Feldzug ohne klare Zielsetzung

Adam Zamoyski entwirft das erschütternde Bild eines menschenverschlingenden Unternehmens, das Napoleon aus tiefer Ratlosigkeit wagte

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Napoleons Feldzug gegen Russland war das größte militärische Desaster des 19. Jahrhunderts und der Anfang vom Ende seiner beispiellosen Karriere als Beherrscher Europas. Es erstaunt daher nicht, dass Russlands unerwarteter Sieg und der Untergang der Grand Armée einen Kanon von Mythen und Entstellungen hervorgebracht haben, die bis zum heutigen Tag hartnäckig das Bild des Epochenjahres 1812 prägen: Darin fügen sich der große Rückzug, der Brand von Moskau und der geschlossene Widerstand des russischen Volkes zu einer kühnen Strategie der verbrannten Erde zusammen, die es tatsächlich nie gegeben hat. Der britische Historiker Adam Zamoyski hat nun in seiner nach klassischem Muster angelegten Historiografie der Ereignisse von 1812 herausgestellt, dass keine der beiden Kriegsparteien über ein klares Konzept der Kriegführung verfügte. Weder hatte Napoleon jemals geplant, die alte russische Hauptstadt zu besetzten, noch der stets unsichere Zar Alexander, große Teile seines europäischen Territoriums kampflos dem Angreifer zu überlassen. Trotz der noch wachen Erinnerung an den Sieg Peters des Großen über den Schwedenkönig Karl XII. im Jahre 1709 hätte die öffentliche Meinung in der Hauptstadt Petersburg eine vergleichbare Vorgehensweise ebenso wenig gebilligt wie der russische Adel auf dem Lande. Auch war es nicht die durch zahllose Siege gesteigerte Hybris des Korsen, die den großen Krieg ausgelöst hatte, wie Zamoyski klar zeigen kann, sondern eher der provozierende Aufmarsch der russischen Armee an der Grenze zu Polen. Napoleon brauchte Zar Alexander als Verbündeten, als jenen Partner gegen das widerspenstige Großbritannien, den er im Frieden von Tilsit gewonnen zu haben glaubte, der aber jetzt eine zunehmend antifranzösische Politik verfolgte und sogar sein europäisches Imperium gefährdete.

Mit welchen Mitteln jedoch der junge Monarch wieder gefügig gemacht werden konnte, war für den Sieger von Austerlitz alles andere als klar. So entpuppte sich im Rückblick der Marsch der bis dahin größten Armee Europas auf Witebsk, auf Smolensk und schließlich auf Moskau als reine Verlegenheitslösung. Die Armeen der beiden damals größten europäischen Mächte hungerten und litten in Schlachten und Scharmützeln, auf endlosen Märschen, in quälender Hitze, strömendem Regen und zuletzt in klirrendem Frost, während ihre Führer in Ratlosigkeit und Lethargie versanken.

Napoleon habe, so Zamoyski zugespitzt, die größte Armee aufgeboten, welche die Welt bis dahin je gesehen hatte, ohne jedoch ein bestimmtes militärisches Ziel zu haben. Nur einen entscheidenden Sieg habe er über die Russen erringen wollen, einen jener Siege, die bisher noch jeden seiner Feldzüge entschieden hatten, doch als sich ihm endlich die Chance dazu bei Borodino bot, griff er nicht zu. Ziellose Kriege aber können, so der britische Historiker mit polnischen Vorfahren, nicht gewonnen werden.

Für seine Darstellung greift Zamoyski auf einen ungewöhnlich reichhaltigen Fundus an Memoiren und Briefen von Kriegsteilnehmern zurück, in denen das Desaster von 1812 in einem veränderten Licht erscheint. Tatsächlich war schon der Marsch nach Moskau für Napoleons Armee verlustreicher als ihr späterer Rückzug und trotz des großen Brandes, den der Stadtpräfekt und Franzosenhasser Fjodor W. Rostoptschin in eigener Verantwortung hatte legen lassen, bot Moskau den Invasoren immer noch ausreichend Schutz und Regenerationsmöglichkeiten. Auch waren längst nicht alle Russen und schon gar nicht die einfachen Bauern grundsätzlich Feinde der Franzosen, so dass auch der bis heute beliebte Mythos des großen Volkskrieges gegen die Invasoren aus dem Westen Abstriche hinnehmen muss. Unter straffer Führung Napoleons hätte der Krieg gegen Russland selbst noch nach dem Rückzug aus Moskau nicht zu jener militärischen Katastrophe eskalieren müssen, die im Folgejahr den so genannten Befreiungskrieg auslöste. Doch diese Führung fehlte einfach. Der Napoleon des Jahres 1812 war ein meist ratloser Feldherr, dem von seinen früheren Erfolgen nur noch eine selbstbetrügerische Siegesgewissheit übrig geblieben war, aber immerhin auch jenes unerschütterliche Charisma, das ausreichte, seine Truppen trotz widrigster Umstände bis nach Moskau und vielleicht sogar noch weiter marschieren zu lassen. Zamoyksi hat sein großes Thema in allerbester angelsächsischer Erzähltradition geschultert und Ereignisse, Analysen sowie die oft drastischen Bilder eines ungewöhnlich brutalen Feldzuges zu einer eindrucksvollen Gesamtschau verwoben, die mit einem kurzen Ausblick auf den Frühjahrsfeldzug von 1813 endet. Es dürfte auf lange Sicht das Standardwerk zum Krieg von 1812 bleiben.

Titelbild

Adam Zamoyski: Napoleons Feldzug in Russland.
Aus dem Englischen von Ruth Keen.
Verlag C.H.Beck, München 2012.
720 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783406631702

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch