Glücklich, das sind immer die anderen

Von der romantischen Lüge in die Hölle der Eitelkeit: René Girards Studie „Figuren des Begehrens“ über Cervantes, Stendhal, Flaubert, Proust und Dostojewskij

Von Laslo ScholtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laslo Scholtze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Figuren des Begehrens“, unter dem Titel „Mesonge romantique et vérité romanesque“ 1961 erschienen, gilt als René Girards erstes Hauptwerk. Fast 50 Jahre dauerte es, bis es ins Deutsche übersetzt wurde, dieses Jahr erschien im LIT Verlag die zweite Auflage. Girard untersucht darin die großen Romane von Miguel de Cervantes, Stendhal, Gustave Flaubert, Marcel Proust und Fjodor Dostojewskij. Dabei macht er eine Entdeckung, die sein gesamtes Lebenswerk prägen wird: das mimetische Begehren. Unfähig, aus sich selbst heraus zu begehren, richten sich die Romanhelden an einem Vorbild aus, das in ihren Augen hohes Prestige genießt und dessen Begehren sie nachahmen, indem sie typischerweise den Status oder die erotischen Objekte des Idols heftig zu begehren beginnen.

Dies bringt sie in ein hoch ambivalentes Verhältnis zu diesem „Vermittler“, den sie einerseits bewundern, dessen Platz sie andererseits einnehmen wollen. Das Idol wird so zum Rivalen. Umso näher sich Subjekt und Vermittler dabei sind und umso greifbarer damit die Möglichkeit, tatsächlich den Platz des Rivalen einzunehmen, desto intensiver wird das eifersüchtige Verlangen und desto verheerender die Verstrickung der Seele.

Girard unterscheidet hier zwei Grade des Nachahmungsverhältnisses: In der „externen Vermittlung“ ist die Nachahmung bewusst, zugleich befinden sich Subjekt und Idol nicht im selben „Möglichkeitsraum“. Don Quijote und Emma Bovary fällt es nicht schwer, ihr Begehren einzugestehen. Don Quijote deklariert Amadis ganz offen zum Ziel seiner rittlerlichen Imitatio. Amadis ist für ihn ebenso entrückt wie für Emma Bovary die Welt ihrer Liebesromane.

Dagegen ist die „interne Vermittlung“ durch die Überschneidung der Lebenswelten von Subjekt und Idol gekennzeichnet. Sie sind sich, zumindest in der Wahrnehmung des Subjekts, so nahe, dass die Rivalität eine neue, gewissermaßen reale Dimension erhält: Prinzipiell könnte der Rivale tatsächlich besiegt werden. Die Konkurrenz geht eine enge Verbindung mit der „romantischen Lüge“ ein: Der Romanheld glaubt sich autonom, schwelgt im hochmütigen Bewusstsein seiner Individualität und verschleiert so die quälende Abhängigkeit vom Idol. „Der romantische Eitle redet sich selbst ein, er sei durch und durch original. […] Der romantische Überdruß, der Haß auf die Gesellschaft, der Sehnsucht nach der Wüste, aber auch der Herdentrieb übertünchen meist lediglich eine krankhafte Beschäftigung mit dem Anderen.“

Stendhals, Prousts und Dostojewskijs Romanfiguren erkennt Girard als Opfer dieses „Begehrens gemäß dem Anderen“: Verstrickt, besessen, gedemütigt, leer und verzweifelt kennen sie die wahre Ursache ihres Unglücks nicht. Anders jedoch die Autoren selbst: Sie sind sich des dämonischen Mechanismus bewusst, was sie, so Girad, erst zu echten „Romanciers“ und ihre Werke zu Trägern der vérité romanesque macht. Daher können sie ihren Helden auch zum Schluss Einsicht und Erlösung schenken und sie so aus dem Höllenkreis von „Neid, Eifersucht und ohnmächtigem Haß“ befreien. Sie erleben eine „Bekehrung“ und entsagen in „schöpferischem Verzicht“ schließlich ihrem Hochmut: „Don Quijote, Julien Sorel und Raskolnikow machen dieselbe geistige Erfahrung wie Marcel in der Wiedergefundenen Zeit“.

Girards These ist radikal und in ihrem universellen Gestus eine fast schon provokative Herausforderung: Dasselbe Grundmuster, dieselbe psychologische Dynamik des „metaphysischen Begehrens“ bei allen untersuchten Romanciers. Wenn Axel Honneth unlängst in seiner umfangreichen Studie „Das Recht der Freiheit“ feststellt, gerade die Kunst spiegele die Pathologien und Deformationen eines Zeitalters wider, so zielen Girards Romananalysen auf eine ewige Wahrheit hinter den pathologischen Ausprägungen der historischen Epochen. Denn umso weiter Girard seinen Befund exploriert und auf weitere Bereiche des Menschseins ausdehnt, desto fundamentaler erscheint ihm die mimetische Rivalität als Agens menschlicher Beziehungen und Gesellschaften.

Mit Tocqueville geht Girard von einer unaufhebbaren religiösen Natur des Menschen aus, die nicht mit zunehmender Demokratisierung verschwindet. Im Gegenteil, erst unter der Bedingung der Gleichheit zeigt sie ihr bedrohliches Negativpotential. In seinem Hauptwerk „Über die Demokratie in Amerika“ beschreibt Tocqueville bereits prägnant diese Dynamik, wobei er im Gegensatz zu Girard auf fundamental-anthropologische Annahmen verzichtet: „Dieselbe Gleichheit, die jedem Bürger weitgespannte Hoffnungen erlaubt [nämlich aus eigener Kraft beliebig weit aufsteigen zu können], macht sämtliche Bürger als einzelne schwach. Sie schränkt ihre Kräfte von allen Seiten ein, derweil sie gleichzeitig die Erweiterung ihres Begehrens zulässt […] Sie haben die störenden Vorrechte einiger Mitmenschen abgeschafft; sie begegnen dem Wettstreit aller.“

An diese Analyse Tocquevilles anschließend betont Girard, dass besonders moderne, egalitäre Gesellschaften, in denen prinzipiell jeder mit jedem in Konkurrenz treten kann, für mimetische Neid-, Eifersuchtsverhältnisse prädestiniert seien. „Stendhals Eitelkeit, Prousts Snobismus und Dostojewskijs Untergrund sind die neuen Formen, die der Kampf der Subjekte in einer Welt physischer und – bei Bedarf – wirtschaftlicher Gewaltlosigkeit annimmt.“ Jeder ist nun seines Nächsten Idol und Götze.

Doch in einer Zeit, die Individualität, Originalität und Autonomie als höchste symbolische Prestigegüter schätzt, werde gleichzeitig nichts inbrünstiger geleugnet als eben jene Tatsache des nachahmenden Begehren: „Nur Possenschreiber und geniale Romanciers beschäftigen sich mit dem Dreieck des Begehrens.“

René Girard, heute fast 90 Jahre alt und als Emeritus noch immer an der Stanford University tätig, verfolgte das Thema des mimetischen Begehren sein ganzes wissenschaftliches Leben lang mit großer Konsequenz und Beharrlichkeit. Entscheidend erweiterte er seine Theorie durch den „Sündenbockmechanismus“, mit dem Girard nicht weniger als die Entstehung und Entwicklung menschlicher Kultur und Religion zu erhellen beansprucht. Wer Girards Denken in dessen ganzer Reichweite begegnen will, wird daher zu seinen wichtigsten Werken „Das Heilige und die Gewalt“ (1972) und „Das Ende der Gewalt – Analyse des Menscheitsverhängnisses“ (1978) greifen. Als Einstieg in Girards mimetische Theorie eignet sich sowohl die Aufsatzsammlung „Die verkannte Stimme des Realen“ als auch seine selbstverfasste Einführungsschrift „Religion und Gewalt“. Zudem ist eine sehr systematische und gründliche, kritische Aspekte jedoch nur am Rande aufgreifende Einführung in Girards Theorie verfügbar.

Sein Erstlingswerk „Figuren des Begehrens“ ist dagegen wohl vor allem für Girard-Kenner von Interesse sowie für jene, die – in literaturwissenschaftlicher Perspektive – die Produktivität seiner mimetischen Theorie mit Blick auf die großen europäischen Romane überprüfen wollen.

Kein Bild

René Girard: Figuren des Begehrens.
LIT Verlag, Münster 1999.
338 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 382583655X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch