Mikrokosmos voller Überraschungen

Elisabeth Tova Baileys faszinierender Erfahrungsbericht über „Das Geräusch einer Schnecke beim Essen“

Von Hannelore PiehlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannelore Piehler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie sind vorbildliche Liebhaber: Stunden können sie damit verbringen, „den Gegenstand ihrer Zuneigung mit den vielfältigsten Aufmerksamkeiten zu bedenken“. Bis zu sieben Stunden genau, in denen sich lange in die Augen geschaut wird, erst zarte Berührungen stattfinden, dann spiralförmige Umarmungen und oftmals auch ein sogenannter Liebespfeil zum Einsatz kommt. Soweit die Praxis, wurde denn eine passende Partnerin gefunden. Sollte jedoch keine zur Stelle sein, wird die Angelegenheit auch schon mal ganz pragmatisch gelöst: Dann befruchten sich Schnecken eben einfach selbst und sorgen auf diese Weise für Nachwuchs.

„Das Geräusch einer Schnecke beim Essen“ lautet der Titel eines außergewöhnlichen Buches, in dem der Leser nicht nur faszinierende Einblicke in das vermeintlich langweilige Dasein einer Tierklasse erhält, die, von genervten Hobbygärtnern einmal abgesehen, bei den meisten wohl allenfalls Gleichgültigkeit hervorruft. Die Autorin Elisabeth Tova Bailey erzählt darin vor allem von persönlichen Erinnerungen an eine Schnecke, die für sie zu einer Art Lebensretterin wurde. Denn die amerikanische Biologin und Journalistin, die im Alter von 34 Jahren auf einer Europareise von einer schweren, lange unerklärlichen Infektion befallen worden war, befand sich in einer Extremsituation: Nach bereits jahrelanger Krankheit und einigen Rückfällen bei einer Pflegerin einquartiert, war sie unfähig, sich auch nur längere Zeit im Bett aufzurichten. „Das Studio, in dem ich untergebracht war, hatte viele Fenster und einen schönen Ausblick auf eine Salzwiese. Doch die Fenster waren weit von meinem Bett entfernt, und ich konnte mich nicht aufsetzen, um hinauszuschauen. Licht fiel durch die Fenster zwar herein, aber die Welt, die sie umrahmten, lag außerhalb meines Blickfeldes. Anders als in meinem Bauernhaus, das voller Farben war, erwachte ich hier jeden Morgen in einem Raum, dessen Wände und Decke vollkommen weiß waren – ich fühlte mich in einer kahlen weißen Kiste eingesperrt.“

In dieser kahlen Kiste wird das Erscheinen einer kleinen Schnecke zu einem herausragenden Ereignis. Was Bailey selbst zunächst jedoch keinesfalls ahnt. Als ihr eine Freundin in den ersten Frühlingstagen aus dem Wald den Veilchentopf mit der Schnecke darin vorbeibringt, fragt sie sich nur ratlos: „Warum sollte ich an einer Schnecke Freude haben? Was in aller Welt sollte ich mit ihr anfangen?“ Zu schwach, um das Geschenk einfach wieder in den Wald zurückzubringen, lässt Bailey den Topf samt Bewohnerin jedoch neben dem Krankenbett stehen – und fängt schon bald fasziniert an, die neue Hausgenossin zu beobachten.

Es beginnt mit einem quadratischen Loch, das die Schnecke über Nacht in einen Briefumschlag frisst. Dann wird es zur morgendlichen Aufgabe der Schwerkranken, erst einmal den neuen Schlafplatz des Tieres aufzuspüren. Ein Glasterrarium mit Moos, Steinen, Pflanzen und Wasserschale wird nicht nur zur neuen Heimstatt der Schnecke, sondern für Bailey ein Mikrokosmos voller Überraschungen. „Die üppig-feuchte Lebendigkeit der Pflanzen erinnerte mich an den Wald nach einem starken Regen. Es war die richtige Welt für eine Schnecke und für mich eine Augenweide.“ Wie die Schnecke „furchtlos und unermüdlich“ ihre neue Umgebung erkundet, so macht die Patientin jeden Tag ebenfalls neue Entdeckungen. Ihre Beobachtungen über die Eleganz und Gelassenheit der Schnecke beim Gleiten selbst über schärfste Klingen, über die Schönheit eines Spiralgehäuses, über die Besonderheiten der Schnecken-Anatomie sowie Überlegungen zur klebrigen „Essenz der Schneckenseele“, dem Schleim, trägt Bailey Seite um Seite zusammen – und zieht oft überraschende Parallelen. Je vertrauter ihr die Welt der Schnecke wird, desto fremder erscheint die Menschenwelt, „meine eigene Spezies war so groß, so gehetzt, so verwirrend. Ich stellte fest, dass mich der Energielevel meiner Besucher beschäftigte, und begann sie genauso aufmerksam zu beobachten wie ich die Schnecke beobachtete. Mich erstaunte, wie ziellos sich meine Besucher im Zimmer bewegten: Es schien, als wüssten sie nicht, wohin mit ihrer Energie. Sie gingen so achtlos damit um.“

Es sind der Perspektivwechsel und das unaufdringliche Lob der Entschleunigung, die Baileys Buch besonders machen. Die ganze Dimension ihrer schweren Erkrankung kann der Leser dabei nur erahnen, so sachlich-nüchtern streut Bailey Informationen dazu ein. Der geschickte Aufbau tut ein Übriges: Die nüchternen Detailbeobachtungen vom Krankenbett aus verschränkt die Journalistin mit den Ergebnissen einer späteren umfassenden Recherche über Biologie und Kulturgeschichte der Gastropoden, literarische und geschichtliche Dokumente zum Thema inklusive. Am Ende staunt auch der Leser über die Achtlosigkeit, mit der er bislang Schnecken behandelt hat. Weiß er doch nun, dass die Gastropoden „eine der erfolgreichsten Gattungen überhaupt“ darstellen und Darwin einst angesichts der Frage, wie Landschnecken selbst entlegene Inseln besiedeln konnten, fast verzweifeln ließen. Übrigens: Das Geräusch einer Schnecke beim Essen kann man wirklich hören: http://www.elisabethtovabailey.net/.

Titelbild

Elisabeth Tova Bailey: Das Geräusch einer Schnecke beim Essen.
Übersetzt aus dem Englischen von Kathrin Razum.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2012.
171 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783312004980

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