„Willst du Gottes Wunder sehen, musst Du zu den Bienen gehen“

Ralph Dutlis Studien über die Biene als Emblem von Kultur und Daniela Dörings Geschichte der Schnittmuster sind erhellende Beiträge zur historischen Anthropologie

Von Claudia SchmöldersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Claudia Schmölders

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit 2007 wird Alarm geschlagen,seit dem Jahr des mysteriösen Bienensterbens. Bis zu 80 Prozent der Stöcke kollabierten damals, vor allem in USA. Plötzlich wurde der Welt bewusst, dass wir ohne Bienen keine Früchte mehr, ja, nach einem angeblichen Wort von Albert Einstein überhaupt nur noch vier Jahre zu leben hätten. Auch 2012 ist das Rätsel noch nicht wirklich gelöst, die Bienen sterben weiterhin. Ursache hierfür seien Pestizide, oder die Varroa-Milbe (Varroa Destructor), die sich angeblich seit 1977 aus Asien kommend weltweit verbreitet. So ist es weit mehr als eine nur kulturwissenschaftliche Studie, wenn Ralph Dutli, der vielfach gerühmte Übersetzer, Dichter und Essayist jetzt für das „Emblemtier von Poesie und Kultur“ trommelt. Schließlich ist die Biene ein Abgott der Dichter, und mit Dichtung hat daher auch der größte Teil des Buches zu tun. Was Dutli daneben an Nachrichten über die Bienennatur- und -kulturgeschichte mitteilt, verdient den Dank aller Leser aus der literarischen Branche und jeden Respekt der Übrigen.

Seit Aristoteles, seit Varro, seit Vergil wurde das Lob der Biene gesungen, und voller Bewunderung führt uns auch Dutli durch die unerhörte Biokultur dieser Apiform aus der Gattung der Hautflügler. „Willst Du Gottes Wunder sehen, musst Du zu den Bienen gehen“, so summieren sich auf den nur 160 Seiten in komprimiertester Form die Nachrichten über diesen Inbegriff von naturverbindendem Fleiß, weiblichem Selbstopfer, sinnvollster Sozialordnung, glänzender Kommunikation, nicht zu reden von den süßen und sinnreichen Produkten und geballter Wehrhaftigkeit. Superlative durchziehen die Leistungsbilanz der Bienen in jeder Hinsicht. 80 Prozent aller Blütenpflanzen werden von Insekten bestäubt, davon wiederum 85 Prozent von Honigbienen. Angeblich erwirtschaften die Bienen ein Konzernvolumen von rund 153 Millionen Euro pro Jahr, ohne sie gäbe es einen Ausfall von bis zu 300 Milliarden.

Bienen haben zwar ein kleines Hirn, aber es ist besser als jeder Chip der modernen Speichertechnik programmiert. So etwa können sie einen spezifischen Duft unter rund 750 andern Düften herausriechen, können sich durch Zittern der Flugmuskeln bis auf 43 Grad erwärmen, um den Nachwuchs zu bebrüten, legen sommers bei ihren Sammlungen an die achttausend Kilometer zurück, und so weiter. Nach der Rückkehr in den Stock teilen sie dann mit ihren berühmten Schwänzeltänzen den Schwestern zuhause den Ort der Nahrung mit.

Als Karl von Frisch, der bayrische Zoologe, um 1920 auf diese Kunst stieß (womöglich die engste Verwandte der Dichtkunst im Tierreich also), entstand eine Sensation, die bis heute die Fachwelt beherrscht. Längst nicht jeder glaubt aber, dass Bienen einander geografische Mitteilungen durch symbolische Körperbewegungen machen können, die zudem noch am Sonnenstand orientiert sein sollen. Seit einigen Jahren entwickelt man deshalb an der FU Berlin eine Roboterbiene, die im Kontrollversuch Nachrichten motorisch verkünden soll. Folgen die natürlichen Bienen diesen Anweisungen oder nicht? Raoul Rojas, Randolf Menzel und Andreas Kirbach arbeiten mit einer internationalen Gruppe zusammen – auf das Ergebnis darf man gespannt sein.

Neben die apiformen Kulturschöpfungen des Honigs und der genialen Kommunikation tritt drittens der Wachs: das Urmedium der Kerze, also des Lichtes für alle Menschen, besonders für die Lesenden durch die Jahrtausende hindurch, und zugleich das Urmedium des literalen Handwerks, der Schreibkunst. Papyrus und Pergament gab es für Bücher, aber Wachstäfelchen im Alltag. Als Hieroglyphe war die Biene bei den Ägyptern sogar ein Herrschaftssymbol. Auch für die Kriegskunst standen die Bienen lange Zeit Pate – schließlich konnten sie schmerzlich verletzen, ja sogar töten. Eine erste Wendung zum Sozialsymbol nahm das Bienenwesen dann unter dem Imker Augustinus. Er lobte die ewige Jungfrauenschaft der Bienen als Vorbild der Nonnen und Hieronymos schrieb einem Mönch: „Richte Bienenstöcke ein […] und lerne von den kleinen Wesen, wie Ordnung und Zucht in den Klöstern zu wahren sind.“ Die nachdrücklichste Wendung zur Sozialmetaphorik induzierte aber der holländische Forscher Jan Swammerdam im 17. Jahrhundert mit der Erkenntnis, dass der vermeintliche König im Stock eine Königin sei. Mitte des 19. Jahrhunderts berief sich der Mythologe Bachofen auf „das vollständigste Vorbild der ersten menschlichen, auf der Gynäkokratie des Muttertums beruhenden Vereinigung.“ Vielleicht um einen Rest an Männlichkeit für das Bienenwesen zu erhalten, prägte man schließlich den Terminus „der Bien“, worunter die Forscher nun die Kolonie als Superorganismus verstanden.

Insekten und ihre Lebensformen überhaupt stiegen im 19. Jahrhundert zu sozialen Paradigmen auf, nicht zuletzt durch das bahnbrechende Werk Jean-Henri Fabres, dem „Homer der Insekten“ (Victor Hugo). Um die Jahrhundertwende überschlugen sich dann die sozialen Phantasmen. Der spätromantische Dichter Maurice Maeterlink verfasste einen regelrechten Kulturbestseller unter dem Titel „La vie des abeilles“ (1901); 1912 erschien Waldemar Bonsels Weltbestseller „Die Biene Maja“. Den Gipfel dieser Fantasmen erreichte Rudolf Diesel, Erfinder des Dieselmotors, den Dutli allerdings nicht mehr behandelt. 1903 erschien das lebensreformerische Hauptwerk über den „Solidarismus“, mit dessen Proklamation Diesel den Klassenhass besiegen und die Gesellschaft quasi als funktionstüchtigen Apparat einrichten wollte. Die geplante neue Gesellschaft sollte aus selbstverwalteten Genossenschaftsbetrieben bestehen, die Arbeiter am Gewinn beteiligen und sämtliche Lebensbedürfnisse kostenlos befriedigen. Geleitet von den wunderlosen Geboten des Christentums sollten Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit herrschen, Friedfertigkeit, Barmherzigkeit und Liebe. Das schlagende Modell für all dies fand Diesel im Bienenstock. Für seine Reform erfand er eine groteske und rückblickend eher angsterregende Terminologie: „Bienenpreise“ im Sinne von Billigpreisen sollte es geben, „Bienenkarten“ zwecks Identifikation jedes Einzelnen sollten eingeführt und „Bienenakten“ zu jedem Mitgliedsleben angelegt werden, und so weiter. Auch wenn uns heute vieles durch elektronische Technologie eingelöst erscheint, die vollständige „Erlösung des Menschen“, die Diesel mit seinem „Solidarismus“ betreiben wollte, musste scheitern. Die von ihm angesprochenen Arbeiter wollten keineswegs alle „Bienenstöcke errichten“ oder gar „Bienen werden“.

Ralph Dutli hat kein Fachbuch geschrieben, weder ein biologisches, noch ein kulturhistorisches mit Anspruch auf Vollständigkeit. Aber er hat, auch als Anregung für die neueren Animal Studies, den wohl elegantesten Familienroman seiner Zunft verfasst, eine Geschichte der Naturpoesis, die in den höchsten Rängen beginnt und nun, ähnlich wie die Griechen heute in Europa, gerade vom Verfall, vom Aussterben bedroht ist. Allerdings gibt es Chancen: Laut Dutli leben inzwischen gesündere und produktivere Bienenstöcke auf städtischen Dächern als auf dem verpesteten Lande.

