Autofiktion aus dem Archiv

Elio Pellin und Ulrich Weber über Autobiografie und Autofiktion

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Beiträge des von den beiden Schweizer Literaturwissenschaftler Erio Pellin und Ulrich Weber herausgegeben Bandes über autobiografisches Schreiben gehen auf eine „Sommerakademie Schweizer Literatur“ zurück, die 2010 im Centre Dürrenmatt Neuchâtel stattfand. Sie vermessen die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion anhand der Werke von Robert Walser, Annemarie Schwarzenbach, Friedrich Dürrenmatt, Paul Nizon und Urs Widmer.

Ein besonders Augenmerk gilt dabei den Nachlässen und Archiven der Schriftsteller. Es geht um Entwürfe bei Abschriften, um Formulierungen in Reinschrift, um das, was der erste Beitrag über Robert Walser als das „Resultat einer sorgfältig kalkulierten Textkonstruktion“ beschreibt. „In vorliegendem Versuch, ein Selbstbildnis herzustellen, vermeide ich jedes Persönlichwerden grundsätzlich“, schrieb Walser in „Meine Bemühungen“. Die untersuchten Texte machen deutlich, dass die Schriftsteller oft keine lineare Entwicklung eines Kindes zum Erwachsenen beschreiben, sondern fragmentarisch aufgebaute Texte schreiben oder solche, die eine „zyklische Struktur“ aufweisen.

Carl Zuckmayer schrieb mit „Als wär’s ein Stück von mir“ eine erfolgreiche, traditionelle Autobiografie ohne größere Selbstzweifel, die wochenlang die Bestseller-Listen anführte. Dürrenmatt aber verstand in seinen „Stoffen“, einem „autofiktionalen Spätwerk“, das Ich als Fiktion. „Je älter man wird“, so der Schriftsteller, „desto stärker wird der Wunsch, Bilanz zu ziehen. Indem es sich verflüchtigt, will man es gestalten; indem man es gestaltet, verfälscht man es: So kommen die falschen Bilanzen zustande, die wir Lebensbeschreibungen nennen“.

In der Einleitung schreiben die Herausgeber, dass der von Serge Doubrovsky geprägte Begriff „Autofiktion“ den Vorteil hat, einer auf Referentialität beschränkten Autobiografie-Diskussion neue Spielräume zu eröffnen. Doch ist es seit Paul de Manns „Autobiographie als Maskenspiel“ nicht gerade die Referentialität der Gattung, die zur Diskussion steht? Es ist schade, dass die Beiträge zwar mit Verweisen auf die Gattungstheorie anfangen, aber nach der Interpretation der Texte nicht die Frage beantworten, was diese Interpretation – oder eine philologisch orientierte Lektüre der Gattung – zur Gattungstheorie beitragen kann. Somit bleibt es bei diesem Band bei Einzelstudien über zum Teil weniger bekannte Autoren, die vor allem philologisch interessant sind.

Titelbild

Elio Pellin / Ulrich Weber (Hg.): "...all diese fingierten, notierten, in meinem Kopf ungefähr wieder zusammengesetzten Ichs". Autobiographie und Autofiktion.
Wallstein Verlag, Göttingen 2012.
207 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783835310063

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