Toll trieb man es im Biedermeier …

Beiträge zur Geschichte der Unterhaltung im 19. Jahrhundert von Anna Ananieva und anderen

Von Thomas BitterlichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Bitterlich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Beiträge dieses Sammelbandes beschreiben Praktiken der Unterhaltung im 19. Jahrhundert. Von Interesse ist, welchen Begriff von Unterhaltung und welches Geschichtsbild sie diesbezüglich entwickeln. Warum gerade das 19. Jahrhundert ausgewählt wurde, erklärt das Vorwort. In diesem Jahrhundert kann eine Bedeutungserweiterung des Begriffs „Unterhaltung“ festgestellt werden. Diente er zuvor dazu, eine Art der Kommunikation zwischen Angehörigen der gesellschaftlichen Elite zu bezeichnen, wird „Unterhaltung“ im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend allgemeiner verwendet. In seiner sozialen Dimension bezeichnet er auch kleinbürgerliche Praktiken, und die kulturelle Dimension bezieht neben Gesprächen auch Freizeitvergnügungen oder Konsumpraktiken mit ein. Wie kam es zu dieser Bedeutungserweiterung? Was trat neben die Oberschichtenkommunikation und begann die Vorstellung von „Unterhaltung“ zu dominieren?

Karin A. Wurst benennt im ersten Beitrag die bürgerliche Gartenkultur. Das gesellige Beisammensein im Garten, so die Autorin, sei gleichzeitig das Indiz für einen gesellschaftlichen Transformationsprozess. An der Entstehung der bürgerlichen Gartenkultur zeige sich die Ersetzung feudaler beziehungsweise. ständischer Ordnungen durch Praktiken der Selbstgestaltung. Von einem Repräsentationsraum verwandle sich der Garten zu einem Raum der kreativen Selbstverwirklichung. Der Garten wird aus seinen bisherigen Bedeutungshorizonten herausgelöst und neu kultiviert, wobei der entscheidende Unterschied zum Adel eher bei Nutzung für die Produktion von Lebensmitteln zu suchen ist. Es ist anzuzweifeln, dass die bürgerliche Gartengeselligkeit sich so sehr von adligen Gartenvergnügungen unterschied. Hier wird, wie in anderen Beiträgen auch, pauschal davon ausgegangen, dass der Übergang von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert bereits abgeschlossen sei. Die beiden Formen der Gartenkultur bestehen ja zeitlich gesehen zunächst nebeneinander. Zudem werden auch bürgerliche Gärten zu Repräsentationszwecken verwendet oder für künstlerische Aufführungen genutzt und erst langsam scheinen sich andere Nutzungsformen zu entwickeln. Eine Trennung beider Kulturen markieren erst die Schrebergärten. Die Geschichte der Gartenunterhaltungen würde eher von der Beschreibung des Wechselverhältnisses zwischen Adel und Bürgertum profitieren als von einer strikten Abgrenzung.

Ebenso ist der Annahme zu widersprechen, dass allein bürgerliche Unterhaltungen durch Selbstverwirklichung gekennzeichnet sind. Das liest sich oft so, als habe es in den Jahrhunderten zuvor derartige Praktiken nicht gegeben. Es wird übersehen, dass bereits in der Renaissance feudale/ständische Strukturen gelockert wurden und dadurch für Adlige und Bürgerliche gleichermaßen notwendig wurde, ihr Selbst neu zu finden. Sicherlich kann der Sammelband mit dem Fokus auf das 19. Jahrhunderts den Vergleich über mehrere Jahrhunderte nicht leisten, aber es zeigt sich dadurch, dass eine Langzeitperspektive für die Geschichte der Unterhaltung fehlt.

Was an dieser These von der Ablösung traditioneller durch individuell bestimmte Praktiken stört, ist weiterhin die Annahme einer Entwicklung, die zu mehr Freiheit führe. Die Beiträge widersprechen sich in dieser Hinsicht manchmal selbst, wenn einerseits eine Lockerung betont wird und andererseits Organisationsformen für diese Unterhaltungen beschrieben werden. Um beim Garten zu bleiben – seine Nutzbarmachung für die Produktion von Lebensmitteln weist ja einen höheren Grad an methodischer Naturunterwerfung auf als adlige Lustgärten. Und es ist nicht so, dass der Garten auch mythische Bedeutungen verliert und damit auch in seinen Funktionen beschränkt wird? Man möchte die These nicht vollständig in ihr Gegenteil verkehren, es zeigt sich hier jedoch dass die Betrachtung von Unterhaltung Defizite aufweist. Zufälligkeit und Planlosigkeit sind als Merkmale eher ungeeignet. Es scheint ein bestimmtes Verhältnis von Zufall und Plan zu sein, das eine Praxis als Unterhaltung kennzeichnet.

Wurst, die hier exemplarisch analysiert wird, führt zur näheren Bestimmung von „Unterhaltung“ als Ursache eine im 19. Jahrhundert aufbrechende Sucht nach Neuem an. Als Massenphänomen ist diese Sucht spätestens seit dem 15. Jahrhundert begann (Schlagwörter: curiositas, Fürwitz). In Bezug auf die Geschichte der Unterhaltung im 19. Jahrhundert scheint dieser anthropologische Ansatz nicht nur aus diesem Grund marginal bedeutend. Wo war die Neugier bis zu diesem Zeitpunkt? Hat sie bis dahin in den Genen geschlummert? Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen erscheinen als Ursache für die Entstehung moderner Unterhaltung eher plausibel. Wenn es um die Auflösung traditioneller und sozialer Strukturen geht, wäre in dieser Zeit eher an die zunehmende Verstädterung, den Ausbau der Verkehrswege und die Industrialisierung zu denken. Diese historischen Entwicklungen sind vielleicht weniger als Ursachen zu sehen, sondern als komplementäre Phänomene in westeuropäische Gesellschaften, die Formen des kulturellen und wirtschaftlichen Verkehrs neu definieren. Dabei kommt es ohne Frage auch zu neuen Seh- und Denkweisen deren psychisch-physische Gestalt noch zu beschreiben wäre.

Die Schwierigkeit einer Geschichte der Unterhaltung besteht vielleicht genau in diesem Punkt. Burkhard Fuchs und Anna Ananiera verweisen in ihren Beiträgen auf deren informellen Charakter. Doch woran lässt er sich bemessen? Zwar fördern die neu entstehenden Kurorte, die Durchmischung von Adel und Bürgertum, so Fuchs, aber fungieren ebenso als Stadt in der Stadt, die durch klassische Architektur die Idee einer universalen Harmonie verkörpert. Die hier gefundenen Freiheiten sind das Ergebnis einer subjektiven (durchaus gesellschaftlichen entwickelten) Wahrnehmung. In Abgrenzung zu etwas, das als steife Form verachtet wird, empfinden bürgerliche Schichten die philosophisch fundierte Rückbesinnung auf die Antike als Befreiung. Die ‚neuen‘ Formen und Bedeutungen von Unterhaltungen sind also Produkte von emotional geprägten Abgrenzungs- und Differenzierungsprozessen.

Christiane Horn verweist darauf, dass „Unterhaltung“ pauschal für all das steht, was sich in Konkurrenz zu dem befindet, das für wertvoll und erstrebenswert erachtet wird. Wenn das erklärte Ziel die Veränderung der Gesellschaft durch Bildung ist, dann gelten Handarbeiten als Unterhaltung, zumal sie gleichzeitig ihre wirtschaftliche Nutzen verlieren. Neben der gefühlten Freiheit wird der Begriff „Unterhaltung“ durch negative Emotionen gegen diese Praktiken bestimmt. Sie erscheinen weniger nützlich, als Zeit- und Geldverschwendung, ungeistige oder lustbetonte Tätigkeiten. Vor diesem Hintergrund dient Unterhaltung als Sammelbegriff für alle als wertlos erachteten Praktiken. Folgt man diesen undifferenzierten Urteilen der Zeitzeugen, vereinseitigt sich der Blick auf historisch verschieden Gewachsenes. Da wird das Märchenerzählen zur Unterhaltung, eine Praktik, die zuvor als sozialer Kitt an Winterabenden diente. Die dilettantische Beschäftigung mit Musik gilt als Unterhaltung, weil sie nicht an den Standard professioneller Darbietungen heranreicht. Mit Unterhaltung werden aber auch Praktiken bezeichnet, die massenhaft Verbreitung fanden oder nur auf kleine Gruppen beschränkt blieben, beispielsweise Hobbies. Mit dem Begriff der „Ausdifferenzierung“ ist dieses Phänomen nur unvollständig erfasst. Es geht neben der Vervielfältigung von Praktiken, um die Neuordnung von Hierarchien und um die emotionale Vergrößerung von Unterschieden zu Widersprüchen kombiniert mit der Verwischung von Gemeinsamkeiten.

Unabhängig davon leistet der Sammelband einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Unterhaltung. Er richtet den Blick auf ein Phänomen, das auch heute noch oft genug marginalisiert oder mit Unbehagen betrachtet wird. Die verschiedenen Beispiele erweitern die Vorstellung dessen, was als Unterhaltung betrachtet wird. Es fehlt jedoch eine Theorie der Unterhaltung, die eine langfristige Perspektive auf den Gegenstand entwickelt oder seine heterogenen Strukturen und Erscheinungsformen angemessen erfasst.

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Dorothea Böck / Anna Ananieva / Hedwig Pompe (Hg.): Geselliges Vergnügen. Kulturelle Praktiken von Unterhaltung im langen 19. Jahrhundert.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2011.
353 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-13: 9783895288197

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