Staat in Italien leider gerne vernachlässigt werden. Dieser absolut lesenswerte Roman erinnert daran und begeht einen Schritt in diese Richtung. Eine große Leistung.

Titelbild

Patrick Fogli / Feruccio Pinotti: Bleiernes Schweigen. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Verena von Koskull.
Aufbau Verlag, Berlin 2012.
623 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783351033873

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch