Schnelles Wachstum

Oleg Kaschins Roman „Es geht voran“ ist eine beißende Satire auf die russische Wirklichkeit

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Geschichte beginnt auf einem Flughafen – und dort wird sie später auch enden. Karpow, 29-jährig, verheiratet, kinderlos, hat ein Serum entwickelt, mit dessen Hilfe der Wachstumsprozess von Lebewesen deutlich beschleunigt werden kann. Nun steht die entscheidende Testphase an: Moskau scheint dem Hobbyforscher dafür nicht mehr sicher genug zu sein, weswegen er sich mit seiner Frau Marina in eine Provinzstadt in der südrussischen Steppe absetzt. Hier hatte Karpow seine Kindheit verbracht, hier erhofft er sich die nötige Ruhe und Diskretion, um seine Arbeit zu vollenden. In einem angemieteten Schuppen experimentiert er zunächst an Ratten, später an auch an größeren Tieren wie jungen Katzen, Ziegen und sogar Kälbern. Erste Erfolge bestätigen Karpow, dass er sich auf dem richtigen Weg befindet. Dann aber steht der wichtigste Schritt an. Karpow gewinnt einen Liliputaner aus dem örtlichen Zirkus für seine Pläne, und siehe da: Auch die Anwendung am Menschen ist von Erfolg gekrönt. Nach einer Injektion des gelblichen Serums wächst der Artist Wassja nämlich innert weniger Tage zu durchschnittlicher Größe heran. Dass Wassja deswegen sogleich den Job verliert, kümmert ihn nur noch wenig. Zu groß ist bei ihm die Freude darüber, dass er fortan der anthropometrischen Norm entspricht.

An dieser Stelle fängt die Geschichte allerdings erst richtig an. Was nun nämlich folgt, ist eine rasant erzählte Satire auf zahlreiche Facetten der gegenwärtigen russischen Wirklichkeit mit ständig wechselnden Schauplätzen. Trotz Karpows Vorsichtsmaßnahmen bekommen bald mehrere Menschen Wind von seiner Entdeckung und versuchen, ihm das Serum mit allen möglichen Mitteln abzuluchsen. Das Ganze zieht immer weitere Kreise. Die Beweggründe und Eigeninteressen derjenigen, die sich an dieser Jagd beteiligen, sind ebenso vielfältig wie die Methoden, die sie anwenden, um ihr Ziel zu erreichen. Fleischhändler erhoffen sich deftige Gewinne, falls sie das Geheimrezept des Serums ergattern, Kleinwüchsige träumen von einem Leben in Normalität und die Medien wittern selbstverständlich einen Knüller. Auch Alkoholiker und Ärzte werden – bisweilen nolens volens – in die Geschichte verstrickt.

Die Dimensionen werden vollends gesprengt, als auch Oligarchen und die mit ihnen verbandelte Politik ins Wettrennen um die Erfindung einsteigen. Die Vorgehensweise wird brutaler, die Projekte erschreckender: Polittechnokraten missbrauchen das Serum, um eine „Armee“ willenloser und willfähriger Bürger auf kindlichem Entwicklungsstand heranzuzüchten, über die man als politische Manipuliermasse verfügen kann. Spätestens mit dieser „Kinderfarm“ erhält Oleg Kaschins satirischer, witziger und ansonsten leichtfüßiger Roman „Es geht voran“ auch eine überaus düstere Komponente, die in eine apokalyptische Zukunft weist.

Dass die Geschehnisse dem etwas unbedarften, wenn auch nicht gänzlich naiven Karpow bald über den Kopf wachsen, war natürlich zu erwarten. Sein Schuppen wird abgefackelt, sein Leben gerät arg aus den Fugen. Doch ist Karpow selber eine zwiespältige Figur: Er wird manipuliert und manipuliert auch selbst. Bald wird ihn seine Frau verlassen, um die er sich in letzter Zeit kaum noch gekümmert hat.

Die „wachstumsfördernde Substanz auf Erdölbasis“ ist in Kaschins kurzem Roman nicht nur eine wundertätige Flüssigkeit, die allseits Begehrlichkeiten weckt. Das Serum wird darüber hinaus zu einer Metapher für die russische Wirklichkeit, wie Kaschin sie wahrnimmt: In einem Land, das sich von seinen Rohstoffen vollends abhängig gemacht hat, geht es vielen nur noch um die Frage, wie das Wachstum im eigenen Portemonnaie gefördert werden kann.

Oleg Kaschin hat sich als kritischer Journalist einen Namen gemacht. Vor knapp zwei Jahren war er auch hierzulande in den Medien, nachdem er vor seiner Wohnung in Moskau attackiert und schwer verletzt worden war. Kurz zuvor hatte Kaschin das Manuskript des vorliegenden Romans – es ist sein erster – bei seinem Moskauer Verlag „Ad marginem“ eingereicht. Ob hier ein Zusammenhang besteht, ist allerdings schwer zu beurteilen. Kaschin teilt in seinem Roman auf jeden Fall viel aus, seine Spitzen richten sich gegen ganz reale Figuren der russischen Öffentlichkeit, wie etwa Igor Setschin, den ehemaligen Berater von Präsident Putin, oder Wladislaw Surkow, den früheren Chefideologen des Kreml. Doch sind sie bei weitem nicht die einzigen, die Kaschin ins Visier nimmt: Auch die Glamour-Welt der Moskauer Elitevororte an der Rubljowka bekommt ihr Fett ab. Das alles ist nicht nur überaus deutlich, sondern vom Autor auch mutig.

Kaschins Satire könnte man vielleicht als einen Thesenroman bezeichnen, dem es weniger um die erzählerische Ausgestaltung, als um die Vermittlung einer bestimmten Idee geht. Kaschin zeigt uns die wirtschaftliche und politische Elite Russlands als korrupte und wachstumsbesessene Clique, die nur am eigenen Wohlergehen und am Machterhalt interessiert ist und dafür über Leichen geht. In die Entwicklung des Landes und in die breite Bevölkerung wird hingegen schon längst nicht mehr investiert. Mit fatalen Folgen, wie der Autor festhält: „Die Entengrütze der Stagnation schloss sich über ihren Köpfen.“ Mit Russland geht es nicht mehr voran.

Die handwerklichen Aspekte des Romans waren dem Autor wohl weniger wichtig. Tatsächlich kann man dem Roman ein paar erzähltechnische Schwächen vorwerfen. So wird die Handlungselemente bisweilen allzu sprunghaft miteinander verknüpft: An mehreren Stellen („Marina wusste sofort“; „Karpow wusste auf einmal“, und so weiter) wird das Geschehen recht künstlich vorangetrieben. Auch schwankt die Erzählperspektive zwischen mehreren Figuren hin und her, was an und für sich noch nicht problematisch sein muss und in diesem Fall sogar zur Lebendigkeit des Romans beiträgt. Doch verschiedentlich lässt sich ein übergeordneter und personalisierter Ich-Erzähler vernehmen, der einen Teil der Geschichte von Marina erfahren haben will. Woher er aber auch die Innenwelt der zahlreichen anderen Figuren kennen kann, wird im Roman nicht näher erklärt.

Eine Schwierigkeit bei der Lektüre des Romans ergibt sich durch die mannigfachen Anspielungen auf reale Figuren der russischen Kultur, Politik und Wirtschaft, sowie auf Begebenheiten der letzten Jahre, die beim durchschnittlichen deutschen Publikum kaum vorausgesetzt werden können. Der Roman muss hier zwangsläufig einen ganzen zusätzlichen Resonanzraum verlieren, was gerade bei der erwähnten hohen Erzählgeschwindigkeit zum Problem werden kann. Der satirische Gehalt als solcher ist daher im Roman nur teilweise erfassbar. Die Übersetzerin Franziska Zwerg hat zwar mithilfe von ein paar Fußnoten versucht, hier gegenzusteuern. Doch dies sind letztlich nur ein paar Tropfen auf den heißen Stein.

Titelbild

Oleg Kaschin: Es geht voran. Roman.
Übersetzt aus dem Russischen von Franziska Zwerg.
Aufbau Verlag, Berlin 2012.
153 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783351033835

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