Neue Nacktheit der Moderne

Über einige Paradoxien in Christian Krachts Roman „Imperium“ und in der Ästhetik des frühen 20. Jahrhunderts

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Der „Bericht“ über den Vegetarier und Nudisten August Engelhardt in Christian Krachts umstrittenem Roman „Imperium“ (siehe literaturkritik.de 3/2012) „spielt ganz am Anfang des 20. Jahrhunderts“. Der zivilisationsflüchtige Gründer einer Kokosnussplantage auf der abgelegenen Südseeinsel Kabakon in der damaligen Kolonie Deutsch-Neuguinea erscheint einigen anderen Romanfiguren als „Protagonist“ einer „nun anbrechenden neuen Zeit“, vermittelt ihnen das Bild eines „radikalen neuen Menschen“, eines „vegetarischen, gesunden, kräftigen Menschen“.

Ideen des „Neuen Menschen“, des „Neuen Lebens“ oder einer „Neuen Gemeinschaft“ werden im 20. Jahrhundert zur Obsession (siehe literaturkritik.de 1/2000). Und das Attribut „neu“ entspricht dabei den forcierten Innovationsansprüchen der Moderne (vgl. auch Dieter Lampings einleitenden Beitrag zum Schwerpunkt dieser Ausgabe) in sehr unterschiedlichen, zum Teil ganz konträren Ausprägungen. Der „Neue Mensch“ wurde im 20. Jahrhundert zum Slogan, der sich mit Sehnsüchten und Wunschträumen aller Art ausfüllen ließ. Um und nach 1900 zirkuliert er in der Schulreformbewegung ebenso wie in der Freikörperkultur, in der Wiederbelebung der Mystik ebenso wie bei den Propagandisten einer Sexualrevolution oder des Expressionismus. „Nicht die Neue Kunst, die Neue Dichtung, der Neue Geist, sondern der Neue Mensch!“ proklamierte 1918 der Expressionist Karl Otten. „Versprengt in vielen, wie Keim einer neuen Seele eines neuen Menschen, leuchtet Hoffnung auf bessere Zukunft.“

„Incipit vita nova.” Mit diesen Worten endet die Vorrede zu jenem Buch, das mit einigem Recht als wichtigster Beitrag zum philosophischen Expressionismus eingeschätzt wurde: Ernst Blochs „Geist der Utopie“. Die vielfältigen Bezüge zu religiösen Prätexten sind hier wie in zahllosen anderen Texten des Expressionismus unverkennbar. Der Aufruf zum „Neuen Menschen“ ist mit dem Aufruf zur Bekehrung, zum Umdenken, zur geistigen Erneuerung eng gekoppelt. Sie ist Voraussetzung für ein neues Leben, das sich nach altreligiösen Vorstellungen allerdings erst im Jenseits voll entfaltet. Die Neuzeit verlegte solche Heilserwartungen bekanntlich zunehmend in das Diesseits. So auch der Expressionismus. „Wir wollen, bei lebendigem Leibe, ins Paradies“, erklärte Kurt Hiller 1916 in seiner „Philosophie des Ziels“.

Im künstlerischen, intellektuellen und lebensreformerischen Milieu dieser Zeit bewegt sich das erzählte Geschehen in Christian Krachts Roman. Zum Teil gleicht die Lebensgeschichte seines Protagonisten der Paul Gaugins, dessen Südseebilder aus Tahiti im französischen Kolonialbereich Träume einer paradiesischen Welt ausmalen, in der, wie der Künstler formulierte, der „Anblick des Nackten und der ungezwungene Umgang der Geschlechter untereinander“ bei „den Wilden“ mit einer „Unkenntnis des Lasters“ einhergeht.

Gaugins Eva von 1892 (Herrliches Land/ Te nave nave fenua) zeigt wie andere nackte junge Frauen auf seinen Bildern Affinitäten zu einer seiner Partnerinnen. Die 13-jährige Tahitianerin, mit der er zeitweilig zusammenlebte und die ihm häufig als Modell diente, ähnelt wohl nicht zufällig dem „vielleicht dreizehnjährigen Jungen“, der in Krachts Roman zum ständigen Begleiter des Protagonisten wird.

Als August Engelhardt die Insel mit der Kokosnussplantage in Besitz nimmt und am Sandstrand kniet, erscheint er den Eingeborenen wie ein „frommer  Gottesmann, der dort vor ihnen betete, während er uns Zivilisierten vielleicht an eine Darstellung der Landung des Konquistadoren Hernán Cortés am jungfräulichen Strande von San Juan de Ulúa erinnert, allerdings gemalt, falls dies denn möglich wäre, abwechselnd von El Greco und Gaugin, die mit expressivem, schartigem Pinselstrich dem knienden Eroberer Engelhardt abermals die asketischen Züge Jesu Christi verleihen.“

Gleich im nächsten Absatz benutzt Kracht dann ausdrücklich den Begriff, der schon damals und noch heute das bezeichnet, was in dem Roman das zentrale Thema und Problem ist: „die Moderne“.

Der Erzähler reflektiert die ganz unterschiedlichen Möglichkeiten, das beschriebene Szenario einzuschätzen, und sieht darin etwas für die Moderne Symptomatisches: „Diese Splitterung der Realität in verschiedene Teile war indes eines der Hauptmerkmale jener Zeit, in der Engelhardts Geschichte spielt. Die Moderne war nämlich angebrochen, die Dichter schrieben plötzlich atomisierte Zeilen; grelle, für ungeschulte Ohren lediglich atonal klingende Musik wurde vor kopfschüttelndem Publikum uraufgeführt, auf Tonträger gepresst und reproduziert, von der Erfindung des Kinematographen ganz zu schweigen […].“

Engelhardt sei davon nicht berührt gewesen, erklärt uns der Erzähler, „da er ja gerade auf dem Weg war, sich nicht nur der allerorten beginnenden Moderne zu entziehen, sondern insgesamt dem, was wir Nichtgnostiker als Fortschritt bezeichnen, als, nun ja, Zivilisation. Engelhardt tat einen entscheidenden Schritt nach vorne auf den Strand – in Wirklichkeit war es ein Schritt zurück in die exquisiteste Barbarei.“

Wie hier spielt der ganze Roman mit geläufigen Gegenüberstellungen von Modernität und Antimodernität, Fortschritt und Rückschritt, Zivilisation und Barbarei. Zu den oft irritierenden und dabei auch komischen Reizen und Verdiensten dieses Romans gehört es, die mit solchen Gegenüberstellungen vorgenommenen Grenzziehungen, Bewertungen und Positionierungen mit ständig wechselnden Perspektivierungen zu relativieren, ihre Widersprüche und Paradoxien aufzuzeigen.

Engelhardt, selbst insofern ein Repräsentant der Moderne, als auch er Visionen einer besseren Zukunft entwirft und zu realisieren versucht, steht in vieler Hinsicht den zivilisationskritischen Impulsen der ästhetischen Moderne um und nach 1900 nahe. Den Ansprüchen der Kolonialmächte, den „primitiven“ Kulturen die überlegenen Errungenschaften der modernen Zivilisation zu vermitteln, begegnet er mit vehementen Aversionen. Der Habitus der zivilisierten Kolonisatoren erscheint ihm in vieler Hinsicht barbarisch, das in der westlichen Zivilisation übliche Töten von Tieren bewertet der Vegetarier als Nähe zur Menschenfresserei. Ob „nicht die dunklen Rassen den weißen um Jahrhunderte voraus“ seien, sinniert er und zeigt damit: Auch er will Fortschritt, aber seine Vorstellung davon steht im Gegensatz zum Forschrittsbegriff der Apologeten und Repräsentanten der „sogenannten Zivilisation“.

Ähnlich wie Engelhardt im Roman suchten die Repräsentanten der ästhetischen Moderne Fortschritte vielfach in Rückgriffen auf das, was dem zivilisatorischen Fortschritt voranging. Wilhelm Worringer gebrauchte in einem frühen Aufsatz über die Kunst des Expressionismus die paradoxe Wendung „moderne Primitivität“ und erklärte: „Dieser Erwachsenenhochmut des europäischen Kulturmenschen aber beginnt heute wankend zu werden und der wachsenden Einsicht in die elementare Großartigkeit primitiver Lebens- und Kunstäußerungen zu weichen“ . Der von Franz Marc Mitte Januar 1912 verfasste Subskriptionsprospekt zum Almanach „Der Blaue Reiter“ verweist auf die „feinen Verbindungsfäden“ der neuesten Malerei mit „den Primitiven, mit Afrika und dem großen Orient“ oder auch mit der „Kinderkunst“. In Krachts Roman halten einige Franzosen Engelhardt denn auch „für einen dem Primitivismus frönenden Kunstmaler, eine deutsche Version ihres Gaugins“.

Wie dieser Roman integriert die ästhetische Moderne in solche Paradoxien auch den Umgang mit Nacktheit und Bekleidung. In einem Brief an Max Brod berichtete Kafka aus dem Urlaub: „Ich fahre viel auf dem Motorrad, ich bade viel, ich liege nackt im Gras am Teiche, bis Mitternacht bin ich mit einem lästig verliebten Mädchen im Park.“ Auch mit dieser wenig bekannten Seite war der Briefschreiber Kafka ein Autor der ästhetischen Moderne. Die Wünsche nach Befreiung der Nacktheit und mit ihr auch die der Sexualität  von den Hüllen und Zwängen der Zivilisation sowie das Unbehagen in einer Kultur, die den modernen Subjekten auf Kosten ihrer Vitalität eine neurotisierende Selbstdisziplinierung affektiver Bedürfnisse abfordert, prägten die ästhetische Moderne.

Der Dichter und Maler Paul Scheerbart schrieb um und nach der Jahrhundertwende mit seinen Zukunftsvisionen von einer licht- und blickdurchlässigen „Glasarchitektur“ dem Glas eine ähnlich wunderbare Wirkung zu wie Krachts Protagonist der Kokosnuss: „Das neue Milieu, das wir uns dadurch schaffen, muß uns eine neue Kultur bringen.“ 1902 ließ Scheerbart im Rahmen seines „phantastischen Nilpferdromans“ mit dem Titel „Immer mutig!“ unter der Überschrift „Nackte Kultur“ in Afrika einige europäische Volksredner auftreten, die wiederum in der Nacktheit das künftige Heil der Menschheit sehen:

„Schwarze Menschen!“ hatten die Volksredner gesagt, „Ihr müßt eine neue Kultur begründen. Laßt Euch von den Europäern nichts weis machen. Die Europäer sind mit ihrer unnatürlichen Kultur sehr unzufrieden, da die vielen Kleidungsstücke den ganzen Menschen beengen. Werdet wieder nackt, wie ihr einstmals waret – und Ihr werdet plötzlich an der Spitze einer neuen Kultur stehen – an der Spitze der nackten Kultur – der ,natürlichen’ Kultur – die dem Menschen gestattet, frei zu leben – frei von allem Plunder. Es lebe hoch der nackte Mensch mit der splitternackten Kultur! Hört Ihr schon was näher kommen? Hört Ihr’s noch nicht? Es sind die Maler und Bildhauer, die da kommen! Sie eilen aus allen Erdteilen herbei und wollen sich bei Euch niederlassen – da sie im nackten Menschen das ächte wahre Kulturideal erblicken.

Im Kontrast zur Verklärung neuer, alter Nacktheit schrieb die Moderne in Kunst und Literatur der Nacktheit zugleich auch einen symbolischen Wahrheitswert zu, der sich im Rahmen einer Ästhetik des Hässlichen gegen den klassizistischen Schönheitskult richtete. 1919 forderte Iwan Goll ein „neues Drama“ und bediente sich dabei der Metapher der Nacktheit: „Die Menschen und die Dinge werden möglichst nackt gezeigt werden und, zur besseren Wirkung, immer durch das Vergrößerungsglas“. Diese Ästhetik der Nacktheit hat Anteil an den damals in Kunst, Philosophie, Wissenschaft und Technik gemeinsam, doch auf unterschiedlichem Terrain und mit divergierenden Methoden betriebenen Versuchen, das unter einer Oberfläche Verborgene zu entdecken, das Unsichtbare sichtbar zu machen: die (,schmutzige’) Wahrheit des Unbewussten unter der Oberfläche des Bewusstseins (Psychoanalyse), das Verschüttete unter der Erdoberfläche (Archäologie), das ,Wesen’ hinter den Erscheinungen, das Innere des Körpers unter der äußeren Haut (Endoskopie und Röntgentechnik), den nackten Körper unter seinen Verhüllungen.

Die „Morgue“-Gedichte Gottfried Benns von 1912 sind dafür ein Beispiel: „Komm, hebe ruhig diese Decke auf. / Sieh: dieser Klumpen Fett und faule Säfte.“ Was in Gottfried Benns „Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke“ an nackter Wahrheit von der Decke verborgen war, soll sichtbar werden.

Das Nackte in der modernen Kunst und Literatur ist also einerseits attraktives Objekt unsublimierter Wahrnehmung von Schönheit, Gesundheit, Vitalität und Freiheit, andererseits macht es auf desillusionierende Weise ungeschminkte und unverhüllte Wahrheiten sichtbar. In Krachts Roman ist der nackte Körper des Nudisten, der auf seiner Insel zunächst „durch die gesunde Lebensweise drahtig und muskulös“ erscheint, gegen Ende von Krankheitssymptomen gezeichnet. Die Heilslehren des Protagonisten schlagen um in Selbstdestruktion. Dem Protagonisten des Romans werden von Beginn an Affinitäten zu Jesus und zu Hitler zugeschrieben. Er wird zunehmend verrückt und „unversehens zum Antisemiten“. Die ästhetische Moderne war in ihrer Suche nach dem „neuen Menschen“ offen für ganz unterschiedliche Möglichkeiten und Entwicklungen. Und sie war dabei anfällig auch für totalitäre Konsequenzen. Sie entwickelte aber zugleich Fähigkeiten, sich ihnen zu widersetzen.