Der Weltgeist aus der Provinz

Gunnar Decker vertieft sich in die Biographie Hermann Hesses

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In dem Roman „Imperium“ von Christian Kracht gibt es den Cameo-Auftritt eines „schwäbischen Schriftstellers“ auf einer Parkbank in Florenz, hager, eine stählerne Brille tragend, mit nusstonfarbigem Gesicht. Kein Zweifel, das ist das klassische Bild von Hermann Hesse (1877-1962). Gunnar Deckers Biografie zeigt auf dem Cover einen aufrechten Wanderer mit Anzug und Hut. Dies ist, was man in Volker Michels prächtigem Bildband (1979/2000) leicht nachprüfen kann, ein Ausschnitt aus einem Foto, das 1911 auf dem schiefen Turm von Pisa gemacht wurde. Ob es am dunklen Hintergrund oder am hohen Sonnenstand liegt: Dieser Wanderer hat keinen Schatten. Den muss ihm der Biograph geben. Gunnar Decker, der bereits ein lobenswertes Buch über Gottfried Benn geschrieben hat (und weitere über Franz Fühmann und Georg Heym), nimmt sich dieser Aufgabe mit Leidenschaft und Detailfreude an, fast 700 Seiten umfasst seine Biografie.

Sie gibt dem Leser viele Bilder von Hesse, die so widersprüchlich sind wie die Wirkung, die er auf jede Generation ausstrahlt. War er ein „Großschriftsteller ohne schriftstellerische Größe“ (Erich Mühsam) oder ein „politischer Visionär jenseits der Tagespolitik“ (Robert Jungk)? Hesse passt in keine Schublade der klassischen Moderne. Den Heimatdichtern und Lebensreformern kam er zu tragisch vor, den Großstadtdichtern zu komisch, den Naturalisten war er zu jung, den Expressionisten wiederum zu alt. Die Pazifisten waren entrüstet, weil er zunächst den Sieg Deutschlands im Ersten Weltkrieg wollte, während die Nationalisten darüber wütend waren, dass er sich weigerte, den Feind gleich mitzuhassen.

Decker beantwortet diese Fragen, indem er grundverschiedene Antworten zulässt. So mobil Hesse war, heute würde man „globalisiert“ sagen, so viele Schatten warf er. Er war Pyromane (als Kind zog er sich so eine lebenslange Augenverletzung zu) und Glasperlenspieler. Er arbeitete als schweizverliebter Gärtner und reiste als fideler Morgenlandfahrer nach Indien (mit dem Schatten des Kolonialismus). Er schätzt mit Friedrich Nietzsche den Müßiggänger, huldigt aber im Geiste seiner Eltern, eines Missionarspaars, einem pietistischen Arbeitsideal. Hesse: der verspätete Romantiker und der moderne „Autor der Krise“, der Missionar und der Steppenwolf – Gunnar Decker gibt diesen Widersprüchen viel Raum.

Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Kapitel über die „Abgründe der Kinderseele“ (Selbstmordankündigung, Irrenanstalt), über die neuromantischen Dichteranfänge, den ersten Bestseller „Peter Camenzind“ (1904), der eine Grundfigur der späteren Werke entwirft: den belesenen Bauernsohn, der unter die Räder des Literaturbetriebs gerät. Auch die Beziehungen zu seinen drei Frauen und zu den Verlegern werden eingehend gewürdigt. Demgegenüber fallen die Jahre im „Schatten Nazi-Deutschlands“ biografisch nur kurz aus. Wo bleibt der Vergleich von Hesses Versuchen, in der NS-Zeit „politisch neutral zu bleiben und geistig wegweisend zu werden“, mit der ,Inneren Emigration‘? Die stoischen Jahre in seiner Schweizer Eremitage nach der Verleihung des Nobelpreises 1946, der er persönlich fernblieb, werden auf den letzten 50 Seiten geschildert.

Deckers Biografie stellt den Lyriker, den Leser (von Dostojewski und Nietzsche), auch den Maler Hesse heraus. Einen homme de lettres, der es auf ein schon zu Lebzeiten in 34 Sprachen übersetztes Gesamtwerk von 15.000 Seiten und auf mehr als 44.000 Briefe bringt. Ein Gedicht trägt den Titel „Ein Dichter sein –“: „Ein Dichter sein, das heißt, mit kranker Brust / In jedem Glück, in jeder kleinsten Lust / Den eig’nen Idealen zu entsagen, / Die Schönheit lieben und sie leiden seh’n, / Und schwer am Zwiespalt seines Lebens tragen“.

Mag der Leser auch an Deckers dickleibiger Hesse-Biografie schwer tragen, so wird sie ihm doch die Lektüre der Bücher dieses „Weltbürgers aus der Provinz“ aufs neue leicht und schmackhaft machen. Deckers Buch verhindert, dass der schwäbische (eigentlich: alemannische) Schriftsteller, den Kracht in einer Trattoria bei Valpolicella und Landschinken mit dem Manuskript „Gertrud“ (der Künstlerroman erschien 1910) verschwinden lässt, in den Schatten der Geschichte tritt.

Titelbild

Gunnar Decker: Hermann Hesse. Der Wanderer und sein Schatten. Biographie.
Carl Hanser Verlag, München 2012.
700 Seiten, 27,90 EUR.
ISBN-13: 9783446238794

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