„Jogi“ Löw, der Balljunge und die Entlarvung der Medienwirklichkeit

Wie viel bekommen wir mit, von dem, was wirklich gespielt wird?

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Der Scherz mit dem Balljungen

Es war während des EM-Vorrundenspiels Deutschland gegen die Niederlande am 13. Juni 2012. Mehr als 27 Millionen ZDF-Zuschauer verfolgten das Spiel vor den Fernsehgeräten in Deutschland.

Obwohl es schon die 21. Minute ist, steht es immer noch 0:0. Überaus entspannt sitzt der Trainer der deutschen Nationalmannschaft, Joachim Löw – den alle Welt „Jogi“ zu nennen beliebt – auf der Trainerbank, kaut Kaugummi, steht auf, ordnet seine Haare, schlendert gemächlich von hinten auf den ukrainischen Balljungen zu, der vor ihm steht. „Jogi“ Löw hat den Ball, den der Junge konzentriert unter dem Arm hält, fest im Blick und stupst diesen nach vorne, der Ball kullert weg. Der Junge sieht den neben ihm stehenden Mann verdutzt von der Seite an, der Deutsche schmunzelt und klopft ihm auf die Schulter. Der Bub erkennt den Scherz und lächelt auch, „Jogi“ Löw läuft locker nach vorne, kickt den Ball mit dem Fuß gekonnt nach hinten, der Junge hebt ihn auf und klemmt ihn sich wieder unter den Arm, der Bundestrainer schlendert zurück zu seinem Platz, die Zeituhr im Fernsehbild der Live-Übertragung läuft weiter.

Erstaunlich, wie entspannt und humorvoll die modernen Deutschen doch geworden sind! Noch dazu im Spiel gegen die Niederlande, das traditionell mit überaus dramatisch aufgeladenen Emotionen und Erinnerungen verknüpft ist. Noch am gleichen Abend befragt der ZDF-Moderator Michael Steinbrecher den Bundestrainer zu der Szene, der – mit einem breiten Grinsen im Gesicht – betont, „Das war irgendwie vor dem Spiel“. Steinbrecher hält dagegen: „Nee, nee, da stand’s 0:0.“

Der Fernsehprofi irrte: Es handelte sich um die Einspielung einer Aufzeichnung in das laufende Spiel, der Bundestrainer war in der 21. Minute gar nicht so cool, wie es die „Live“-Übertragung vorgaukelte. Der Scherz „Jogi“ Löws mit dem Balljungen fand etwa 20 Minuten vor dem Spiel statt, während die deutschen Spieler sich noch aufwärmten. Die Aufzeichnung der Szene durch den schwedischen TV-Sender svt1 zeigt den tatsächlichen Ablauf, wer eine Langfassung davon sehen will, kann sie sogar in Zeitlupe haben

Der europäische Fußballverband UEFA protestierte, die übertragenden deutschen Sender ARD und ZDF führten ein ernstes Gespräch mit der UEFA, die Verlautbarung hieß: „Klarheit für den Zuschauer muss an oberster Stelle stehen“, die Produktionsfirma aus Warschau gelobte, so etwas nie wieder zu machen. Eine „Verwirrung“ der Zuschauer soll es künftig nicht mehr geben, Aufzeichnungen sollen eindeutig kenntlich gemacht werden.

Warum verzeichnet „Youtube“ knapp 300 Versionen von diesem Filmchen, und „Google“ über 1,3 Millionen Treffer zum Thema „Jogi Löw und der Balljunge“? Weil vielleicht erst dadurch bei vielen TV-Konsumenten die Frage aufgetaucht ist: Was ist überhaupt „live“, was nicht? Wie manipuliert sind die Bilder, die uns von der „Wirklichkeit“ gezeigt werden? Was wird ausgeblendet, was eingeblendet? Staatstragend tönte der WDR-Chefredakteur Fernsehen, Jörg Schönenborn, dass jede Form von Zensur oder Manipulation nicht tragbar seien: „Gerade deshalb haben wir gegenüber der UEFA sehr deutlich gemacht, dass das deutsche Publikum erwartet, dass live drin ist, wenn live drauf steht. Live ist live und muss live bleiben.“ Schön gesagt, Herr Chefredakteur, und noch dazu so eloquent!

Jedoch, die Zuschauer sind alarmiert: Viele Blog-Einträge belegen die gewachsene, wenn nicht bei vielen überhaupt erst entstandene Skepsis. Fragen werden gestellt, wie „Wer weiß, was da noch alles rein- und rausgeschnitten wird, was wir gar nicht bemerken und selbstverständlich für real halten. Man darf ahnen, dass man im TV nicht immer sehen kann, was es im Stadion zu sehen gibt.“ Besonders apart fand ich die Tatsache, dass gerade die BILD-Zeitung sich heftig echauffierte: „Diese Spiel-Szene war TV-Schummelei“. Ausgerechnet.

Das Apollo-Komplott und die Truman Show

Die meisten von uns halten sich gewiss für gewiefte, medienkritische Zuschauer und Leser. Zur Ergänzung und Korrektur der TV-Meldungen und ihrer gepixelten Weltsicht lesen wir darum anspruchsvolle Zeitungen und surfen und recherchieren im Internet. Und dann lesen wir sogar noch Bücher. Wir haben klare Vorstellungen davon, was einzelne Redakteure und Korrespondenten so schreiben und warum sie so berichten, wie sie das tun. Vom Leitartikel eines der Herausgeber der „F.A.Z.“, Berthold Kohler, weiß ich, was ich zu erwarten habe, und von Andreas Platthaus auch. Die morgendliche Abstimmung mit der Welt trifft auf einen Leser, der seine Vorgaben – vulgo: Vor-Urteile – hat und diese täglich auf ihre Stimmigkeit überprüft. Uns macht man so schnell nichts vor, nicht wahr?

Das kleine Balljungen-Intermezzo ließ sicher nicht nur mich an die seit Jahrzehnten laufende Debatte denken, die sich um die Mondlandungen in den Jahren 1969 bis 1972 ranken. Wer sich das Vergnügen macht, eine ausgezeichnete Darstellung – aufgenommen in die Liste der „exzellenten Artikel“ bei „Wikipedia“ – unter der Überschrift „Verschwörungstheorien zur Mondlandung“ gründlich zu lesen, wird viel lernen können: Gut gegliedert wird man informiert über Geschichte und Hintergrund, Motive, Argumente und Gegenargumente.

Haben die Landungen nun stattgefunden oder nicht? Sind wir alle von der NASA und der US-amerikanischen Regierung getäuscht worden oder spazierten Neil A. Armstrong und Edwin Aldrin tatsächlich am 20. Juli 1969 auf dem Mond, hüpften umher und hissten die US-amerikanische Flagge? Wurde das Ganze nicht vielleicht doch in einem geheimen Filmstudio produziert? Es war ja keineswegs nur der Autor Bill Kaysing, der mit seinem Buch „We Never Went to the Moon: America’s Thirty Billion Dollar Swindle“ von 1976 die ganze Story in Frage stellte. Wer den ganzen Artikel liest – und sich noch dazu die angegebene Literatur erarbeiten möchte – wird zu dem Ergebnis kommen müssen, dass die Mondlandungen echt waren und die Verschwörungstheorien der Schwindel sind.

Bis heute am eindrucksvollsten hat die ganze Problematik des Verhältnisses von Wirklichkeit und ihren Bildern ein Spielfilm von Peter Weir aus dem Jahr 1998 behandelt. In der „Truman Show“ veranstaltet der skrupellose Fernsehproduzent Christof eine Fernsehserie, indem er einen Jungen namens Truman Burbank zuerst von seiner Firma adoptieren lässt und diesen dann in der eigens zu diesem Zweck erbauten von Wasser umgebenen Küstenstadt Seahaven unter einer riesigen Kuppel – dem „OmniCam-Ecosphere“ – aufwachsen und leben lässt. Dieses „Leben“ des Versicherungsangestellten Burbank wird – ohne dessen Wissen – von Geburt an von über 5.000 Kameras festgehalten und 24 Stunden täglich live im Fernsehen übertragen. Alle Menschen, die Truman Burbank kennenlernt und die mit ihm zu tun haben, angefangen bei seinen Eltern, seine Freunde, seine Geliebten und seine Frau, seine Kollegen, sind Schauspieler, die nach einem von Christof geschriebenen Drehbuch mit ihm agieren müssen. Erst nach 29 Jahren wird Truman durch einen reinen technischen Zufall misstrauisch und der Film schildert seine mühsame und gefährliche Flucht aus der Kunstwelt in die wirkliche Welt.

Jedem, der bei „Jogi“ Löws Scherzen noch lachen konnte, sei dieser Film ans Herz gelegt: Es könnte sein, dass ihm das Lachen vergeht. Und er sich die Frage stellt, wie viel wir eigentlich von dem mitbekommen, was „wirklich“ gespielt wird. Wenn in der „Tagesschau“ wieder die Herren und Damen Politiker, Wirtschaftslenker und Kulturschaffenden gezeigt werden und wir ihren „sound bites“ zuhören. Manchmal kann man sich dabei vorkommen wie Truman Burbank in Seahaven. Bis so ein kleines Malheur mit „Jogi“ Löw und dem Balljungen geschieht und vielen die Augen geöffnet werden und sie Fragen stellen.

Ein Zitat aus den Diskussionen um den „Mondlandungs-Schwindel“ kann für uns Universitäts-Wissenschaftler von ganz besonderem Wert sein. Der Freund und Mitarbeiter von Wernher von Braun, Ernst Stuhlinger, soll mit Blick auf die Verbreiter und Anhänger der Verschwörungstheorie den allgemeinen Mangel an wissenschaftlicher Bildung als ein mögliches soziales Motiv hingewiesen haben: „The way to belief is short and easy, the way to knowledge is long and hard.“ Gerade der Mangel an anspruchsvollem Wissen um die besonderen Gegebenheiten im Weltraum und in der Raumfahrt übersteige das Niveau schon einer durchschnittlichen Schulausbildung, sei dafür umso mehr die Grundlage für die Popularität der simplen Verschwörungstheorien.

So ist es also vor allem unsere Aufgabe als Geistes-, Kultur- und Sozial-Wissenschaftler dabei mitzuwirken, ein gesundes und wohlinformiertes Misstrauen gegenüber jenen „Realitäten“ zu erzeugen, die uns die Medien zu zeigen versuchen. Dafür, dass das vielleicht auch außerhalb von Hörsaal und Seminarraum stattfindet, sei „Jogi“ Löw und dem Balljungen gedankt.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zu Dirk Kaeslers monatlich erscheinenden “Abstimmungen mit der Welt