Konsolidierung der Neugermanistik

Eine programmatische Fallstudie zur Berliner „Gesellschaft für deutsche Literatur“ (1888-1938) von Hans-Harald Müller und Mirko Nottscheid

Von Mark-Georg DehrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mark-Georg Dehrmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Noch heute sind literarische Gesellschaften in aller Regel eindrucksvolle Monumente privaten Engagements. Getragen werden sie meist genauso von akademischen Forscherinnen und Forschern wie von Enthusiasten und Kennern aus anderen Berufsfeldern. Hier konvergieren nicht selten die unterschiedlichsten Interessen: Beispielsweise literaturhistorische, lokalgeschichtliche oder genealogische. Und sie tun dies auf fruchtbare Weise. Nicht wenige Gesellschaften veranstalten Tagungen, finanzieren Jahrbücher und Dokumentationen, die ‚ihre‘ Autoren und Gegenstände produktiv am Leben und im Gespräch halten. Schildbürgereien selbstbewusster, wissenschaftsferner Träger bleiben dabei mitunter zwar nicht aus. Aber die literarischen Gesellschaften der Gegenwart sind ein wichtiger Teil des wissenschaftlichen Lebens; zugleich sind sie ein Bindeglied zwischen Wissenschaft und – oft lokalen – ‚Öffentlichkeiten‘. Dabei gilt auch: Gemessen an der Höhe staatlicher Bildungsfinanzierung und den Summen, die im Auftrag des Staates als Drittmittel vergeben werden, scheint ihr Stellenwert dennoch gering. Literarische Gesellschaften stehen vielleicht auch daher nicht im Zentrum wissenschaftshistorischer und -systematischer Forschungen.

Nicht zuletzt die Wissenschaftsgeschichte der Philologien täte gut daran, dies zu ändern. „Wissenschaft ohne Universität, Forschung ohne Staat“ – so lautet der Haupttitel von Hans-Harald Müllers und Mirko Nottscheids Studie zum Verhältnis von Staat und Privatengagement in der wissenschaftlichen Forschung. Der programmatische Titel enthält These und Befund des Bandes: Das private Engagement besaß für die Entwicklung der Philologien um 1900 eine fundamentale Bedeutung. Der Band erschöpft sich aber nicht in der Programmatik. Diese bekommt ihr Gewicht vielmehr aus einer Fallstudie zur Tätigkeit der Berliner „Gesellschaft für deutsche Literatur“, die von 1888 bis 1938 existierte. Gerade weil diese Fallstudie gründlich recherchiert, reich dokumentiert und klug interpretiert wird, überzeugen die programmatischen Perspektiven, die Müller und Nottscheid treffsicher eröffnen.

Erich Schmidt, Wilhelm Dilthey, Ludwig Geiger, Theodor Mommsen, Richard M. Meyer – dies sind Namen, die eng mit der Wissenschaftsgeschichte der Philologien und auch ihrer institutionellen Entwicklung verbunden sind. Sie gehörten jedoch ebenso zum ersten Kreis der „Gesellschaft“, als sie sich 1888 in Berlin gründete. Neben weiteren Professoren der Berliner Universität war vor allem der Anteil an Lehrern aus den dortigen Gymnasien bedeutend. Von den Universitäten dezidiert zu Forschern ausgebildet, nahmen sie auch noch am wissenschaftlichen Leben teil, nachdem die Pflicht, wissenschaftliche Schulprogramme zu schreiben, 1875 durch einen Ministerialerlass aufgehoben worden war. Die Vorstandsspitze der „Gesellschaft“ bei der Gründung, die sich aus Erich Schmidt (1. Vorsitzender) und dem Oberlehrer am Köllnischen Gymnasium Otto Hoffmann (2. Vorsitzender) zusammensetzte, repräsentierte dieses selbstverständliche Junktim von Schule und Universität. Zu den 104 Mitgliedern, die das gedruckte Verzeichnis von 1889 ausweist, zählten darüber hinaus aber auch Verlagsbuchhändler wie Wilhelm Hertz, Antiquare wie Albert Cohn, Autoren wie Friedrich Spielhagen oder Adalbert von Hanstein und der Bankier Alexander Meyer Cohn. Für den gesamten Wirkungszeitraum der „Gesellschaft“ konnten 309 Mitglieder ermittelt werden.

Der Schwerpunkt der Vereinstätigkeit lag auf Vorträgen und Mitteilungen, zu denen die Mitglieder – eine Sommerpause abgerechnet – monatlich in Vereinsräumen von Berliner Lokalen zusammenkamen. Die Mitgliederstruktur deutet bereits darauf hin, dass hier in der Regel nicht ‚Sonntagsreden‘ gehalten, sondern dezidiert Forschungsbeiträge geboten wurden. Sie galten der neueren deutschen Literatur vom 17. Jahrhundert an. Wissenschaftsgeschichtlich ist dies nicht zuletzt deshalb bedeutend, weil das Teilfach der ‚Neueren Deutschen Literatur‘ sich in dieser Zeit bekanntlich erst langsam an den Universitäten verankerte. Noch immer bildete das Studium der älteren Literatur den Schwerpunkt der ‚Deutschen Philologie‘. Die „Gesellschaft“ war ein Forum, in dem mit außergewöhnlicher Konzentration an der philologischen Erschließung der neueren Literaturgeschichte gearbeitet wurde – und das bedeutet auch: an der Konstitution ihrer Gegenstände. Es ging um Quellen, Neuentdeckungen, Interpretationen, auch um Methodisches und Programmatisches. Wissenschaftliche Debatten wurden aufgegriffen und angestoßen. Die „Gesellschaft“ vollzog die Fachentwicklung nicht nach, sondern sie ging ihr voraus und trug entscheidend zu ihr bei – darin liegt ein wichtiger Befund von Müller und Nottscheid, der ihre programmatische Betonung des privaten Engagements für die Entwicklung des Fachs unterstreicht.

Die Forschungstätigkeit der „Gesellschaft“ strahlte dabei in zwei Richtungen aus. Erstens die Universität: In der Ära Erich Schmidts, der den Vorsitz bis zu seinem Tod 1913 führte, sei – so Müller und Nottscheid – die „Gesellschaft“ zum „wichtigsten Forum für die Vorstellung aktueller Forschungsarbeiten“ aus der Berliner universitären Germanistik avanciert. Nicht wenige Doktoranden Schmidts traten hier auf. Fast ein Drittel aller Vorträge wurde in wissenschaftlichen Kontexten publiziert, sei es in Zeitschriften, sei es in Monografien oder Editionen, aus denen die Vorträge Proben gaben. Zweitens wirkte die „Gesellschaft“ in die Öffentlichkeit. Die Sitzungsberichte wurden zum Teil in Berliner Tageszeitungen veröffentlicht; mitunter druckte die Vossische Zeitung auch Vorträge ab.

Die „Gesellschaft“ initiierte und trug daneben auch größere Forschungsprojekte. Dilthey hielt seinen berühmten Aufsatz über „Archive für Literatur“ zunächst als Vortrag in der „Gesellschaft“. Aus ihr heraus wurde die Berliner „Literaturarchiv-Gesellschaft“ gegründet, die in den folgenden Jahren wichtige Nachlässe wie beispielsweise denjenigen Schleiermachers akquirieren und wissenschaftlich erschließen konnte. Da die Organisation dieser gleichfalls privaten Initiative nicht ohne Probleme und Reibungen mit anderen Institutionen vor sich ging, wurden hier immer wieder Debatten über jenes Verhältnis von Staat und privater Trägerschaft geführt, für das die „Gesellschaft für deutsche Literatur“ selbst ein herausragendes Exempel ist. Soll man – so wurde debattiert – den „reifen Apfel“ des privaten Archivs „einem Staatsinstitut in den Schooß“ werfen?

Weitere Projekte, die aus der „Gesellschaft“ hervorgingen, sind: Die „Jahresberichte für neuere deutsche Literaturgeschichte“, die der bibliografischen Erschließung der entsprechenden Forschungen dienten und ein wichtiges Fundament für die Konsolidierung des Teilfaches legten; die später im Zweiten Weltkrieg weitgehend vernichtete Sammlung der Privat- und Manuskript-Drucke, deren zuletzt mehr als 15.000 Bände zahlreiche Bühnenmanuskripte umfasste; schließlich Anregungen und Vorstudien für Klassiker-Wörterbücher, die jedoch erst 1946 – nun unter staatlicher Ägide – im Goethe-Wörterbuch realisiert wurden. Die Tatsache, dass wichtige Bestandteile einer neugermanistischen Infrastruktur auf die private „Gesellschaft“ zurückgehen, bestärkt einmal mehr den Befund von Müller und Nottscheid.

Wahrscheinlich außergewöhnlich ist die „Gesellschaft für deutsche Literatur“, was die Stellung von jüdischen Germanisten betrifft. Die Marginalisierungen und Schwierigkeiten, mit denen Forscher wie Richard M. Meyer in der Universität zu leben hatten, sind bekannt. An der Gründung und dem Fortgang der „Gesellschaft für deutsche Literatur“ dagegen waren jüdische Wissenschaftler intensiv beteiligt, nicht zuletzt auch Meyer. Der Vorsitzende, der die zweite große Ära der „Gesellschaft“ von 1916 bis 1938 prägte, war Max Herrmann, der Gründer des Berliner Theaterwissenschaftlichen Instituts. Die „Gesellschaft“ bot ein außeruniversitäres Forum, der strukturelle Antisemitismus der staatlichen Institutionen griff nicht auf den privaten Verein aus. Dies änderte sich erstaunlicherweise auch im „Dritten Reich“ nicht. Nach der Entlassung jüdischer Beamter aus den Universitäten und trotz der zunehmenden Bedrohung wurde die „Gesellschaft“ geradezu zu einem „der letzten Treffpunkte, an dem Juden und Nichtjuden in Berlin öffentlich zu gelehrtem Austausch zusammenkommen konnten.“. Erst 1938 richteten die Behörden ihre Aufmerksamkeit auf diesen Ort und erzwangen die Auflösung der „Gesellschaft“. Der Vorsitzende Max Herrmann und die Germanistin Helene Herrmann, seine Frau, sind nicht die einzigen Mitglieder, die in den folgenden Jahren deportiert und ermordet wurden.

Stimulation von Forschung, Initiation von privaten ‚Großprojekten‘, wissenschaftliche und gesellschaftliche Enklave in der Verfolgung – dies sind bei weitem nicht die einzigen Erträge, die die Studie von Müller und Nottscheid erbringt. Analysen der Mitgliederstruktur, Darstellungen der mäzenatischen Tätigkeit der „Gesellschaft“, ihrer Verbindung zu anderen Vereinen und Gesellschaften, der Rolle von Frauen in Wissenschaft und Forschung sind weitere Gesichtspunkte aus dem reichen Panorama. Großes Gewicht legen Müller und Nottscheid auf die inhaltliche Erschließung der Vorträge nach Gegenständen, Schwerpunkten, Interessen und Methoden. Es kann nicht überraschen, dass die „Gesellschaft“ die methodischen Debatten, die editorische und interpretatorische Tätigkeit sowie die Kanonbildungsprozesse der zeitgenössischen Germanistik wie in einem Brennspiegel zusammenführt: Schließlich trug fast jeder, der in der Germanistik Rang und Namen hatte, früher oder später vor, entweder als Mitglied oder als Gast. Ausführlich werten Müller und Nottscheid das Profil der wissenschaftlichen Tätigkeit in unterschiedlichen Segmenten der Fachsystematik aus, etwa für „Stoff- und Motivgeschichte“, „Gattungstheorie und -geschichte“ sowie für Epochen (von der Frühen Neuzeit bis zur Literarischen Moderne und Gegenwartsliteratur) und Autoren (Goethe, Schiller, Hölderlin, Jean Paul, Kleist). Nicht zuletzt die durchaus offene Positionierung der „Gesellschaft“ zur Geistesgeschichte unter Max Herrmann unterziehen Müller und Nottscheid einer eingehenden Analyse; Anlass geben hier vor allem die Vorträge, die das Mitglied Ernst Cassirer 1917 und 1918 hielt.

Mehr als die Hälfte des über 500 Seiten starken Bandes dient der akribischen Dokumentation der „Gesellschaft“. Aus den zehn Anhängen seien die gewichtigsten herausgegriffen: Auf mehr als 100 Seiten werden die Vorträge, Mitteilungen, Gäste und weiteren Programmpunkte der Sitzungen zusammengestellt (374 von 433 Sitzungen konnten rekonstruiert werden). Ein umfangreiches bio-bibliografisches Repertorium trägt Lebensdaten und Eckpunkte für das wissenschaftliche Profil sowohl der Mitglieder als auch der Gäste zusammen. Wünschenswert wäre es darüber hinaus vielleicht allein gewesen, auch die publizierten Vorträge und Mitteilungen systematisch bibliografisch nachzuweisen.

Der Band ist durch seine Materialfülle nicht nur Studie, sondern auch Ausgangspunkt für weitere Forschungen; nicht nur Schlussstein, sondern auch Beginn. Er unterfüttert eindrucksvoll seinen Befund, dass die Dynamik der modernen Philologien keineswegs nur von staatlicher Lenkung und Finanzierung abhing. Und er fordert zu weiteren Studien zu den Forschungspraktiken der Geisteswissenschaften auf. Gleichzeitig setzt er Qualitätsmaßstäbe und zeigt, welche minutiöse Arbeit erforderlich ist, um im Feld einer Wissenschaftsgeschichte, die nicht bloße Geistesgeschichte ist, fundierte programmatische Aussagen machen zu können.

Titelbild

Hans-Harald Müller / Mirko Nottscheid: Wissenschaft ohne Universität, Forschung ohne Staat. Die Berliner Gesellschaft für deutsche Literatur (1888 - 1938).
De Gruyter, Berlin 2011.
562 Seiten, 119,95 EUR.
ISBN-13: 9783110262100

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch