Wozu braucht es die Klassiker der Soziologie?

Gedanken bei der Bearbeitung einer sechsten Auflage

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Selbstverständlich darf jeder einen Film drehen, in dem man sieht, wie sich eine Frau nackt unter die Dusche stellt, den Wasserhahn aufdreht, sich Hals, Arme und Rücken wäscht, der Duschvorhang plötzlich aufgezogen wird, ein blitzendes Messer wiederholt auf die Frau einsticht, das Blut auf dem Boden abfließt und die Aufhängung des Vorhangs stückchenweise abreißt.

Wer jedoch dabei nicht an den Film „Psycho“ von Alfred Hitchcock aus dem Jahr 1960 denkt, vielleicht nicht einmal davon weiß, ist zumindest ein cineastischer Banause. Jeder, der heute in das Kino geht, und nicht wenigstens mit den Namen Woody Allen, Michelangelo Antonioni, Ingmar Bergman, John Ford, Buster Keaton, Stanley Kubrick, Akira Kurosawa, David Lynch, Louis Malle, Alain Resnais, Steven Spielberg, Luchino Visconti und Billy Wilder etwas anfangen kann, wird nicht das sehen, was die Regisseure im Sinn hatten, als sie ihren Film drehten, – wie miserabel er auch immer sein mag. Auch hier gilt: Man sieht nur das, was man weiß. Und zugleich gilt: Um etwas gutes Neues zu machen, muss man wenigstens wissen, was es bereits Gutes gibt. Und je mehr Gutes es bereits gibt, desto schwieriger wird es, etwas Gutes neu zu schaffen.

Selbstverständlich darf jede Soziologin und jeder Soziologe erstmals darüber nachdenken, warum sich Menschen selbst töten und ob es Muster gibt, warum manche Menschen eher dazu neigen als andere. Wer dabei jedoch nicht an das Buch „Le suicide“ von Émile Durkheim aus dem Jahr 1897 denkt, ist zumindest ein soziologischer Banause. Jeder, der heute Soziologie wissenschaftlich betreiben will, und nicht wenigstens mit den Namen Auguste Comte, Karl Marx, Ferdinand Tönnies, Georg Simmel, Émile Durkheim, Max Weber, Norbert Elias, Talcott Parsons, Theodor W. Adorno, Robert K. Merton, Niklas Luhmann, Jürgen Habermas, Pierre Bourdieu und Anthony Giddens etwas anfangen kann, wird nicht abschätzen können, ob er oder sie etwas wirklich Neues entdeckt hat. Auch hier gilt: Alles (angeblich) Neue muss sich im Licht des bereits Erforschten prüfen lassen. Die Strategie, Originalität durch historische Ignoranz erreichen zu wollen, sollte in der Wissenschaft keine sein, die belohnt wird.

Die meisten wissenschaftlichen Disziplinen kommen gut ohne intensive Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Geschichte aus. Ganz im Gegenteil, eine zu intensive Beschäftigung mit der Geschichte des eigenen Faches kann zur Vergeudung von Zeit und Energie für weiterführende Forschung führen.

Wer heute Anatomie erforschen will, muss sich nicht damit beschäftigen, was vor Jahren, Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten über den Aufbau des menschlichen Körpers gedacht und (vermeintlich) gewusst wurde. Weder das Studium der ersten anatomischen Zeugnisse aus der prähistorischen Höhlenmalerei noch die künstlerisch wertvollen Studien eines Michelangelo, Raffael, Dürer oder da Vinci helfen dem heutigen medizinischen Wissenschaftler sonderlich weiter. Eine Beschäftigung mit dem gestrigen „Wissen“ auf dem Gebiet der Anatomie raubt nicht nur Zeit und Energie, sondern kann sogar in fatale Irrtümer locken. Wer immer noch glaubt – wie das Platon und Hippokrates taten – dass das Krankheitsbild „Hysterie“ mit einer Schädigung der Gebärmutter zusammenhängt, wenn diese zu unregelmäßig mit Sperma gefüttert wird, darum suchend im Körper umherschweift und sich dann am (weiblichen) Gehirn festbeißt, ist nicht nur nicht auf der Höhe des heute möglichen medizinischen Wissens, sondern würde als Arzt oder als Ärztin seinen Patientinnen erheblich schaden.

Wer heute Rechtswissenschaft betreiben will, mag zwar gut beraten sein, auch die Regelungen der jeweiligen Rechtsgebiete von gestern und vorgestern zu kennen, es mag auch von (akademischem) Interesse sein, alle Regelungen des Römischen Rechts oder des Kanonischen Rechts zu kennen; für die Anschlussfähigkeit an die heutige Rechtwissenschaft ist dieses Wissen jedoch weder nötig noch nützlich. Bereits die stehengebliebene Kenntnis der Fassung der jeweiligen Gesetzestexte vom Jahr zuvor kann zu dramatischen Fehlern sowohl im wissenschaftlichen Diskurs als auch in der Rechtspraxis führen. Es gilt immer die tagesaktuell gültige Fassung zu kennen, unabhängig davon, wie die Regelungen am Tag zuvor aussahen. Wer heute als Anwalt noch glaubt, dass eine Frau eine finanzielle Entschädigung von ihrem ehemaligen Verlobten fordern könne, wenn sie ihm auf Grund eines Eheversprechens die Beiwohnung gestattet hatte und sie dadurch ihre Jungfräulichkeit verlor, könnte seine Mandantin in einen peinlichen Irrtum führen. Das „Kranzgeld“, wie es noch im BGB von 1900 in § 1300 geregelt war, wurde spätestens mit dem „Gesetz zur Neuordnung des Eheschließungsgesetzes“ aus dem Jahr 1998 ersatzlos gestrichen. Zu viel Beschäftigung mit der Geschichte der Rechtswissenschaft kann also zu fatalen Fehlern führen.

Für viele wissenschaftliche Disziplinen ist es jedoch genau umgekehrt: Wer heute Theologie, Philosophie, Politikwissenschaft, Geschichtswissenschaft, Literaturwissenschaft oder Volkswirtschaftslehre professionell studieren und betreiben möchte, kann das nicht ohne profunde Kenntnis der Geschichte dieser Fächer. Während der aktuellen Überarbeitung des ersten Bandes der von mir zuerst im Jahr 1999 herausgegebenen „Klassiker der Soziologie“ für eine nunmehr notwendig gewordene sechste Auflage musste ich mich erneut mit der Frage nach der anhaltenden Bedeutung ihrer Klassiker für die wissenschaftliche Soziologie auseinandersetzen. Für eben diese – so mein Argument – ist es so: Ohne die profunde Kenntnis der Geschichte der Soziologie ist keine gute heutige Soziologie möglich. Wie aber eignet man sich als heutiger Soziologe, als heutige Soziologin die Geschichte unserer Disziplin an?

Vier Strategien der Geschichte der Soziologie

Für das notwendige Unternehmen einer Geschichte der Soziologie bieten sich zumindest vier verschiedene Strategien an, die jeweils zu unterschiedlichen „Geschichten“ der Soziologie führen: eine Klassikergeschichte, eine Begriffsgeschichte, eine Problemgeschichte, eine Schulgeschichte. Ich werde hier – wie seit über dreißig Jahren – ein Plädoyer für die Geschichte der Soziologie als einer Geschichte ihrer Klassiker halten.

Das Wort Klassiker, das im Deutschen erstmals im 18. Jahrhundert verwendet wurde und sich auf die antiken Schriftsteller und deren Werke bezog, wird auch heute üblicherweise benutzt zur Bezeichnung antiker Autoren und Künstler, antiker Sprachen und der ihnen zugeordneten Wissenschaften. Wir wollen es hier ganz unbefangen gebrauchen, um den Anspruch der Vollendung eines Werks, im Sinne von vorbildlich und mustergültig, zu markieren. Die kanonische Konnotation von „zeitlos“ und unabänderbar kann gerade für ein soziologisches Projekt nicht gemeint sein. Im Gegenteil: Eine Sammlung klassischer soziologischer Beiträge muss vom Bewusstsein derer Zeitgebundenheit und Zeitbedingtheit geprägt sein.

Dennoch wird alles, was allein zeitbedingt geblieben ist, keine Chance der Rubrizierung als „klassisch“ haben. Nur wenn ein wissenschaftliches Werk seine Erscheinungsformen wandeln kann, es transformiert werden kann, wächst es ein Stück weiter, bleibt es lebendiger Bestandteil aktueller gesellschaftlicher Diskurse – vor allem dann, wenn es die Grenzen seines unmittelbaren Kontextes, also beispielsweise seines nationalen und historischen Entstehungszusammenhangs, durchbricht und Bestandteil einer globalen Interpretation wird.

Ein Gedanke des Wissenschaftssoziologen Robert K. Merton mag von illustrativer Hilfe sein, wenn er von dem Phänomen obliteration by incorporation spricht. Damit meint er die wissenschaftshistorische Tatsache, dass bei der Erzeugung jenes (seltenen) wissenschaftlichen Wissens, durch das der ganze menschliche Wissensbestand erweitert oder verändert wird, oft die Quellen solcher Entdeckungen aus dem kollektiven Gedächtnis, selbst des Faches, aus dem es stammt, ausgelöscht werden. Die ultimative „Klassizität“ haben demnach jene Autoren erlangt, deren Erkenntnisse, Begriffe und Konzepte in den universalen Korpus des allgemeinen Wissens der Menschheit integriert wurden, ohne dass ihre Schöpfer mit assoziiert werden.

Für eine „Klassikergeschichte“ der Soziologie sprechen vor allem die Nachteile der genannten Alternativen: Trotz des großen Verdienstes von Begriffsgeschichten, die die vielfältigen Konnotationen und Bedeutungsverschiebungen von Begriffen aufzeigen, stehen derartige Darstellungen immer in der Gefahr einer „Verselbständigung“ dieser Begriffe. Ähnliches gilt auch für Problemgeschichten, in denen es bestimmte Fragen und Antworten sind, die ein von den konkreten historischen Entstehungs- und Wirkungszusammenhängen relativ abgelöstes Eigenleben zu führen beginnen. Bei einer gerade soziologisch ungleich wichtigeren Aufgabe einer Geschichte der Schulen ergeben sich nicht nur prinzipielle Probleme, etwa die Frage, wann es gerechtfertigt ist, überhaupt von „Schulen“ in der Soziologie zu sprechen, sondern insbesondere auch große methodologische Schwierigkeiten: Eine präzise Darstellung der sozialen und institutionellen Interaktionen, etwa wer mit wem diskutiert hat, wer wessen Bücher in welcher Fassung wann gelesen hat, wer wessen „Lehrer“, „Schüler“ war et cetera, ist ein Forschungsvorhaben ungeahnter Ausmaße, das bis heute nicht ernsthaft angegangen wurde.

So sind es einerseits Ausschlusskriterien, die für eine Klassikergeschichte bestimmend sind: Zwar muss auch darin von Begriffen, Problemen und „Schulen“ die Rede sein und von deren historischen Entwicklungen, ohne jedoch eine Verselbständigung jeweils einer dieser Betrachtungsebenen in Kauf nehmen zu müssen. Andererseits sollte schon von der Konzeption her vermieden werden, in ein zu kurzschlüssiges abbildhaftes Verhältnis von Soziologiegeschichte und Sozialgeschichte zu verfallen.

Der entscheidende Vorteil einer Klassikergeschichte ist zweifellos der, dass sie eine werknahe Darstellungsweise eröffnet. Eine Klassikergeschichte führt zum Werk, zur Auseinandersetzung mit den überlieferten Texten der Klassiker. Nicht die „ewig-gültigen“ Weisheiten und Lösungen sind gemeint, sondern Standards einer wissenschaftlichen Disziplin, die historisch entstanden sind und die nicht unterschritten werden sollten – zum eigenen heutigen Nutzen.

Gerade der Gedanke, dass es keine geborenen Klassiker, sondern nur von uns gemachte geben kann, erinnert an die Tatsache, dass es nicht das Verdienst früherer, sondern das Bedürfnis heutiger Soziologen ist, welches die „Klassizität“ eines historischen Vordenkers begründet. Mit diesem entscheidenden Kriterium verbinden sich in der Regel noch einige andere Kriterien, die traditionellerweise mit der Bestimmung „Klassiker“ gemeint sind, über die im Fall der Soziologie jedenfalls leidenschaftlich gestritten werden kann: die Probe auf Zeit, ein gutes literarisches Niveau sowie ein besonderes Verhältnis zur Gesellschaft. Gerade für einen „Klassiker“ des soziologischen Denkens muss jedenfalls gelten, dass sein Werk in einem besonderen, repräsentativen und wirkungsvollen Verhältnis zu der Gesellschaft stehen muss, in der es und für die es geschrieben wurde. Wir wollen deshalb im Prinzip nur dann von einem Klassiker der Soziologie sprechen, wenn dessen Werk im Mittelpunkt der soziologischen Ideen und Vorstellungen einer Epoche, das heißt im Zentrum des soziologischen Diskurses, stand. Für das soziologische Denken nimmt die Kategorie der Epoche eine spezifische Bedeutung an, eher im Sinne von „Phase“ oder étape (Raymond Aron), wobei „Repräsentativität“ eingeschränkt für die Gesellschaft der wissenschaftlichen Soziologen, oft sogar nur für einzelne Gruppen von Soziologen, gelten kann.

Wie bestimmen wir – immer wieder aufs Neue – die Klassiker der Soziologie?

Kriterium für einen „Klassiker“ der Soziologie ist seine Relevanz für die (Weiter-)Entwicklung soziologischer Theorie und/oder für die (Wieder-)Entdeckung eines wichtigen Problembereichs und/oder die Entdeckung einer neuen Methode zu dessen Erforschung. Und diese Relevanz muss glaubhaft gemacht werden für die damalige, für die heutige und für die (vorstellbare) zukünftige wissenschaftliche Soziologie.

In einer pragmatischeren Formulierung heißt das, dass die Bezeichnung „Klassiker“ für jene Mitglieder unserer Disziplin gelten soll, von denen gesagt werden kann, dass ihr Werk auch heute noch der (zumeist: wiederholten) Lektüre „wert“ ist, dass man ohne diese Arbeiten „nicht auskommt“, wenn man heute Soziologie betreiben will. Unterstrichen sei dabei der Begriff Werk: Es sind nicht so sehr einzelne, noch so wichtige Einzelergebnisse, ein einziges Buch, ein einziger Buchtitel gar, die einen Soziologen zum Klassiker machen, sondern es ist die Einführung neuer Sehweisen, durch die neue Begriffe und neue Methoden geschaffen werden. Und mit der erfolgreichen Einführung neuer Betrachtungsweisen könnte, in einem rigorosen Verständnis, der Klassiker überflüssig werden. Seine „Erfindung“ wird Bestandteil des allgemeinen Wissenschaftsverständnisses: Die Erinnerung an den Klassiker hat dann nur mehr antiquarischen Wert.