Auch die Potsdamer Kulturwissenschaftlerin Daniela Döring legt eine Art Berufsgeschichte vor, zwar nicht des Dichters, aber des Schneiders, aus der Genderperspektive. In der originellen, sehr fachspezifisch und kompakt geschriebenen Dissertation geht es um die Mode, genauer: um die Entstehung von „Konfektion“ im Bekleidungssektor, also eigentlich um die Geschichte der Schnittmuster. Wie bei den Bienen steht auch hier ein dramatischer Wechsel vom männlichen zum weiblichen Paradigma im Zentrum. Vorläufer aller Schnittmuster ist ja die männliche Uniform; und Vorläufer aller Körpermesstechnik ist die ästhetische Proportionenlehre aus Antike und Renaissance, meist zur männlichen Gestalt verfasst und im vorliegenden Buch anhand der physiognomischen Studien von Johann Gottfried Schadow für das 19. Jahrhundert exploriert. Physiognomische Wahrnehmung ist an sich auf Individuen konzentriert, strebt aber nach Typenbildung. Schadow wurde berühmt mit der Vermessung und Zeichnung von Nationalköpfen und -körpern, denen sich angeblich Charaktereigenschaften zuordnen ließen. Sein umfangreiches Zeichenwerk „Policlet“ aus dem Jahr 1834 hielt auf Dutzenden von Tafeln Umrisse und Größenordnungen fest, die als Norm gelten könnten – und in Gestalt des Mediums schon selbst wie Schnittmuster der Natur aussahen. Fast zur selben Zeit entwarf aber damals in Frankreich ein Mathematiker namens Adolphe Quetelét eine ganz andere Normidee, nicht ästhetisch, sondern mathematisch-statistisch. „L’ homme moyen“ oder auch der „normale“ Mensch hieß das Zauberwort seiner Berechnungen, die ihrerseits eine neue Anthropologie entwarfen. Körperliche und soziale Phänomene wie Geburt, Tod, Fruchtbarkeit, Alter, Körpergröße, Mut oder Verbrechen konnten in Kurven der Normalverteilung schematisch dargestellt und linear visualisiert werden. Erst die empirische Wendung samt statistischer Erfassung machte es der Bekleidungsindustrie möglich, so etwas wie eine Größennorm für Konfektionsware einzurichten. Auf diese Pointe läuft das Buch hinaus. Aber es bringt eben auch eine grundlegende Bruchstelle der Ideengeschichte zum Vorschein. Im selben 19. Jahrhundert, da im Vorzeichen Darwins die Biene und andere Tiere als unsterbliche Gattungswesen immer blutvolleres individuelles Profil gewinnen (etwa auch in Brehms Tierleben), wird der Mensch dem Regime der Zahl unterworfen, mithin einer quantifizierenden Anthropologie. Zwischen Körper und Zahl schiebt sich hier nun das Kleid nicht von ungefähr. Auch die Konfektionsware erzeugt ja Typen, wenn auch im numerischen Gewand der Größe.

Hingebungsvoll beschreibt die Autorin das Maßsystem der sogenannten „Sterngrößen“, die seit Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts schließlich diese Typen als Skala der weiblichen Konfektionsnormen verkörpern, sei es als Puppe, sei es in der Maßzahl oder im Schnittmuster. Sterne gab es in fünf Farben, blau, gelb, weiß, rot, grün, für fünf Größen 38, 40, 42, 44, 46, und so weiter. Am wichtigsten, weil eben „normal“, war der „Gelbstern“ oder auch „Madame Gelbstern“. 1913 erschien unter dem Titel „Gelbstern. Hinter den Kulissen der Konfektion“ sogar eine narrative Version des Zahlenwerks. Hat hier womöglich die goldfarbene Bienenkönigin inspiriert? Jeder Leser von heute muss bei dem Thema natürlich an das weltweit, auch im Buchhandel, geltende Sternesystem der Werbeindustrie denken. Aber der zeithistorisch interessierte Leser wird bei der prominenten Rolle eines „gelben Sterns“ in der doch weitgehend jüdischen Modebranche zusammenzucken. Dies umso mehr, als die nun auftauchenden Geschichten der verschiedenfarbigen „Probiermamsells“ in ihr Gegenteil umschlagen, und statt von der Norm von Prostitution, Krankheit und Verbrechen erzählt wird. Hier setzt sich womöglich eine französische Literaturgattung durch, die um 1830 gleichsam als Kompensation des „l’homme normale“ auftaucht, die berühmt gewordenen „physiologies“, Sittenschilderungen aus Paris, erfunden von Balzac, Brüder und Schwestern der Karikatur.

Titelbild

Daniela Döring: Zeugende Zahlen. Mittelmaß und Durchschnittstypen in Proportion, Statistik und Konfektion des 19. Jahrhunderts.
Kulturverlag Kadmos, Berlin 2010.
240 Seiten, 26,80 EUR.
ISBN-13: 9783865991294

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Ralph Dutli: Das Lied vom Honig. Eine Kulturgeschichte der Biene.
Wallstein Verlag, Göttingen 2012.
208 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783835309722

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch