Hoffnungen, Träume und kleines Heldentum

Eduardo Sacheri und Hernán Rivera Letelier zeichnen in ihren Fußball-Büchern zugleich Panoramen ihrer Gesellschaft

Von Patrick WichmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patrick Wichmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fußball und Literatur: vermeintlich zwei Antagonisten aus Hochkultur und proletarischer Subkultur, zwei unvereinbare Gegensätze. So hat man zumindest lange gedacht. Dass diese Annahme letztlich nichts als ein verfrühtes Vorurteil war und ist, ist spätestens seit Nick Hornby und „Fever Pitch“ auch in breiteren Kreisen bekannt. Zu den derzeit interessantesten Stimmen der südamerikanischen Fußballbelletristik gehören dabei Eduardo Sacheri, der bereits mit „Die Hand Gottes und andere Tangos“ in Deutschland ruchbar wurde, und Hernán Rivera Letelier.

Eines sei gleich vorab gesagt: Der Argentinier Eduardo Sacheri demonstriert auch in seinem neuesten, nun auf Deutsch erschienen Roman „Warten auf Perlassi“ seine große Kunst. Er verbindet gekonnt die Fußballthematik mit einem Sittengemälde Argentiniens. In diesem Buch nun erzählt Sacheri die Geschichte Ezequiel Aráoz’, der nach der Trennung von seiner Frau und angesichts der Trümmer seiner Existenz auf die Suche nach dem Idol seiner Kindheit geht, ebenjenem ehemaligen und titelträchtigen Fußballer Fermín Perlassi. Perlassi lebt mittlerweile zurückgezogen in der abgelebten Kleinstadt O’Connor und betreibt dort eine Tankstelle. Bei seinem Besuch nun trifft Aráoz nur den Alten Lépori an – und hofft bis zuletzt vergeblich auf die Rückkehr des verreisten Perlassis. Zugleich verfängt sich Aráoz im Verwirrspiel des Alten, der Perlassis neues Dasein und die Umstände seines Karriereendes geschickt in Nebel hüllt. So macht sich langsam das Gefühl breit, „auf der obersten Sprosse einer Leiter angekommen zu sein, die im Nirgendwo lehnt“.

Sacheri erreicht durch eine doppelsträngige Erzählstruktur ein schrittweises Eintauchen des Lesers in die Handlung des Romans: Während hauptsächlich die Geschichte des erwachsenen Aráoz im Blickpunkt steht, laufen in parallelen Einschüben seine Kindheitserinnerungen ab. Damals war er als Kind im Stadion und musste zusehen, wie Perlassi den Abstieg seines Clubs Deportivo Wilde verschuldete und so vom gefeierten Helden zur allgemeinen Hassfigur wurde. Durch diesen Aufbau werden nach und nach alle Facetten der doppelbödigen Geschichte offenbar. Zugleich erlaubt dieser Kniff Sacheri, verschiedene Elemente des Lebens zu thematisieren. Während die Haupterzählung durch die argentinische, vor allem ländlich geprägte Gesellschaft bestimmt wird, zeichnet Sacheri in den Kindheitsrückblicken ein einfühlsames Bild des heranwachsenden Jungen. So entsteht ein breit angelegtes Sittengemälde, das vom Stadt/Land-Gegensatz, von Korruption, Diktatur und Armut, aber auch von fernen Träumen und Hoffnungen erzählt – sowie natürlich von dem unvermeidlichen Julio Cortázar. So entstehen bisweilen Sätze, die die gesamte Essenz des jungenhaften Daseins einfangen und zwischen klassischen Zukunftsträumen und der Sehnsucht nach väterlicher Liebe oszillieren: „Und deshalb will Aráoz so sein wie Perlassi, damit sein Vater ihn so ansieht: mit leuchtenden Augen.“

„Warten auf Perlassi“ ist daher nicht nur als Buch über Fußball zu lesen. Der argentinische Originaltitel darf getrost als Merkmal für diese Akzentverschiebung genannt werden: „Aráoz y la verdad“ („Aráoz und die Wahrheit“) legt den Fokus weniger auf den Fußballer Perlassi als vielmehr auf den Hauptprotagonisten Aráoz. Dabei macht gerade diese facettenreiche Anlage das Buch so interessant. Wie schon „Die Hand Gottes und andere Tangos“ ist auch „Warten auf Perlassi“ als Panorama von Land und Leuten Argentiniens zu verstehen und daher eben nicht nur für Fußballfans reizvoll – sondern schlichtweg für jeden, der gute Literatur liebt.

Etwas anders verhält es sich da schon bei Hernán Rivera Letelier. In seinem „Der Traumkicker“ liegt der Fokus klar auf dem Fußball. Der chilenische Autor erzählt die Geschichte des ewig jungen Derbys zwischen den beiden Nachbarsiedlungen Coya Sur und María Elena, das eines Tages seinen Gipfelpunkt in einem letzten Duell erreicht. Da die Bergbausiedlung Coya Sur aufgegeben werden soll, kommt es zu einer abschließenden Begegnung mit der übermächtigen Mannschaft María Elenas. Als vermeintlicher Retter für die „Aasfresser“ im Spiel gegen die „Staubfresser“ tritt dabei eben jener „Traumkicker“ auf die Bildfläche, der den Ball mit schwindelerregender Sicherheit zu jonglieren weiß – allerdings in seinem Leben infolge eines Hodenbruchs noch keine einzige Minute gespielt hat.

Zwar zeichnet auch Rivera Letelier eine dörfliche Gesellschaftskulisse, die, wie zumeist in seinen Büchern, durch den Salpeter-Bergbau in der chilenischen Atacamawüste geprägt ist, allerdings richtet er bei allen Handlungen den Fokus auf das kommende Spiel „vor dem Ende der Welt“ und den sportlichen „Messias“ aus. Selbst die Militärdiktatur wird infolgedessen letztlich nur zu einem möglichen Spiel-Hemmnis und auch Sex zu einem fußballgleichen Erlebnis: „Es ist genau so, wie einen Elfmeter zu treten. Du zielst und ziehst ab. Alles, was dann kommt, ist der siebte Himmel.“

So entsteht ein kleiner, abgeschotteter Fußballkosmos, mit eigenen Helden und Dramen, an dessen letzter Episode nun der Traumkicker entscheidend beteiligt ist. Als eigentlicher, versteckter Held fungiert dabei der örtliche Dorfdepp, der über sein Medizinstudium den Verstand verloren hat: Cachimoco Farfán, der die Spiele der heimischen Elf mithilfe einer Blechbüchse moderiert und „die beste Dyslalie der Wüste“ ist, wie er von sich sagt. Durch diese Ausrichtung wird der Sport geradezu zu einem Spiegel der Gesellschaft: „Dort auf dem Platz, auf einem Rechteck aus Rasen oder Staub, von Banden begrenzt oder offen, inmitten einer großen Stadt oder im gottverlassenen Nirgendwo konnte man in den knappen neunzig Minuten eines Spiels wahren Edelmut sehen, Kühnheit, Anstand und alles Vorzügliche, was in einem Einzelnen steckte; aber genauso konnte das Schlechte zum Vorschein kommen: Feigheit, Unfairness, Arroganz und Hinterhältigkeit.“ Mit „Der Traumkicker“ ist Hernán Rivera Letelier ein interessanter und eigentümlicher Stoff gelungen, der allerdings den nicht-fußballinteressierten Leser schnell ermüden dürfte – das wird insbesondere im direkten Vergleich mit Sacheris „Warten auf Perlassi“ deutlich. Beide Bücher beweisen aber auf jeden Fall eindrucksvoll, dass die Symbiose aus Fußball und Fiktion sehr wohl glänzend gelingen kann und bisweilen sogar echte Schmuckstücke der Literatur hervorbringt.

Titelbild

Eduardo Sacheri: Warten auf Perlassi. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Matthias Strobel.
Berlin Verlag, Berlin 2010.
224 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783827008909

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Hernán Rivera Letelier: Der Traumkicker. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Svenja Becker.
Insel Verlag, Berlin 2012.
207 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783458175339

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