Längere, bessere Sommer

Peter Kurzeck erzählt auf „Unerwartet Marseille“ von seinen Aufbrüchen

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Peter Kurzeck ist einer der besten Erzähler der deutschen Literatur. Und das nicht nur in dem Sinne, wie man ihn üblicherweise bei Schriftstellern verwendet, als Bezeichnung für jemanden, der epische Texte schreibt und dafür mit Auszeichnungen vom Alfred-Döblin- bis zum Grimmelshausen-Preis dekoriert wird. Sondern als jemand, der tatsächlich vor anderen oder vor einem Mikrofon steht und in einen hypnotisierenden Erzählstrom gerät. Mit genauem Blick lässt er noch das kleinste Detail vergangener Jahrzehnte vor uns erstehen, im monumentalen Roman „Vorabend“, der es im letzten Jahr bis auf die Shortlist zum Deutschen Buchpreis schaffte, ebenso wie auf der Aufnahme Ein Sommer, der bleibt“ (2007), auf der Kurzeck vier CDs lang seine Jahre als Flüchtlingskind und Jugendlicher im mittelhessischen Dorf Staufenberg bei Gießen wieder lebendig werden lässt.

„Unerwartet Marseille“ ist so etwas wie die Fortsetzung dieses Hörbuchs. Hier berichtet der 1943 geborene Kurzeck aus den 1960er– und frühen 1970er–Jahren, einer Zeit, in der für ihn „die Sommer von Jahr zu Jahr länger und besser“ wurden. Hauptsächlich geht es um Reisen, nach München, Italien, Frankreich, Skandinavien, in die Tschechoslowakei, wo Kurzeck 1968 eine Freundin hat. Auf den nachgeborenen Leser wirken die Abenteuer Kurzecks manchmal wie aus einem Märchen. Wo dürfte man seinem Chef heute noch ein Telegramm schreiben (abgesehen davon, dass es keine Telegramme mehr gibt), das da lautet: „Unerwartet Marseille. Rückkehr verhindert“? Und trotzdem seine Stelle behalten. Das letzte Viertel zeigt Kurzeck dann inmitten eines anderen Aufbruchs: Bereits seit den frühen 1960er–Jaahren hatte er immer wieder literarische Texte geschrieben, zunächst nur für sich. Doch im Sommer 1971 gelangt er an einen Wendepunkt: Er entscheidet sich, Schriftsteller zu werden und die Lohnarbeit aufzugeben. Im Mai 2011 aufgenommen, zeigt das Hörbuch „Unerwartet Marseille“ einen Peter Kurzeck, der zu sich selbst kommt – als Gegenstand seiner Erzählung ebenso wie im Akt des Erzählens selbst. Ihm zuzuhören, ist ein großes Vergnügen. Es löst Sehnsüchte nach einer Zeit aus, die man vielleicht gar nicht selbst erlebt hat. Dabei feiert er seine persönliche Vergangenheit, ohne die historische nostalgisch zu verklären. Trotzdem wünscht man sich als Hörer genau das (zurück), was Peter Kurzeck selbst erlebt hat: immer längere, bessere Sommer.

Titelbild

Peter Kurzeck: "Unerwartet Marseille". Peter Kurzeck erzählt. 2CD.
Herausgegeben von Jörg Döring.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2012.
120 min, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783866000070

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