Das verschwundene Kamel aus Stein

Über „München. Geheimnisse einer Stadt“ von Michael Althen und Dominik Graf

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im August 1999 geht ein 37-jähriger Mann in der Umgebung des Bonner Platzes im Münchner Stadtteil Schwabing spazieren. Es ist die Gegend seiner Kindheit. Eine Geschäftszeile mit einer Tankstelle und einigen Garagen wird gerade abgerissen. Und obwohl er dem Abgerissenen keineswegs nachtrauert – „nicht schade darum“ – hat er doch das Gefühl, ein Stück seiner persönlichen Erinnerung werde abgerissen. Auf dem Spielplatz hinter dem Abrissgelände stand in seiner Kindheit ein steinernes Kamel, dessen Rücken dem Buben als Rutsche diente, und auf der er sich immer den Hosenboden aufriss. Nun ist auch das Kamel fort, eine normale Rutsche hat es ersetzt. Der Erwachsene fragt sich: „Wo landet so ein riesiges, drei Meter langes Steinkamel?“ Und zu Hause blättert er die Fotoalben durch und findet kein einziges Bild, auf dem das Kamel zu sehen ist. Es ist verschwunden, so wie die Kindheit eben auch. Der Mann fragt sich: „Warum ist es so wichtig, sich an dieses sinnlose Ding zu erinnern?“ Wer sowas für unwichtig hält, möge ab hier die Lektüre einstellen und – angeblich – Besseres tun.

Wem jedoch solche Fragen wichtig sind, kann ein Schatz versprochen werden, ein filmisches Meisterwerk der subjektiven Erinnerungsarbeit. Die Rede ist von der soeben erschienenen DVD-Version des Films „München – Geheimnisse einer Stadt“, den der Filmkritiker Michael Althen zusammen mit dem Filmemacher Dominik Graf drehte und erstmals im Jahr 2000 beim Filmfest München zeigten: „stehende Ovationen. Das Publikum bejubelte die subjektive Großstadt-Studie“ („Süddeutsche Zeitung“). Der Film wurde wenige Male im Bayerischen Fernsehen ausgestrahlt und führte seitdem eine beinah geheime Existenz. Bis heute bewahre ich meine VHS-Aufzeichnung einer Ausstrahlung des BR von Silvester 2001 wie einen persönlichen Schatz auf. Die anschließende Nachrichtensendung „Rundschau“, die ich offensichtlich mitgeschnitten hatte, zeigt den energischen Palästinenserführer Jassir Arafat und den segnenden Papst Johannes Paul II., – auch sie beide sind inzwischen verschwunden von der Bühne der Lebenden. Wie oft mag ich diesen Film schon gesehen haben? Einige Male habe ich ihn guten Freunden ausgeliehen, wie sehr zögerte ich, als ein Freund, bevor er ganz nach Hongkong wegzog, ihn kopieren wollte, aus Angst, dass meiner Kassette was passieren könnte.

Darum verstehe ich sehr gut, was Dominik Graf in seinem Beitrag „Die träumenden, singenden Orte“ zu dem Booklet der DVD-Version geschrieben hat: „Es ist wichtig, dass manche Filme verschwinden, so wie sie gekommen sind. […] Und manchmal ist das Verschwinden auch eine Art Schutz gegen den Blick der herrschenden Jetzt-Zeit mit all ihren Geschmäckern und Tendenzen. Filme können gut in einem Geheimarchiv versteckt werden. Bis sie ein bestimmter Blick vielleicht wieder zum Leben erweckt. So wie die versunkenen Orte der Städte.“

Nun ist dieser Film aus dem Geheimarchiv der verschwundenen Filme geholt und auf einen Silberling gepresst worden. Und alle dürfen ihn kaufen, ansehen und beurteilen. Ein eigenartig ambivalentes Gefühl ergriff mich schon bei der Ankündigung dieses Plans. In meinem Nachruf auf Michael Althen hatte ich über diesen Film geschrieben, dass er mich mit meiner eigenen Zu-Neigung zu diesem hassgeliebten Biotop meiner Heimatstadt versöhnt habe. Und nun soll jede und jeder diesen Film sehen dürfen, darf das überhaupt sein? Dürfen diesen Film jetzt Menschen sehen, die mit München gar nichts verbindet, die nur die totfotografierten Sehenswürdigkeiten kennen, die diese Stadt vielleicht sogar nur vom Hofbräuhaus und vom Oktoberfest her glauben zu kennen?

Nachdem ich den Film auf der DVD nochmals angesehen habe, ist meine Sorge kleiner geworden. Denn diejenigen, vor deren unwissenden Blicken und Kommentaren ich mich fürchtete, werden diesen Film entweder sowieso nicht ansehen, oder sie werden ihn nicht verstehen. Sie werden ihn vielleicht langweilig finden, langatmig, zu münchnerisch, zu altmodisch mit seiner behutsamen und ein wenig melancholischen Erzählweise. Umso besser, dann bleibt dieser Schatz allein denjenigen, die glauben, jede gefilmte Fassade, jeden Brunnen und jede steinerne Figur zu kennen, und die die im Film assoziierten Episoden und Personen mit eigenen Erinnerungen verknüpfen können, die sich selbst in diesem Film wiederbegegnen.

Insgesamt scheint mir dieser Film für zwei sehr voneinander verschiedene Gruppen von Zuschauern geeignet: Zum einen vor allem für jene Menschen, die vor 1962 geboren wurden und die eine langjährige Geschichte mit München verbindet, vor allem dann, wenn sie ihre Kindheit und Jugend dort verbracht haben, ob nun im inneren Stadtgebiet oder in den Vororten. Wer die Schwabinger Hohenzollernstraße nicht über Jahre erlebt hat, wird den Dialog zwischen Annette von Aretin, der ersten Fernsehansagerin des Bayerischen Rundfunks, die 2006 gestorben ist, und der Schauspielerin Selma Urfer – der Mutter von Dominik Graf – über eben diese Straße und ihre Bewohner einfach nicht verstehen können, und dabei die vermeintlich nebenbei erzählte Geschichte der unendlich tragischen Vater-Sohn-Beziehung zwischen den Schauspielern Rudolf und Peter Vogel ignorieren.

Solche Alt-Münchner werden nach diesen zwei Stunden betrübt sein, dass es schon vorbei ist, denn der Film ist – trotz der 100 Stunden Filmmaterial, aus dem er komponiert worden ist – viel zu kurz. Sie werden mit den Erzählern darüber sinnieren, was alles in ihrem eigenen Leben möglich gewesen war und was dann doch nicht passiert ist. Auch sie könnte jene namenlose Sehnsucht nach der Umkehrung der eigenen Lebenszeit ergreifen – zumindest so mancher Passagen darin – die den Film als ganze trägt. Und sie werden über München nachdenken und damit auch über sich selbst. Es ist ja wohl kein Zufall, dass Dominik Graf in seinem Booklet-Beitrag konsequent von dem Film nur als „MÜNCHEN“ schreibt, und dabei den Untertitel unterschlägt. Denn es ist und bleibt ein Film über München, auch wenn die Einstimmung etwas anderes verspricht: „Dies ist München, aber es könnte auch jede andere Stadt sein, die groß genug ist zu zeigen, wie die Lebensgeschichte jedes Einzelnen verstrickt ist in die Geschichte eines Ortes; wie sich das Persönliche und das Anonyme dort ineinanderschieben und ergänzen und wie die Tausenden von Geschichten auch so etwas wie eine Biografie dieser Stadt ergeben. Ob man will oder nicht, so trägt jeder seine eigene innere Stadt in sich und wie beim Baum würde ein Schnitt Altersringe sichtbar machen, die sozusagen abbilden, wie die Stadt in uns allen wächst oder andersherum: wie man selbst in die Stadt hineinwächst.“

Eben solche Gedanken mögen diesen wundervollen Film zum anderen aber auch für Menschen aus Kiel oder Konstanz, aus Wuppertal oder Weimar sehenswert machen. Auch sie sollten sich durch die herzanrührende Poesie und den dokumentarischen Reichtum dieses Filmessays ansprechen lassen. Es ist ein Film für alle Menschen, die zuweilen Phantomschmerzen der Erinnerung verspüren. Es ist also ein Film für alle, die ein Gefühl dafür entwickelt haben, dass ihre eigene Lebensgeschichte, die Geschichte ihrer sozialen Beziehungen und die Geschichte des sie umgebenden Biotops miteinander auf vielfältige Weise verwoben sind, – das kann möglicherweise sogar auf dem Dorf gewesen sein. Solche empfindsamen Menschen werden das steinerne Kamel in den Kammern ihrer Erinnerung finden und sich darüber freuen, wenn sie diesen Film sehen. Sie dürfen nur nicht nach Wiedererkennen in den Bildern suchen, sie müssen ihre eigenen Bilder darüberlegen. Sie können und müssen die Poesie dieses Films jenseits der raumzeitlichen Verortung der tiefsinnigen Münchenbilder suchen und finden, vielleicht finden sie ja ihre eigenen Bilder in den Erzählungen der beiden Münchner Buben, die ein wenig älter geworden waren, als sie ihre eigenen Erinnerungen an ihre Lieblingsorte auf Zelluloid zu bannen suchten. Immerhin, Michael Althen hat es ja auch geschafft, sich örtlich zu lösen, auch er zog weg von München-Grünwald nach Berlin, – „ausgerechnet nach Berlin“ schreibt ihm Dominik Graf ein wenig vorwurfsvoll nach.

Worum geht es also in diesem Film, zumindest auf der optischen Oberfläche? Es ist eine Collage aus zeitgenössischen Dokumentaraufnahmen aus dem Archiv des Bayerischen Rundfunks und einer Folge von fiktiven, Kurzfilmen. In den Dokumentaraufnahmen sieht man beispielsweise die Sprengung des Münchner-Kindl-Kellers in der Rosenheimerstraße, des Abrisses des Mathäser Bierpalasts mit dem darin untergebrachten Kino, man sieht die Modelle der „Hauptstadt der Bewegung“, die architektonisch nie ausgeführt wurden, man sieht Bilder jener Unglücke, die sich in das kollektive Gedächtnis der Stadtbewohner eingegraben haben (1960 Flugzeugabsturz Paulskirche, 1971 Banküberfall Prinzregentenstraße, 1972 Palästinenser-Attentat Olympiadorf, 1980 Bombenattentat Oktoberfest, 1994 Busunglück Truderinger Bahnhof).

Die Kurzfilme, die den Film in der ursprünglichen Fassung in fünf Kapitel gegliedert hatten – „Der warme Kern“, „Der dunkle Partner“, „Der Roman der Blicke“, „Das goldene Gesicht“, „Die blassen Schatten“ – sind nun auf der DVD auf 31 kurze, ebenfalls benannte Kapitel eingeteilt worden. Von diesen Episodenfilmen seien nur jene sechs knapp angedeutet, die mir persönlich am liebsten sind:

Da ist jene historisch belegte Geschichte von dem Stadtmodell des Johann Baptist Seitz (1786-1850), dem Hauptschöpfer eines topo-plastischen, relativ maßstäblichen Stadtmodells aus Birnbaumholz, das heute im Bayerischen Nationalmuseum zu besichtigen ist. Durch dieses Modell fährt die Kamera und zeigt uns jedes Haus und jede Straße jener noch von Mauern umschlossenen bayerischen Haupt- und Residenzstadt, wie sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts aussah, und der Film zeigt uns in rasenden Nachtfahrten, wie die Stadt im Jahr 1999 aussah. Über neun Jahre arbeitete der von seiner selbstgestellten Aufgabe zunehmend mehr besessene ehemalige Kupferstecher und Kartograf Seitz an diesem Monstrum mit einem Durchmesser über fünf Metern, bis er an den giftigen Dämpfen des Klebstoffs und dem feinen Holzstaub verendete und sein Sohn Franz und der Bildhauer Anselm Sickinger das Unternehmen zu Ende führten. Aus der Feder von Michael Althen stammen siebzehn Seiten in dem Booklet zur DVD, die tagebuchartig darüber berichten, was während der Dreharbeiten geschah, so etwa, dass bei den Aufnahmen dieses Stadtmodells wegen der Hitze der Scheinwerfer ein paar Grabkreuze des alten Südfriedhofs aus der Verankerung sprangen und keiner es gemerkt hat.

Da ist jene Episodengeschichte von dem zehn Mark Geldschein, den sich ein Junge erspart hatte und der auf einer Abenteuerreise durch die Stadt von einer Hand in die andere wandert: Taxifahrer, Imbissbudenbetreiber, Prostituierte, Blumenverkäuferin, Bettler, Putzfrau und wieder beim Taxifahrer.

Eine andere Geschichte erzählt von dem heimlichen Pakt zwischen dem kleinen Jungen und dem 17-jährigen österreichischen Kindermädchen. Jeden Morgen weckt der Bub das rothaarige, sommersprossige Mädchen, dass sie Frühstück für die Familie machen soll. Nachdem er beobachtet hat, wie sie nächtlichen Männerbesuch empfängt, kommt es zu einem stillschweigendem Handel zwischen den beiden: Wenn er den Eltern nichts verrät, zeigt sie ihm – sich dabei schlafen stellend – jeden Morgen einen anderen Teil ihres Körpers, den er auch berühren darf. Bis es zum traurigen Ende der Romanze kommt, als sie eines Tages unangekündigt den Haushalt verlässt.

Da ist jene Geschichte von der Fahrscheinkontrolleurin und dem Schwarzfahrer, den sie hat entkommen lassen, weil er ihr angeboten hat, dass man sich ja am Abend nochmal treffen könnte. Und der sie dann – natürlich – sitzen lässt in dem Lokal, das er vorgeschlagen hatte. Und es ist die Geschichte aller U-Bahnfahrer, die – mit oder ohne Fahrschein – zusammenzucken, wenn es heißt „Die Fahrscheine, bitte!“

Oder jene Geschichte von den zwei Männern, die in der Vergangenheit und ohne voneinander zu wissen, gleichzeitig dieselbe Freundin hatten, die das durch Zufall herausfinden und gemeinsam in das dunkle Haus, in dem die Frau nun mit zwei Kindern und einem Partner lebt, einsteigen und sie im Schlafzimmer beobachten.

Und da ist jene Geschichte von dem Fotografen Josef Breitenbach (1896-1984) und dem „Fräulein Greno“, die verbürgt ist und die der Film meisterhaft wiedergibt. Der Fotograf Breitenbach inszenierte, zusammen mit zwei Freunden – deren Namen als Dr. Riegler und J. Greno überliefert sind – eine Fotosession, bei der es so aussehen sollte, als ob man eine Frau, die man vom Fenster aus auf der Straße gehen sieht, nach oben ruft, die sich nackt auszieht und mit einem Herrn im Anzug mit Fliege ein Glas Rotwein trinkt, in aller unbefangenen Natürlichkeit. Die Erzählerstimme lässt uns im Film an dieser „immerwährenden Utopie“ teilhaben, man könne sich einfach aus dem Fenster lehnen und eine Frau hochrufen, und die fände das auch noch eine gute Idee. Der Film macht klar, dass auch er um die Inszenierung der Szene weiß, doch das spielt keine Rolle. Und dann kommt die schicksalsschwere Frage: „Was ist aus Dir geworden, Fräulein Greno?“, denn die Bilder in der Wohnung in der Pettenkoferstraße 35 wurden im Jahr 1933 gemacht. „1933, ausgerechnet!“, mehr braucht der Film dazu nicht zu sagen.

Der Film endet mit jenen Bildern, mit denen die Dreharbeiten begannen: jener totalen Sonnenfinsternis des 11. August 1999. In einer traumhaften Abfolge von Live-Aufnahmen diverser Münchner Ansichten während jener legendären 2 Minuten und 23 Sekunden, gemischt mit Einspielungen von Bildern aus den bis dahin erzählten Geschichten hört man den Schlussmonolog des blinden Erzählers, der den Zuschauer den ganzen Film hindurch begleitet hat: „Es heißt, dass bei einer Sonnenfinsternis alle Gefühle stillstehen. Vielleicht ist das also der Moment, wo Vergangenheit und Zukunft in eins fallen, wo all das Sehnen, aber auch all das Erinnern für einen Moment Ruhe hat, wo die ganze Stadt für einen Moment mit sich im Reinen ist und wir mit ihr. So soll es sein.“ Und dieses „So soll es sein“ wird von allen drei Sprecherstimmen wiederholt: Rolf Boysen, Jeanette Hain, Dominik Graf. Wer bei diesem Schluss nicht wehmütig und gerührt ist, ist kein Mensch, der diesen Film verdient.

Es ist sehr gut, dass es diesen Film nun in einer Technologie gibt, die es so leicht möglich macht, alle diese Episoden gezielt auszuwählen und sich in Erinnerung zu rufen. Und es ist sehr gut, dass die DVD dieses wunderbare Kaleidoskop von Bildern, Stimmen, Tönen, Einfällen und Fantasien noch für vermutlich geraume Zeit verfügbar macht, denn meine VHS-Kassette wird auch nur solange helfen, solange mein Videorekorder noch funktioniert. Und so, wie nun auch ein Teil der Glossen von Michael Althen in dem wunderschön anrührenden Buch „Meine Frau sagt…“ erhalten geblieben sind werden nun auch die äußeren und inneren Bilder dieses Mannes, um dessen viel zu frühzeitigen Tod man gerade auch nach diesem Film nicht genug trauern kann, bewahrt bleiben.

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Titelbild

Dominik Graf / Michael Althen: München - Geheimnisse einer Stadt.
Absolut Medien, Berlin 2012.
121 min, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783898483919

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