Europa, nicht die Welt

Über Silvio Viettas „Weltgeschichte“ der Rationalität

Von Stefan DiebitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Diebitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In sieben Kapiteln schildert Silvio Vietta, Germanist und renommierter Kulturhistoriker, die Geschichte der europäischen Rationalität und ihrer Eroberung der Welt. Dabei kommt die Kulturgeschichte in ihrer ganzen Breite zur Darstellung: Aspekte der Militärstrategie, der Ökonomie oder des Alltagslebens werden ebenso vorgestellt wie die Entwicklung der Wissenschaft oder der Kunst. Das Ergebnis ist ein höchst spannend zu lesendes, einerseits vielschichtig argumentierendes, andererseits sehr konzentriertes Buch.

Der Eingang beschäftigt sich mit der „Erfindung der Rationalität“, womit der Beginn der von Vietta so genannten „Philosophie-Wissenschaft“ in der griechischen Antike gemeint ist, und dann werden in fünf Kapiteln Zahl, Raum, Zeit, Expansion und Geld im Zusammenhang mit der Rationalität behandelt. Das letzte Kapitel, das auf das Verhältnis von Rationalität und Ästhetik eingeht, bringt einige Aspekte zur Sprache, die Vietta zuvor in Büchern über Johann Gottfried Herder oder die Romantik behandelt hat. Zu Beginn eines jeden Kapitels behandelt der Autor überblicksartig die philosophischen, theologischen, ästhetischen und sozial-ökonomischen Aspekte („Systematik“), bevor er im weitaus längeren Hauptteil des Kapitels tatsächlich erzählt („Historik“). Das tut er zumindest gelegentlich so fesselnd, dass man das Buch kaum aus der Hand legen mag.

Das gilt etwa für das Kapitel über „Rationalität und Raum“, in dem Vietta die Architektur und Städteplanung aus drei Jahrtausenden Revue passieren lässt. Die Erfindung der Geometrie, die Grundrisse griechischer Pflanzstädte, die Parzellierung des Raums im Imperium Romanum, der mathematisch kalkulierte Innenraum von Basilika und Kathedrale: alles stellt der Autor in Überblicken vor, bis er zu den Idealstädten der italienischen Renaissance übergeht, die cartesische Geometrie bespricht und endlich die Stein gewordenen Alpträume eines Le Corbusier vorstellt.

Im Kapitel über „Rationalität und Zahl“ vermisst man Überlegungen zur Differential- und Infinitesimalrechnung, die nicht allein wissenschaftsgeschichtlich ungeheuer wichtig sind (ohne sie sind die Berechnungen der modernen Physik ebenso undenkbar wie die Modelle der Volkswirtschaftslehre), sondern die auch die Tiefenstrukturen unseres Denkens nachhaltig veränderten, nachdem sie anfangs des 19. Jahrhunderts allmählich in das Bewusstsein der Gebildeten eindrangen. Vietta versäumt es hier, die Bedeutung von Operationen mit unendlich kleinen Elementen auf das Alltagsdenken, auf das Geschichtsverständnis und das Verhältnis zur Natur darzustellen. Erst dank der Infinitesimalrechnung konnten sich weltanschauliche Konzeptionen wie der Darwinismus durchsetzen, welche überall den fließenden Übergang sehen. Vietta selbst schickt im Eingangskapitel voraus, dass er ganz in diesem Sinne seine Geschichte der Rationalität als „Kontinuitätsgeschichte“ schreiben will, ist dann aber doch offen genug, die tatsächlich vorhandenen Brüche – als den wohl schroffsten und abgründigsten den von ihm selbst so genannten „großen Kulturbruch“ zwischen dem Zerfall des römischen Reiches und dem frühen Mittelalter – zuzugeben.

Im Grunde beschreibt Vietta die Seele Europas, wie sie sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts darstellt, und zwar mit allen ihren Stärken und Schwächen. Diese Darstellung ist extrem einseitig, weil eine andere als eine europäische Rationalität bestenfalls gelegentlich am Rande berührt, aber an keiner Stelle tatsächlich beschrieben und auf den Begriff gebracht wird. So werden in dem Kapitel über „Rationalität und Zeit“ die verschiedenen Methoden, die Zeit zu messen, nicht allein historisch, sondern auch sozial und ökonomisch verortet, also in einen Zusammenhang gestellt mit dem Leben in einem Kloster, der Organisation der Wirtschaft oder der Erziehung der Kinder, wodurch sich die überraschendsten Einblicke ergeben. An einer Stelle findet sich als Hinweis auf eine Parallelentwicklung in einer exotischen Kultur auch die Zeichung eines chinesischen Uhrenturms aus dem Mittelalter, aber über Zeitmessung in China oder in irgendeinem anderen Land außerhalb Europas verliert der Autor im folgenden kein Wort. Kannten und kennen Araber, die großen asiatischen Kulturen oder die Nationen Afrikas und Südamerikas keine Zeitmessung, keinen Kalender, keine Apokalyptik? Gab es niemals und gibt es heute keine andere als eine rationale, sprich technische Zeitmessung? Wie kann der Autor von einer Weltgeschichte sprechen, wenn er die Länder außerhalb Europas nicht einmal beiläufig erwähnt?

