Fast ein Schiffbruch mit Tiger

Carol Birchs Südseetragödie lässt ihrem Helden den „Atem der Welt“ spüren

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Der Schiffbruch, als überstandener, ist die Figur einer philosophischen Ausgangserfahrung“, schreibt Hans Blumenberg in „Schiffbruch mit Zuschauer“. Was überhaupt Besitz in Grenzsituationen wert ist, wie viel ein Menschenleben dann zählt, wenn es ums Überleben Anderer geht, wie stürmisch die Lebensreise ist und wie sinkbar ein Staatsschiff: Die Metapher des Schiffbruchs ist eine wahre epische Fundgrube. Auch die 1951 in Manchester geborene, heute in Lancashire lebende Romanautorin Carol Birch kann sich da reichlich bedienen. „Der Atem der Welt“ heißt die deutsche Übersetzung ihres 2011 mit dem Man Booker Prize ausgezeichneten Romans „Jamrach’s Menagerie“.

Was man aus dem ästhetisch wie existentiell vielbelangten Bild des Schiffbruchs machen kann, hat zuletzt meisterhaft Yann Martells „Schiffbruch mit Tiger“ bewiesen, eine Abenteuergeschichte, die sich auch als interreligiöse Parabel lesen ließ. Exotik und Zoologie, Schiffbruch auf hoher See und die Krise der Moral unter den Überlebenden: Diesen Zutaten verdankt auch Birchs Roman seine Spannung, die den Leser tatsächlich bis zum Ende um das Schicksal des Helden bangen lässt, sich aber bis zu diesem Kapitel durch einige trockene Strecken quälen muss.

Der Held, das ist der achtjährige Jaffy Brown, der im schmutzigsten Viertel von London geboren worden ist und auf einmal, wir schreiben das Jahr 1857, die Chance seines Lebens erhält. Auf dem Ratcliffe Highway im späteren Londoner Eastend – die Straße spielt eine prominente Rolle in der britischen Kriminalgeschichte – begegnet er einer goldenen „Katze“ von der „Größe eines kleinen Pferds“, mit schneeweißer „breiter Brust“ und Tatzen in der „Größe von Schemeln“. Furchtlos streichelt er die Nase der gottlob zuvor gut gefütterten Kreatur, die ihn träge umwirft und kurz ins Maul nimmt. Doch Jaffy wird vom Besitzer des Tigers gerettet und zum Trost mit einem Job in der Menagerie von Charles Jamrach versorgt, der als „Naturforscher und Importeur von Säugetieren, Vögeln und Muscheln“ die Lust des Jungen auf die weite Welt weckt.

Das Abenteuer beginnt, als Jaff wenig später als blutjunger Matrose auf einem Walfänger anheuert, befeuert von der verrückten Idee eines von Jamrachs Kunden, einen Drachen zu fangen. Dieser Coup in der südostasiatischen Wildnis ist einer der Höhepunkte des Romans. Der „Drache“ ist ein namenloses, zoologisch nicht zuzuordnendes, raubtierhaftes Hybridgeschöpf, ein „riesiges, bräunlich grünes Wesen mit schwarzem Kopf und schwarzen Beinen, größer und länger als ein Tiger, aber niedriger, nur die mächtige Brust und den Kopf richtete es ebenso hoch auf, und hinter sich her zog es eine gewaltige Waffe aus Schwanz“. Offenbar ist der „Drache“ als Fabelwesen in die Geschichte hineingekommen, das auf die metaphysischen Urgründe der Schiffsuntergangserzählungen hinweist, und als Fabelwesen schwimmt er auch wieder davon.

Nicht so die Schiffsbesatzung. Die Katastrophe ereignet sich bei einer gewaltigen Windhose. Das Schiff sinkt, zwölf Mann kämpfen auf zwei Booten mit knappen Wasservorräten, zwei Schweinen, einem Quadranten, zwei Kompassen und zwei Pistolen ums Überleben. Doch trotz bald ausbrechenden Kannibalismus beschreibt Birch hier kein Floß der Medusa, sondern den Versuch, in einer absoluten ethischen Kippsituation dem Menschen noch einen Rest an Menschsein zu lassen. Jaffy erschießt – nach gemeinsam gebilligtem Losentscheid der letzten vier Überlebenden – seinen besten Freund Tim.

Das Ende aber ist nicht grausig, sondern voller „Schmerz und Trauer“. Jaffy wird gerettet, kehrt heim, fällt in einen 65tägigen Dämmerzustand, sieht seine Mutter und seine aus zwielichtigem Milieu stammende Jugendliebe Ishbel wieder. Die hobbyzoologische Faszination bleibt: Er züchtet und zeichnet Vögel. Es bleibt ihm schrecklich viel „Zeit zum Schauen“, rückwärts und vorwärts. Er hat das Fallen und Steigen der Wellen im Kopf und den „Atem der Welt“ gespürt.

„Jamrach’s Menagerie“ hat ein reales Vorbild, die Havarie des Walfängers geht auf den Untergang der „Essex“ 1820 (die Herman Melville zu „Moby Dick“ inspirierte) zurück, und die verabredete Freundestötung hat es tatsächlich gegeben. Carol Birch macht daraus ein durchaus spannendes Südseeabenteuer, während die Coming-of-Age-Geschichte im Gewand des historischen Romans nicht immer überzeugt und die moralische Katastrophe etwas zu humanisierend eingeweißt wird. Der junge Held und zugleich Ich-Erzähler hat am Ende zu viel Zeit zu schauen, so dass es ihm schwerfällt, das Schreckliche noch des Schönen Anfang werden zu lassen. Birchs Roman zeigt, dass in Zeiten von Luxuskreuzfahrt und GPS die „demiurgische Robinson-Sehnsucht der Neuzeit“ (Blumenberg) in eine moralische Schieflage geraten ist.

Titelbild

Carol Birch: Der Atem der Welt. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Christel Dormagen.
Insel Verlag, Frankfurt. a. M. 2012.
400 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783458175445

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