Jugendtraum und Altersglück

Claude Lévi-Strauss über seine Liebe zu Japan

Von Falk QuenstedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Falk Quenstedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn es denn stimmt, dass Hundebesitzer aussehen wie ihre Hunde, so mag auch etwas daran sein, dass Denker aussehen wie ihre Theorien. Ein zwingendes Beispiel wäre zumindest Claude Lévi-Strauss. Mürrisch blickt er aus Schwarz-Weiß-Fotografien heraus, Licht und Schatten unterstreichen die klar strukturierten Züge und die riesigen Brillengläsern vergrößern die erzgescheiten Augen. Ein Mann wie ein Text. Unnachgiebig fixiert er den Betrachter. Alles wirkt, als wollte der Fotografierte sagen: Gib Dir keine Mühe, ich werde dich ohnehin durchschauen. Ein Examenskandidat würde sich einen anderen Prüfer suchen. Es ist die Pose eines Geistessouveräns, eines gelehrten Asketen, ja – eines intellektuellen Zen-Meisters.

Das Image des strengen und zuweilen sturen Wissenschaftlers pflegte der „Erfinder“ der strukturalen Anthropologie auch in seinen Büchern. Doch neben dem Autor der etwas trockenen „Elementaren Strukturen der Verwandtschaft“ oder den sehr materialreichen vier Bänden der „Mythologica“ ist da auch der Essayist und ethnologische Literat Lévi-Strauss – der Autor der „Traurigen Tropen“.

Größtenteils aus dessen Feder stammen die Japan gewidmeten Reden, Aufsätze und Interviews, die sein japanischer Übersetzer und Freund Junzo Kawada in dem nun bei Suhrkamp erschienenen Band „Die andere Seite des Mondes“ versammelt hat. Nicht zuletzt die beigegebenen Privatfotografien des Herausgebers, die Claude Lévi-Straus in ungewohnten Situationen zeigen – d.h., nicht vor einem Bücherregal, sondern etwa im spielerischen Kampf mit seinem Hund oder während einer Bootstour auf dem Sumida –, vermitteln ein sehr menschliches Bild des ‚großen Denkers’.

Die zwischen 1979 und 2001 entstandenen Texte richten sich allerdings durchaus an ein japanologisches Fachpublikum, meist handelt es sich um Festvorträge. Ihr Autor betont aber wiederholt, dass er, als Amerikanist, nur als Laie spreche und vor allem als ein leidenschaftlicher Bewunderer der japanischen Kultur. Nicht zuletzt diese Leidenschaft macht die subjektiven und von autobiographischen Anekdoten gesättigten „Versuche“ über Japan zu einer überaus anregenden Lektüre. Dabei beindruckt nicht nur die Wissensfülle des „Laien“, beindruckend ist auch die erfrischende Unerschrockenheit, mit der er sein Wissen einsetzt. Und die Klarheit und Eleganz dieser gelehrten Prosa ist ein Genuß. Man kann der Übersetzerin Eva Moldenhauer, die in der Übertragung französischer Theoretiker ins Deutsche versiert ist wie kaum jemand, nur zu ihrer Übersetzung gratulieren.

Träumerische Exotik am Anfang des 20. Jahrhunderts

Doch woher diese Liebe zu Japan? Im Vorwort zur japanischen Ausgabe von „Traurige Tropen“, aus dem Junzo Kawada in seiner Einführung zitiert, erzählt Lévi-Strauss eine Kindheitsanekdote. Diese Erinnerung illustriert nicht nur die oft vergessene außerordentliche Wirkung Japans auf den Westen in der zweiten Hälfte des 19. und den Beginn des 20. Jahrhunderts; zugleich berichtet sie von einer Art ‚Ur-Erfahrung’ des späteren Ethnologen. Lévi-Strauss’ Vater war ein Maler, ein Impressionist (man denke an Van Goghs Bilder im japanischen Stil, überhaupt an den Japonisme). Dieser Künstler schenkt seinem sechsjährigen Sohn einen Ukiyo-e hanga von Horishige, also einen jener Farbholzschnitte, die Alltagsszenen aus Edo darstellen – „Bilder der heiteren, fließenden und vergänglichen Welt“ – und im 18. und 19. Jahrhundert massenhaft in Japan produziert wurden. (Die Besucherschlange anlässlich der Hukosai-Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau beiwies, dass die raffinierte Schlichtheit dieser Drucke heute nichts von ihrer Faszinationskraft eingebüßt hat.)

Der kleine Claude klebt den Hiroshige-Druck – er zeigt Spaziergängerinnen unter großen Pinien vor dem Meer – auf den Boden eines Kartons, den er an der Decke über seinem Bett befestigt. Derart zur Guckkastenbühne verwandelt, grundiert er die Fantasien des Jungen. Die Welt der Ukiyo-e wurde für den aufwachsenden Lévi-Strauss schließlich das, was späteren Generationen die Comics von Hergé oder Carl Barks waren und heutigen die modernen Mangas und Animes: „Bis zum Alter von siebzehn oder achtzehn Jahren verwendete ich alle meine Ersparnisse dazu, Holzschnitte, illustrierte Bücher, Messer und Säbelgefäße anzuhäufen, lauter eines Museums unwürdige Dinge (denn meine Mittel erlaubten mir nur, bescheidene Stücke zu erwerben), die mich jedoch stundenlang fesselten, und sei es nur – ausgerüstet mit einer Liste japanischer Buchstaben –, um mühsam Titel, Bildunterschriften und Signaturen zu entziffern.“

Erst spät wagte der Japan-Träumer eine Reise ins reale Japan. Aus Furcht, er könnte sich „das grüne Paradies seiner kindlichen Liebe“, wie er es Charles Baudelaire zitierend nennt, verderben. Das Wagnis wird sich lohnen.

Das vertraute Fremde

Lévi-Straus ist voller Bewunderung für Japans Fähigkeit, Tradition und Moderne zu vereinbaren. Wo der Westen, insbesondere Frankreich, glaubte, das Neue verlange die Auslöschung des Alten, ließ Japan – das sich in seiner langen Kulturgeschichte immer schon durch eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen auszeichnete – beides ineinander fließen. Das hat den Theoretiker des ‚wilden Denkens‘, der die Verwandtschaft der „bricolage“ des Mythos, seiner „bastelnden“ Logik, mit der kritischen Methode der Wissenschaft zu zeigen versuchte, faszinieren müssen. So ist der japanische Alltag zugleich geprägt von eminenter Technisierung, andererseits aber auch dem Schintoismus, der dem westlichen Blick so archaisch und fremd erscheint. Von uralten Mythen sprechen die Leute, als seien sie erst gestern geschehen.

Es ist dieses Zugleich von Vertrautheit und Alterität, um das Lévi-Strauss’ Denkbewegungen kreisen. Immer wieder entdeckt er in der Kultur Japans Züge einer Moderne avant la lettre (oder vielmehr du l’autre monde). Die Prinzipien des Action-painting sieht er in der Keramik der frühen Jōmon-Kultur vorgeprägt, urbane Tags in der Kalligrafie eines Sengai, Chateaubriands poetische Niedergangsbeschreibungen in der Chronik des Heike oder die neoromantische Heroik eines Cyrano de Bergerac“ im kabuki-Theater der Edo-Zeit.

Was Lévi-Straus damit zur Debatte stellt, ist die Konstruktion Japans als einer ‚verkehrten Welt‘, die auch heute noch allerorten zu finden ist, siehe die Berichterstattung rund um den Tsunami 2011. Lévi-Strauss sieht darin vor allem eine Methode, das Fremdartige zu „zähmen“ und beleuchtet diesbezüglich kritisch die ersten europäischen Beobachter und insofern ‚Proto-Ethnologen‘ Japans, den portugiesischen Jesuitenmissionar Luís Fróis und den Begründer der Japanologie, Basil Hall Chamberlain. Chamberlain führt in seinem „ABC der japanischen Kultur“ von 1890 etwa an, dass in Japan das Öhr zur Nadel geführt wird, dass Pferde von der linken Seite bestiegen und die Töpferscheibe mit dem linken, nicht mit dem rechten Fuß in Bewegung gebracht wird. Fróis konstruierte im 16. Jahrhundert regelrechte Listen von „Umkehrungen“.

Trotz dieser Kritik entwickelt Lévi-Strauss selbst eine auf Gegensätzlichkeit beruhende – und zugegeben sehr bestechende – These, die sich durch alle Texte des Bandes zieht. Hier ist er ganz Strukturalist. Er reiht sich damit aber auch in eine Tradition der Unterscheidung westlicher moderner Innerlichkeitssubjektivität gegenüber fremden und/oder vormodernen Kulturen ein, die von einer grundsätzlichen, nicht übersetzbaren Alterität ausgehen. Dichotomien wie „Präsenzkultur“ und „Sinnkultur“ (Hans-Ulrich Gumbrecht) oder „Schamkultur“ und „Schuldkultur“ (Ruth Benedict) spiegeln das wider. Bei Lévi-Strauss ist die westliche Welt demnach „zentrifugal“, die Welt Japans hingegen „zentripetal“ organisiert. Während im Westen zuerst das Ich da ist und sich – nach außen drängend – die Welt zu eigen macht, erscheint das Ich in Japan als Zentrum spezifischer kultureller und sozialer Dynamiken. Der „Ausdruck des Indrucks“, wie Musil das formuliert hat; allerdings mit Blick auf die Moderne.

Der japanische Tischler etwa ziehe die Säge oder die Feile zu sich heran. Der europäische Tischler drücke sie von sich weg. Die japanische Syntax führe vom Allgemeinen über immer genauere Bestimmungen zum Subjekt hin, während der westliche Satzbau umgekehrt vom Subjekt ausgeht. Das cartesianische Cogito ergo sum müsste einem Japaner demnach ganz unverständlich sein, wie Lévi-Strauss selbst anmerkt; aber ist das wirklich plausibel?

Eine andere Dichotomie – ebenso bestechend, ebenso schwierig – ist die von Mischung und Trennung: Während die Europäer Synthesen durch Mischungen herzustellen versuchen, würden die Japaner die Elemente „im Reinzustand“ innerhalb eines Rahmens nebeneinander stellen und so eine Einheit bilden lassen.

„Die Kunst, sich mit der Welt abzufinden“

Ein besonderer Höhepunkt der Sammlung ist der kurze Text über den Grafiker-Dichter und Zen-Mönch Sengai (1750-1837), in dessen kalligrafischen Zeichnungen sich das zentripetale Prinzip wiederfindet: das Ich ist „das Mittel, durch welches das Zeichen sich ausdrückt und zusätzlich die Individualität des Schreibenden übernimmt.“ Die Kunst ist also nicht Ausdruck des Ichs, sondern gerade umgekehrt, das Ich ist Ausdruck der Kunst.

Abgesehen davon, dass das dem Strukturalisten gefallen muss – man denke nur an Roland Barthes’ Formel vom „Tod des Autors“ –, liegt auch ein großer Trost in dieser buddhistischen Kunst. Das Ich, das Cogito, wird bedeutungslos; und selbst der strenge wissenschaftliche Beobachter kann dann zugleich entzückter Zuschauer sein: „Wenn Zen eine Praktik der Meditation ist, die zu Weisheit führen soll, und wenn diese Weisheit darin besteht, sich von der Welt des Scheins zu lösen, dann entdeckt die Weisheit bei einer letzten Etappe, daß auch sie, eine Gefangene anderer Illusionen, sich mißtrauen muß. An dem Punkt läuft es für [den Gelehrten] auf dasselbe hinaus, zu wissen, daß nichts einen Sinn hat, und, als hätte alles einen Sinn, wie jeder gewöhnliche Mensch das Dasein seiner Zeitgenossen zu teilen.“

Die Schlussfolgerung ist hier das entscheidende. Damit fügen sich die gegensätzlichen Bilder des Autors zu einer Einheit, indem sich die strukturale Anthropologie als eigenartige Zen-Übung des Menschen Claude Lévi-Strauss entpuppt: Der Blick auf die Menschen mit einem akkurat verdroßenem und einem gebannt lachenden Auge.

Titelbild

Claude Lévi-Strauss: Die andere Seite des Mondes. Schriften über Japan.
Übersetzt aus dem Französischen von Eva Moldenhauer.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
175 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783518585771

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