Die Antwort findet sich in dem Kapitel über „Rationalität und Expansion“, in dem Vietta die allmähliche Eroberung der Welt durch die europäische Rationalität, also den Imperialismus, beschreibt. Zu den Wesensmerkmalen der Rationalität gehört der Drang zur Vereinheitlichung, so dass der Autor sie „eine universale Einheitsmacht des Denkens“ nennen kann, in der „ein ausgreifendes Eroberermotiv und ein Weltmachtsanspruch“ stecken. Hier endlich ergibt es Sinn, von einer „Weltgeschichte“ zu sprechen, aber es ist und bleibt eine extrem eurozentrische Weltgeschichte, in der eine andere Perspektive nicht nur nicht ins Auge gefasst und dargestellt wird, sondern eigentlich nicht einmal als Möglichkeit vorkommt. Für Vietta gibt es keine andere als eine europäische Ratio, so dass Titel und Untertitel des Buches, die sonst einen Widerspruch ergäben, tatsächlich harmonieren.

Vietta ist Germanist und Kulturhistoriker, und eben hier liegen auch seine Kompetenzen, die besonders im letzten Kapitel deutlich werden, etwa wenn er die Konzeptionen eines Johann Gottfried Herder vorstellt. Davor aber, in dem Kapitel über Rationalität und Geld, sinkt das Niveau der Argumentation. Und parallel dazu, interessanterweise, auch das sprachliche – der sonst sehr genau und klar formulierende Vietta hat sich selbst einige misslungene Sätze durchgehen lassen, und es hat dem Buch zweifellos nicht gut getan, dass er sogar noch die letzten drei, vier Jahre anspricht und also auch die große, keineswegs schon ganz verstandene Finanzkrise seit 2008 mehrfach erwähnt. Diese allzugroße zeitliche Nähe hat ein wirkliches Durchdenken des Stoffes noch gar nicht erlaubt, was sich unter anderem in Viettas ziemlich wahlloser Zitation offenbart. So wird etwa Milton Friedman als große Autorität angesprochen, obwohl dessen ökonomischer Entwurf wesentlich zur gegenwärtigen Krise beigetragen hat.

In der Einleitung wird auch Kritik an der Rationalität vorgestellt, aber nur einer dieser kritischen Standpunkte spielt auch im späteren Verlauf des Buches eine Rolle, und das ist die Position, die Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ eingenommen haben. Immer wieder, wenn er auf den Holocaust oder auf Gewaltexzesse der Europäer in Amerika und Afrika zu sprechen kommt, spricht Vietta Momente an, welche die beiden Philosophen zu ihrem Buch motivierten. Vielleicht hätte er ebenso ernsthaft auf den „Geist als Widersacher der Seele“ von Ludwig Klages eingehen sollen, wozu es in fast jedem Kapitel Gelegenheit gegeben hätte. Klages’ Kritik an der Rationalität mag oft überzogen sein, aber sie ist so grundsätzlich formuliert und besitzt ein derart breites Fundament, dass auf sie im weiteren Verlauf des Buches immer wieder hätte zurückgegriffen werden können, insbesondere in den Kapiteln über Raum und Zeit. Stattdessen stellt Vietta die „Seinsvergessenheit“ vor, unterzieht aber die Deutung des „Seinsgeschicks“ durch Heidegger, wie sie in der Parmenides-Vorlesung vorgetragen wurde, einer derart vernichtenden Kritik, dass man sich fragen muss, warum er der Stimme dieses Philosophen überhaupt Raum gegeben hat.

Silvio Viettas Buch über die Geschichte der europäischen Rationalität ist in ihrer Universalität und Klarheit gleichermaßen beeindruckend. Zusätzlich ist es (nicht zuletzt langer Literaturlisten) ein extrem anregendes, dank einer schönen ruhigen Sprache gut lesbares Werk

Titelbild

Silvio Vietta: Rationalität. Eine Weltgeschichte.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2012.
412 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783770553310

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch