Der weibliche Orient

Ulrike Stamm analysiert in ihrer Studie Reiseberichte deutschsprachiger AutorInnen

Von Jasmin Marjam Rezai DubielRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jasmin Marjam Rezai Dubiel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit Jahrhunderten bietet der Orient für den Westen eine Projektionsfläche der Imagination, in der sich Faszination und Abscheu verbinden. Besonderen Aufwind erhielt die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Darstellung des Orients durch das viel zitierte und diskutierte Buch „Orientalism“ von Edward Said. Der Amerikaner palästinensischer Herkunft führte den Begriff des Orientalismus als diskursive und konsolidierende Vereinnahmung des Orients durch den Westen in die postkoloniale Debatte ein. Auf diese These folgten zahlreiche Studien, die sich mit der Darstellung des Orients in der Literatur beschäftigen. Die Aufmerksamkeit wurde dabei vor allem auf die unterschiedlichen Bewertungen des Orients gelegt.

Im Zuge der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit stereotypen Orient-Bildern nahmen die Strategien der Mimikry und Hybridität immer größeren Raum ein, da diese sich als Korrektiv und deviante Formationen dichotomischer Weltbilder erwiesen. Vernachlässigt wurde dabei nicht nur das Stiefkind der Literatur, die sogenannte nichtfiktionale Literatur – hier in Form von Reiseberichten –, sondern auch die besondere Stellung der Frau. Gayatri Chakravorty Spivak wies in ihrem Aufsatz „Can the Subaltern Speak?“ als eine der ersten auf die doppelte Unterdrückung der kolonisierten Frau hin. Die Bedeutung der weiblichen Autorschaft, die einen Blick auf einen ganz anderen Orient wirft, blieb bislang unerwähnt. Ulrike Stamm hat nun mit ihrem Buch „Der Orient der Frauen“ eine Studie vorgelegt, die beiden Forschungsdesideraten entgegenwirkt.

Die Literaturwissenschaftlerin verortet die deutschsprachigen Autorinnen – Ida Pfeiffer, Therese von Bacheracht, Marie Espérance von Schwartz, Maria Schuber und Maria Belli – in einem Spannungsfeld aus Emanzipation und stereotypen Orientbildern. Die in den Reiseberichten geschilderte Auseinandersetzung mit dem Fremden erweist sich zugleich als Beschäftigung mit der eigenen Identität. Die Repräsentation des Orients dient auf diese Weise gleichermaßen als Folie für weibliche Identitätsentwürfe des 19. Jahrhunderts, welche mitunter bürgerliche Ideale kontrastieren. Ausgehend von dieser Überlagerung von ethnischer und geschlechtlicher Differenz geht Stamm der Frage nach, inwiefern diese Verbindung Weiblichkeitskonzeptionen und weibliche Selbstinszenierungen literarisch beeinflusst. In einem nächsten Schritt untersucht die Autorin die spezifisch weibliche Sicht auf den Orient insbesondere im Hinblick auf das Stereotyp der exotischen Orientalin und des Harems.

Stamm verdeutlicht eingehend, wie im 19. Jahrhundert das vorherrschende Ideal des Bürgertums, die feminine Häuslichkeit, durch das Reisen der Frauen negiert wird. Damit tritt das Problem der Legitimation weiblichen Schreibens auf den Plan. Stamm zeigt die unterschiedlichen Verhandlungsdiskurse weiblicher Autorschaft, die vom Rückgriff auf Pseudonyme bis hin zu Verschweigen und Ausweichen reichen. Das Ablenken von der weiblichen Autorschaft wird jedoch durch den Text selbst destruiert. Die Wahl und Beschreibung der Kleidung der reisenden Autorinnen wie Kurzhaarschnitte oder Uniformen reihen sich als nichtsprachliche Äußerungen in den emanzipatorischen Diskurs des 19. Jahrhunderts ein. Von besonderem Interesse ist die scheinbare Konformität mit der symbolischen Ordnung des Patriarchats, welche aber gleichzeitig qua ästhetischer Strategien unterlaufen wird. In dieser Mimikry erkennt Stamm die eigentliche literarische Strategie weiblicher Autorschaft im 19. Jahrhundert. Damit überträgt sie das Prinzip der interkulturellen Hybridität auf die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts.

In der Selbstdarstellung der Frau als schreibende Reisende unterscheidet die Autorin zwischen einem heroischem und einem sentimentalen Subjekt. Während der heroische Subjektentwurf für eine leistungsbezogene Selbst- und Weltbeherrschung stehe, biete der sentimentale Modus Raum für die subjektive Wiedergabe von Gefühlen und Eindrücken. Die sentimentalische Schreibweise kann – wie Stamm ausführlich zeigt – eine Anpassung im Sinne strategischer Mimikry suggerieren, indem zwar einerseits mit weiblichen Stereotypen gespielt wird, diese aber andererseits zugleich durch parodistische Elemente von innen heraus kompromittiert werden. In diesen Zusammenhang ist auch die häufige Referenz der Autorinnen auf Hysterie-Diskurse als körperliche Deviante in einem von der männlichen Sprache beherrschten System einzuordnen.

In der Auffassung der Zeitlosigkeit des Orients zeigt sich beispielhaft die ambivalente Struktur der Fremddarstellung. Auf der einen Seite wird der Orient der geistigen Unbeweglichkeit bezichtigt, der seinen Ausdruck im Motiv des müden Manns vom Bosporus findet, um auf der anderen Seite gleichsam als biblischer und menschlicher Ursprung diskursiv vereinnahmt zu werden. Diese Ambivalenz ist das grundlegende Charakteristikum in der Darstellung sowohl der Orientalin – man denke an die malerischen Darstellungen der „Odaliske“ – als auch des Harems beziehungsweise des Fremden überhaupt, wie neuere Arbeiten der Orientalismus-Forschung dargelegt haben.

Indem nun die Autorinnen in ihren Reiseberichten den männlichen Stereotypen der sinnlichen Orientalin entgegen schreiben, betreiben sie zugleich eine eigene weibliche Subjektkonsolidierung. Großen Raum nimmt in den Schilderungen der Autorinnen die weltweit gepriesene Schönheit der Orientalinnen ein, die entweder ignoriert oder explizit zurückgewiesen, kaum jedoch anerkannt wird. In der Abwertung der naturhaften, oft häusliche verorteten Orientalin weist Stamm überzeugend eine implizite Kritik an weiblichen Identitätsentwürfen des Okzidents nach.

Ein außerordentlich interessantes Kapitel stellt die Analyse der Repräsentationen des Harems dar, der seit je her eine phantasmatische Heterotopie evoziert, in der sich Sexualität und Gewalt vereinen. Der Rekurs auf eine polygames Liebesverständnis impliziert auch eine Kritik am bürgerlich-christlichen Liebesmodell. Der Raum des Harems wird demnach in den Reiseberichten zum einen durchaus negativ als Gefängnis charakterisiert, zum anderen kann er jedoch laut Stamm aufgrund der Ausschließung des Männlichen, der Entmännlichung in Gestalt des Eunuchen et cetera auch als ein hybrider Ort fungieren, in dem sich Macht- und Geschlechterordnungen umkehren.

Stamm integriert evident negative wie scheinbar positive Stereotype des Orients in ihre Studie, um die literarische Strategie der Mimikry, welche zwischen scheinbarer Anpassung und Dekonstruktion oszilliert, nicht nur auf die Fremden, sondern auch auf das Eigene zu übertragen. Dabei greift sie auf Theorien Julia Kristevas ebenso wie auf jene Luce Irigarays zurück. Die feministischen Theoreme dienen nicht nur dazu, ein differenzierteres Orientbild zu elaborieren, sondern vor allem dazu, die emanzipatorischen Bestrebungen der Autorinnen in der westlichen Welt des Bürgertums im 19. Jahrhunderts zu verorten. Auf diese Weise schließt Stamm eine Lücke in der aktuellen Orientalismus-Forschung, die sowohl die spezifischen Charakteristika weiblicher Autorschaft als auch die hybride Gattung der Reiseliteratur vernachlässigt hat, und ergänzt die Dialektik aus Eigenem und Fremdem um einen neuen Aspekt.

Titelbild

Ulrike Stamm: Der Orient der Frauen. Reiseberichte deutschsprachiger Autorinnen im frühen 19. Jahrhundert.
Böhlau Verlag, Köln 2010.
368 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783412205485

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