Trübsal für die Augen, Feuer für den Kopf

Literaturen, das Journal für Bücher und Themen stellt sich vor

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Angenehm fällt auf bei diesem ersten Heft von "Literaturen", der neuen Zeitschrift aus dem Berliner Friedrich Verlag, dass es sehr viel Text bietet. Die Konzeption ist unter der Federführung von Sigrid Löffler entstanden, ihr zur Seite stehen als verantwortliche Redakteure Hanna Leitgeb und Jan Bürger. "Literaturen", so das Editorial, "ist die Zeitschrift für Leser. Sie antwortet auf ein Bedürfnis nach Orientierung, nach Navigation, nach Thematisierung. [...] In der Unübersichtlichkeit der Veröffentlichungen entdeckt 'Das Journal für Bücher und Themen' geheime Trends und versteckte Schwerpunkte."

Den Auftakt macht ein Portrait Michael Ondaatjes (Sigrid Löffler), aus Anlass von "Anils Geist" entstanden, seines jüngsten Romanes. Der Artikel entdeckt weder einen geheimen Trend noch ist er recht eigentlich ein Eye-opener, doch ist er Auftakt einer längeren Strecke von knapp 20 Seiten, auf der ein Brückenschlag zwischen "Abendland und Morgenland" versucht wird. An erster Stelle Ondaatje, dessen Familie aus Ceylon stammt und der in Kanada lebt; gefolgt von Edward Said, dem palästinensisch-amerikanischen Literaturwissenschaftler, dessen Autobiographie von Hanna Leitgeb vorgestellt wird; gefolgt von einem Essay über "Die Erfindung des Ostens", illustriert am Beispiel Berlins. Homi K. Bhabha, ein gebürtiger Inder und Professor für Anglistik an der Universität Chicago, plädiert, darin ein kundiger Leser E. T. A. Hoffmanns und Walter Benjamins, für eine "physiognomische" Ästhetik der Stadt, in der Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen zur Sprache kommen. Illustriert wird sein Text durch Werbetafeln ("Sindbad Bäckerei") aus dem Stadtbild und trompe l'œil-Malereien auf der Berliner Mauer. Ein zweiter Schwerpunkt gilt Polen, dem diesjährigen Gastgeberland auf der Frankfurter Buchmesse. Sybille Wirsings Rezension von Andrzej Szczypiorskis Roman "Feuerspiele" ist zugleich ein Nachruf auf diesen bedeutenden Vermittler zwischen Deutschen und Polen.

Der ästhetische Auftritt der Zeitschrift ist etwas zwiespältig. Ein Grauschleier liegt über den leicht gestrichenen Seiten, die Fotos erscheinen zum großen Teil im Zeitungsraster und ,versuppen'. Dies wird augenfällig etwa in Manfred Schneiders Beitrag über Hitlers Gesicht ("Das deutsche Antlitz") oder beim Spaziergang durch Daniel Pennacs Belleville. Dass es auch besser geht, zeigen einige gestochen scharfe Aufnahmen, die dem Verlag offenbar als Cliché geliefert worden sind und wo die teigigen Ränder der historischen Aufnahmen durch einen schönen Rahmen begrenzt werden (S. 17).

Trübsal für die Augen also, Feuer für den Kopf?

Durs Grünbein, der erste unter unseren jungen Lyrikern, stellt sich mit drei Gedichten vor, Hans Ulrich-Treichel, zur Zeit unser vorzüglichster Vertreter deutscher Prosa, rezensiert Michael Kumpfmüllers Roman "Hampels Fluchten"; der richtige Rezensent für das richtige Buch. Hingegen kann es (aus der Sicht des Buches) nicht gut gehen, der Kritikerin Verena Auffermann das Romandebüt von Tristan Egolf ("Monument für John Kaltenbrunner") in die Hand zu geben; immerhin liest sich ihr Verriss flott und überzeugend. Eine der schönsten Rezensionen liefert Hans Traxler (S. 84). Hubert Winkels hat mit einem Essay über das Verhältnis von Autoren und Medien zum Erfolg dieses ersten Heftes ebenso beigetragen wie Nicholson Baker, der uns seine Müllkippe bei Biddeford in Maine, USA, vorstellt. Warum auch nicht.

Das ist also das Konzept: neben Essays und Rezensionen, Portraits und Reportagen, Gesprächen und einem "Magazin"-Teil (bestehend aus kulturellen Hinweisen und einem Kalendarium) auch gelegentlich Primärtexte zu bringen, seien es Gedichte, Kurzgeschichten oder Ausschnitte aus einem entstehenden Roman. Das Sachbuch wird selbstverständlich ebenso gewürdigt wie das politische Buch. Doron Rabinovici, Schriftsteller und Historiker, ist die optimale Besetzung für eine kritische Würdigung der Holocaust-Literatur: "Wie aus historischen Fakten kitschige Fiktionen werden".

Was soll man, summa summarum, von "Literaturen" halten, das Heft empfehlen oder nicht? Empfehlen ja. Für Testfreudige gibt es ein Probe-Abonnement, es umfaßt drei Hefte zum Preis von 24 Mark. Entscheidungsfreudige bekommen für ihr Vorzugs-Abonnement 15 Hefte zum Preis von 136 Mark. Wer das Heft lieber am Kiosk erwirbt: es kostet zwölf Mark.