Zwischen Thale und Potsdam, Moskau und Vientiane

In seinem neuen Roman „Der Genosse, die Prinzessin und ihr lieber Herr Sohn“ erzählt André Kubiczek mehr als die Geschichte einer deutsch-laotischen Familie

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seine E-Mails unterzeichnet der Ich-Erzähler von André Kubiczeks neuem, seinem fünften Roman mit dem Kürzel K; Kubi wird er von seinen Freunden gerufen. Deutliche Hinweise darauf, dass es der Leser bei „Der Genosse, die Prinzessin und ihr lieber Herr Sohn“ mit einem autobiografisch inspirierten Erzählwerk zu tun hat. Es ist die Geschichte einer Familie, die zeitlich bis in die 1960er–Jahre zurückreicht. Und in der Tat wird, wer sich die Mühe macht, die Lebensstationen des Autors mit denen seines Helden zu vergleichen, auf zahlreiche Parallelen stoßen. Also mehr Erinnerung als Erfindung? Wir wissen es nicht, ahnen aber, dass Erinnerung und Erfindung durchaus nicht immer so streng voneinander geschieden sind, als man das der Ordnung halber gerne hätte. Denn so manches ins Gedächtnis Zurückgerufene hält der genaueren Nachforschung ebenso wenig stand, wie Erdichtetes lediglich dem Zauberreich der Fantasie angehört.

K. also, Kubi. Halb Laote, halb Deutscher mit DDR-Background. Der Vater ein linientreuer Genosse. Die Mutter aus einer angesehenen laotischen Familie – für kurze Zeit repräsentiert ihr Vater das Land sogar als dessen Außenminister –, die der Sohn erst kennenlernt, als er sich nach der Jahrtausendwende zu seinen fernöstlichen Wurzeln aufmacht. Diese Reise nach Vientiane, mit der Kubiczeks Roman beginnt und endet, umschließt eine façettenreiche Geschichte, in der der Berliner Autor seinem Erzähltalent gelegentlich die Zügel so schießen lässt, dass man als mitgerissener Leser Mühe hat, Orte und Zeiten auseinanderzudividieren.

Doch das ist Programm. Und schon die erste Zeile des Romanmottos, die der Autor ganz bewusst von ihrem Kontext, einem Songtext der isländischen Sugarcubes“ um die Sängerin Björk, trennt, argumentiert in diese Richtung: „Deus does not exist.“ Was man – ganz im Sinne modernen Erzählens – auch auf die ordnend über dem Ganzen schwebende Instanz eines quasi „göttlichen“ Erzählers beziehen darf: Es gibt sie nicht.

Hat sich der an chronologisches Erzählen gewöhnte Leser erst einmal auf André Kubiczeks Hin- und Herflitzen zwischen den Zeiten und Orten sowie den Einsatz unterschiedlicher Textsorten, Stilschichten und Erzählgesten eingelassen, stellen sich höchstem Lesevergnügen nur noch ab und zu ein paar sperrige Brocken wie etwa ein fünfteiliger Gedichtzyklus gegen Ende des Romans in den Weg. Der Rest ist ein streckenweise brillant erzähltes Familienporträt, voller Atmosphäre und in den Details so stimmig, dass der Rezensent, der einige der erzählten Lebensstationen mit dem Helden des Romans teilt, sich gelegentlich in seine eigene (DDR-) Vergangenheit zurückversetzt fühlte – nicht immer so ganz angenehme Déjà-vu-Erlebnisse, wie er etwa in Hinblick auf die stumpfsinnige Kasernenzeit Mitte der 1980er–Jahre zugeben muss.

Großartig – und vielleicht sogar einer weiteren literarischen Bearbeitung wert – ist die Brudergeschichte am Beginn des Romans. Wie in dieser Vergegenwärtigung eines Fahrradunfalls – zwei Jahre nachdem die laotische Mutter an Krebs verstorben ist, stirbt auch der jüngere Bruder des Romanhelden an den Spätfolgen eines unglücklichen Sturzes vom Rad – das Gefühl der Schuld des Älteren ins Spiel gebracht wird, ohne dass der Begriff „Schuld“ je fällt, ist nicht nur große, sondern auch berührende Kunst.

Zur Erzählzeit des Romans übrigens gehört seine Hauptfigur jenem Milieu an, dem Gegenwartssoziologen den Namen „Prekariat“ verliehen haben. Mehr schlecht als recht schlägt er sich durch, genauso enttäuscht von den Zeiten nach der Wende wie von jenen davor. Die Reise ins ferne Vientiane – gesponsert von einem Freund, wie er nach der Ankunft in Laos erfährt – führt deshalb tatsächlich zurück in den Schoß seiner Familie und damit zu einem Punkt des Neuanfangens. Wenn der Roman endet, ist jedenfalls keine Rede mehr vom fernen Deutschland, weder dem über vierzig lange Jahre geteilten noch dem wiedervereinigten, aus dem Kubiczeks Held gerade entkommen ist. Denn indem ihn seine Verwandten fraglos und mit offenen Armen in ihren Kreis aufnehmen, brechen alle Brücken hin zu einer Vergangenheit, die er als Einziger überlebt hat.

Nur noch die Erinnerungen an die Großeltern im Harzstädtchen Thale, den Vater, der als Student in Moskau eine laotische Kommilitonin kennen und lieben lernte, die Mutter, die in der kalten ostdeutschen Fremde Heimweh litt und an Krebs starb, und den Bruder, dessen junges Leben bei einer besseren medizinischen Versorgung, wie sie ein paar Kilometer weiter, hinter der undurchdringlichen innerdeutschen Mauer, zu haben gewesen wäre, nicht hätte enden müssen, bleiben ihm. Sie machen diesen Roman aus. Einen Familienroman, wie ein Puzzle zusammengesetzt aus zahlreichen Episoden, heiteren und tragischen, selbst erlebten und erfragten.

Titelbild

André Kubiczek: Der Genosse, die Prinzessin und ihr lieber Herr Sohn. Roman.
Piper Verlag, München 2012.
480 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783492052344

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