Literatur-Comics, Intermedialitätsforschung und Kunstdiskurs

Monika Schmitz-Emans’ Blick auf ein Subgenre bietet Anlass, nach dem Stand aktueller Comicforschung zu fragen

Von Hans-Joachim HahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Joachim Hahn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine der ersten deutschsprachigen Untersuchungen zur Geschichte der Comics stammt von dem Siegener Germanisten Karl Riha, wurde bereits vor mehr als vier Jahrzehnten veröffentlicht und ist bis heute anregend: „Zok roarr wumm: Zur Geschichte der Comics-Literatur“ (1970). Ab Mitte der 1960er-Jahre entstanden erste Ansätze einer europäischen „Comics-Wissenschaft“ (Riha) in Reaktion vor allem auf Entwicklungen in der zeitgenössischen US-amerikanischen Kunst wie etwa der Pop Art Roy Lichtensteins, die Elemente der „Massenzeichenware“ (Drechsel/Funhoff/Hoffmann) aufgriff und damit den konventionellen Kunstbegriff angriffen. Bei Riha heißt es: „Soziologen und Psychologen, Kunst- und Literarhistoriker meldeten sich zu Wort und belegten mit wissenschaftlichem Anspruch, was bis dahin, als Schmutz- und Schundliteratur attackiert, im Zeichen hektischer und nicht ungefährlicher Polemik gestanden hatte“.

Die Beschäftigung mit Comics setzte schon damals ein transdisziplinäres Interesse voraus und entzündete sich nicht von ungefähr an einer Selbstreflexion des Kunstbegriffs der Bildenden Künste. Zur Entstehung von Comicforschung trug die Literaturwissenschaft ebenso bei wie andere Disziplinen. Bei der gesellschaftstheoretischen Frage nach dem Stellenwert von Comics ging es auch in der literaturwissenschaftlichen Annäherung damals nicht zuletzt um (wissenschafts)politische Fragen wie das Verhältnis von Hoch- zu Populärkultur, Kanon und gesellschaftliches Bewusstsein.

Erneut entstehen Studien zu Comics auch im Feld der Literaturwissenschaften, was grundsätzlich sehr zu begrüßen ist. Folgt man der These, dass kein Medium „rein“ ist, sondern in bestimmtem Maße immer verschiedene Medien an der Kommunikation beteiligt sind, erscheint es nachgerade notwendig, die spezifischen Formen intermedialer Medienverbünde vom Gegenstand der jeweiligen Disziplinen aus neu zu beschreiben.

Comics sind per se intermedial und fallen von Vornherein etwa in den „Zuständigkeitsbereich“ sowohl der Bildwissenschaften als auch der Textwissenschaften. Hatte Riha bereits im Titel seiner Untersuchung alle Comics als „Comics-Literatur“ der Literatur zugeordnet, verfährt eine aktuelle Studie vorsichtiger, wenn sie arbeitshypothetisch nur einen kleinen Teil der Comics als „Literatur-Comics“ bezeichnet. Gemeint sind Comics, die sich auf einen oder mehrere literarische Texte beziehen. Die Rede ist von der von Monika Schmitz-Emans in Zusammenarbeit mit Christian A. Bachmann erarbeiteten und in diesem Jahr veröffentlichten Studie „Literatur-Comics. Adaptationen und Transformationen der Weltliteratur“. Zuvor veröffentlichte Schmitz-Emans 2010 den Aufsatz „Die Weltliteratur und der Comic“, der wohl als Keimzelle für die aktuelle Studie angesehen werden kann. Einige ihrer Beispiele sind hier bereits zu finden und auch der theoretische Zugriff bleibt weitgehend der gleiche.

Schmitz-Emans geht im Aufsatz von der langen Geschichte der „Paraphrase dichterischer Texte in Form von Bilderzählungen“ und dem enormen Erfolg aus, den eine Vielzahl unterschiedlicher Veröffentlichungen „gezeichneter Literatur“ für sich verbuchen kann. Literatur-Comics, so die These Schmitz-Emans, „können hinsichtlich ihres implizit oder explizit kanonisierenden Effekts mit Publikationsreihen zu Nationalliteraturen oder zur Weltliteratur verglichen werden“. Für die Verwendung des im Untertitel der Studie genannten, aber nicht umfassender begründeten Konzepts „Weltliteratur“, erscheint in Anlehnung an Andreas Platthaus vor allem die These entscheidend, dass der Comic inzwischen „an der Verhandlung von ‚Weltliteratur‘ aktiv“ beteiligt sei. Eine zentrale Funktion von Comics heute wird so in der Bestätigung eines literarischen Kanons vermutet, wodurch gleichzeitig der Status von Comics eine Aufwertung erfahre.

In der Studie werden gleich mehrere Gründe angeführt, warum sich die Literaturwissenschaft für Comics interessiert beziehungsweise interessieren müsste. Ein wichtiges Argument liefere die Literatur selbst. So forderte der Wiener Schriftsteller H. C. Artmann bereits 1964, „Comic-Writing“ als Literatur anzuerkennen. Auch Riha hatte seine oben erwähnte Publikation mit einer längeren Passage aus Artmanns Roman „Das suchen nach dem gestrigen tag oder schnee auf einem heißen brotwecken“ eröffnet, den Schmitz-Emans nun erneut anführt. Anders als Riha, dessen Arbeit sie nicht erwähnt, geht sie jedoch nicht auf die literaturpolitische Dimension von Artmanns Polemik ein. Artmann hatte postuliert: „Ich aber sage: Pop-literatur ist heute einer der wege (wenn auch nicht der einzige), der gegenwärtigen literaturmisere zu entlaufen“. Bei Schmitz-Emans erscheint Artmann in einer Reihe mit H. M. Enzensberger, der in seiner Anthologie „Das Wasserzeichen der Poesie“ (1985) den Comic als Spielart des Poetischen auffasste. Der Anstoß, über die Beziehung des Medium Comics zu Formen des Literarischen nachzudenken, kommt für die Studie also aus der Literatur. Eine weitere Begründung für eine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Comics basiert auf der Beobachtung, dass viele Comics „als Dokumente der Rezeption literarischer Texte“ entstünden.

Die Beziehung zwischen Comics und Literatur wird daher zu Recht als vielgestaltig angesehen, was Schmitz-Emans zur Formulierung von drei Thesen veranlasst: Erstens bestünden grundlegende „strukturelle Analogien zwischen der Darstellungsform des Comics als einer narrativen Form und den verschiedenen Gattungen literarisch-poetischen Erzählens“, wobei gerade die Spannung zwischen dieser Analogie und den Differenzen zwischen den Medien „die zeichnerische Paraphrase literarischer Vorlagen“ gleichermaßen für Produzenten und Rezipienten reizvoll erscheinen lasse. Zweitens bedienten sich Zeichner solcher Bilder und Symbole, die ebenfalls in literarischen Texten Verwendung fänden und deren semantisches Potential von den literarischen Kontexten in starkem Maße mitbestimmt sei. Schließlich handle es sich bei der Visualisierung eines poetischen Textes als Comic um einen komplexen Fall von Intermedialität, wobei eine ursprünglich sprachliche Vorlage ins Visuelle transformiert werde beziehungsweise eine Verbindung bildlicher und sprachlicher Mittel vorläge. Plausibel ist dabei die grundsätzliche Betonung eines Austauschverhältnisses zwischen den Medien Literatur und Comic. So lasse sich am Literatur-Comic – betrachtet als „Bilderzählung über Literatur“ – exemplarisch der Vorgang einer „wechselseitigen Erfindung“ verschiedener Kunstformen beobachten. Dabei erfinde und modelliere sich die „Gattung des Comics im Prozess ihrer reflexiven und gestalterischen Auseinandersetzung mit der Literatur selbst“, während sie gleichzeitig auch die Literatur reflektiere und modelliere. Letzteres wird von der Studie allerdings nicht wirklich gezeigt.

Vor diesem Hintergrund deutet Schmitz-Emans Comics als „hybride Kunst“, die ihr für Fragen der Intermedialitätsforschung reiches Anschauungsmaterial bietet. Obwohl in Diskursen über den Comic die Frage einer Abgrenzbarkeit von Kunst und Nicht-Kunst eine geringere Rolle spiele als die nach der Beschreibbarkeit seiner spezifischen Intermedialität, widmet Schmitz-Emans der Darstellung von Comics als „neunter Kunst“, wie der französische Journalist Francis Lacassin das Medium 1971 nannte, immerhin ein Viertel ihrer Studie. Erkenntnisleitend sind vor allem zwei miteinander verbundene Thesen: Der Comic profiliere sich durch seine Kontaktaufnahme mit der Literatur als Kunstform, wobei der Comic „eine Kunst [sei], die durch ein reiches Repertoire von Selbstbespiegelungsstrategien charakterisiert ist – und diese finden vor allem in solchen Comics vielfältigen Einsatz, die auf literarischen Texten beruhen, diese nacherzählen oder anderweitig auf diese Bezug nehmen“.

Auch wenn nicht einzuleuchten vermag, dass sich comic-spezifische Selbstbespiegelungsstrategien primär in Comics finden sollen, die auf literarische Vorlagen Bezug nehmen, gehört das Herausarbeiten vor allem solcher „Rahmungsstrategien“ in einer Vielzahl von Lektüren von Literatur-Comics zu den Stärken dieser Studie. Die genaue Kenntnis der literarischen Vorlagen führt etwa bei den Lektüren zu den Comics von Marc-Antoine Mathieu, zu den verschiedenen Kafka-Interpretationen oder zu Stéphane Heuets zeichnerischen Interpretationen von Marcel Prousts „À la recherche du temps perdu“ zu vielen erhellenden und interessanten Beobachtungen.

Der etwas über vierzig Seiten umfassende Abschnitt zum Comic als Medium, mit dem Schmitz-Emans den ersten Teil (von insgesamt drei) der Studie abschließt, enthält auch einen eigenen Definitionsversuch. Dort entwickelt die Autorin ausgehend von einem kurzen Abriss der Comic-Geschichte und in Auseinandersetzung mit den „Meta-Comics“ von Scott McCloud und Will Eisner, einigen kunsttheoretischen Schriften sowie wenigen ausgewählten Studien und Aufsätzen der Comicforschung ein Verständnis von Comics als doppelten Rahmungen. Solche Rahmungsstrukturen dienten dem Comic zum Verweis auf seinen Kunstcharakter, wie sie an späterer Stelle ausführt.

Wenn trotz vieler kluger Einsichten und angesichts der Fülle von verarbeitetem Material der Gesamteindruck der Studie etwas zwiespältig ausfällt, so liegt es sicherlich nicht an den für eine Publikation diesen Umfangs wohl zu vernachlässigenden wenigen sachlichen Fehlern (etwa, dass das Todesjahr von George Herriman fälschlich mit 1940 statt mit 1944 und das Jahr der Erfindung Supermans mit 1936 statt 1934 angegeben wird oder der Name Tina Modotti falsch geschrieben ist). Unbefriedigend erscheint zum Teil die Auswertung der jeweiligen Lektüren. Immer wieder werden, eigentlich löblich, „Zwischenbilanzen“ oder „vergleichende Beobachtungen“ formuliert, in denen dann jedoch zum Teil wenig Substanzielles festgehalten ist. Beispielhaft sei nur auf die summierenden Zeilen zu einem Vergleich der drei Literatur-Comic-Anthologien „Alice im Comicland“, „Literatur gezeichnet“ und „Moga Mobo“ hingewiesen. Jedem Band ist in der Bilanz genau eine Zeile gewidmet: „‚Alice im Comicland‘ dokumentiert eine sich als innovatorisch verstehende Form der Klassiker-Interpretation, die bildungsbürgerliches Literaturwissen mit der Offenheit für neue ästhetische Ausdrucksmittel verbindet. ‚Literatur gezeichnet‘ nimmt einen von Massenmedien (also von ‚anderen‘) zusammengestellten Kanon zum Ausgangspunkt und treibt mit dessen Beständen ein parodistisches, teilweise gezielt profanisierendes Spiel. Und ‚Moga Mobo‘ tendiert dazu, mit dem Kanonisierungsprozess selbst zu spielen“.

Offenkundig ist das Bemühen um eine ausgewogene Beschreibung der jeweiligen Besonderheit der drei Anthologien, die aber unterschlägt, dass die Verfasserin die Anthologie ‚Literatur gezeichnet‘ insgesamt offenbar für misslungen hält, was sie zuvor pointiert in einer Fußnote anspricht: „Was im Vorwort (von „Literatur gezeichnet“; H.J.H.) als Ironie angekündigt wird, ist dabei eine ziemlich triviale Form platten Humors. Die erträglichsten Texte zu den zeichnerisch interpretierten Werken sind noch die, die sich weitgehend auf Inhaltsangaben beschränken, aber leider meint der Verfasser meist, mehr tun zu müssen“. Das erfrischende Urteil, ob gerecht oder ungerecht, provoziert vor allem die Frage nach dem Sinn der späteren, neutralisierenden Bilanz.

Verdienstvoll bleibt, dass die Studie einen guten Einblick in das einleuchtend bezeichnete Subgenre der Literatur-Comics vermittelt und einen ersten Überblick über die Bandbreite von Literatur-adaptierenden Comics und deren unterschiedliche Darstellungsstrategien bietet. Wer Comics jedoch vorrangig unter dem Aspekt einer Paraphrase von literarischen Ausgangstexten betrachtet und den auch von einigen Zeichnern mit den Referenzen auf Literaturklassiker oder Avantgardeautoren zweifellos betriebenen Distinktionsgewinn für das eigene Ausdrucksmedium zum vorrangigen Gegenstand macht, läuft leicht Gefahr, die genuinen Reflexions- und Darstellungsverfahren des Mediums zu vernachlässigen. Dieser Gefahr ist sich die Autorin bewusst, wenn sie wie dargestellt die Beziehung zwischen Literatur und Comics prinzipiell als Austauschverhältnis charakterisiert. Letztlich erscheint diese Beziehung jedoch zu stark von der Literatur her gedacht.

Insgesamt hätte eine stärkere Berücksichtigung aktuellerer Studien aus dem Feld der Comicforschung der Studie gutgetan, wobei auch einzelne in der Literaturliste genannte Arbeiten (etwa Martin Schüwers „Wie Comics erzählen. Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie der grafischen Literatur“ (2008) oder Ole Frahms „Die Sprache des Comics“ (2010)) offensichtlich nicht eingearbeitet wurden. Das ist auch insofern bedauerlich, als etwa Frahm einen spezifischen Parodie-Begriff für die Sprache des Comics als konstitutiv ansieht, der gerade auch am Subgenre der Literatur-Comics hätte diskutiert werden können. So wird der im aktuellen Stand der Comicforschung bereits erreichte Methoden- und Theorienpluralismus leider nicht zur Entwicklung oder gar Zuspitzung einer Debatte genutzt, die für eine weitere Profilierung der Intermedialitätsforschung nützlich sein könnte. Die Zeiten hektischer Polemik, von denen Riha 1970 schrieb, sind heute zwar längst vorbei, weil Comics als Gegenstand und die Beschäftigung mit ihnen kaum noch umstritten sind. Das muss aber nicht heißen, dass gegenwärtige Comicforschung notwendig unpolitisch zu sein hat.

Titelbild

Monika Schmitz-Emans: Literatur-Comics. Adaptionen und Transformationen der Weltliteratur.
(linguae & litterae, Bd. 10).
De Gruyter, Berlin 2011.
433 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110265286

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