Bei einer soziologisch tragfähigen Klassikergeschichte der Soziologie, die vom Diskurs-Gedanken ausgeht, kommt es darauf an, die „Lebendigkeit“ des Klassikers durch immer neue Lesarten und Interpretationen seines Werkes in den verschiedenen Stadien der Wissenschaftsentwicklung aufzuzeigen. Aus der Tatsache, dass heutige soziologische Theoretiker der Vergangenheit des soziologischen Denkens stärker verpflichtet sind als sie zumeist angeben oder wissen, greifen wir erneut jenen Gedanken des gemachten Klassikers auf: Es lässt sich unschwer zeigen, dass gerade die zentralen „deutschen“ Soziologen wie Max Weber, Georg Simmel, Karl Mannheim und Alfred Schütz erst durch die US-amerikanische Rezeption zu internationalen Klassikern wurden. Die „gemachten“ Klassiker sind jene universalen Symbolfiguren, die aufgerichtet werden, um sich selbst und anderen zu demonstrieren: „Hier wird Soziologie betrieben“. Gerade in jenen wissenschaftlichen Disziplinen, in denen eine unbestrittene methodologische und/oder inhaltliche Identität fehlt, erfüllen Klassiker die zentrale Funktion der Stiftung und Begründung von Identität. In diesem Sinne haben wir mit jeder Sammlung „Klassiker der Soziologie“ auch eine soziologische Stammesgeschichte, eine Versammlung der Ahnen des Hauses der Soziologie vor uns.

Es ist genau diese Doppelung des Diskurses, die das Potential der Klassiker für die Soziologie ausmacht, die sich im ständigen Rekurs auf eben ihre Klassiker weiterentwickelt, indem sie diese immer wieder aus neuen Perspektiven betrachtet und insofern permanent (wieder-)entdeckt. Dabei geht es gerade nicht um Einzelergebnisse der Forschungen der soziologischen Klassiker, sondern darum, dass diese einen spezifischen Stil, eine eigene Perspektive der Wirklichkeitsbetrachtung entwickelt haben, immer in enger Verbindung mit der Bereitstellung ganz spezifischer Metaphern und Sprachspiele. Es ist dieser Fundus an Begrifflichkeit, der auch für die zukünftige soziologische Forschung von alternativlosem Nutzen ist.

Über die Zukunft des Hauses der Soziologie

Das Haus der Soziologie muss vor allem ein Schulhaus für engagierte soziologische Intellektuelle werden und bleiben. Nach meiner Überzeugung sollte dieses Haus vor allem auf dem Gelände von Universitäten stehen, die schon darum keine Berufsschulen für Technokraten, Datentechniker oder Ideologen sein dürfen. Dorthin will die Soziologie Menschen anlocken, von denen Max Weber sowohl „Leidenschaft“ als auch „Augenmaß“ forderte. Sie werden überzeugt sein von der Notwendigkeit der interdisziplinären Öffnung, der multikulturellen Orientierung, der intergesellschaftlichen, globalen Ausrichtung und der Mitwirkung bei der Erzeugung eines ökologischen Verantwortungsbewusstseins.

Die Auseinandersetzung mit den Werken der Klassiker der Soziologie hilft, die Ziele für das zukünftige Haus der Soziologie glaubwürdig zu formulieren und anzusteuern. Insgesamt muss es für die Soziologie als wissenschaftliches Unternehmen darum gehen, mitzuhelfen, dass die beforschten Menschen und ihre Kinder ein menschenwürdiges Leben in Gerechtigkeit führen können. Es geht um die Mitwirkung bei der Diskussion um eine „Gute Gesellschaft“.

Jenseits aller erheblichen Unterschiede bei der Beantwortung dieser Frage lässt sich festhalten: Von Auguste Comte bis hin zu heute lebenden Klassikern der Soziologie, wie Jürgen Habermas und Anthony Giddens, haben sich alle bisherigen Klassiker der Soziologie am Unternehmen der Beantwortung dieser Frage beteiligt. An der Bewährungsaufgabe, ob sich die wissenschaftliche Soziologie, als Erbin der Aufklärung, auch weiterhin an der Selbstaufklärung Offener Gesellschaften beteiligen wird, entscheidet sich die Zukunft des Hauses der Soziologie und seiner Bewohner.

Gerade weil die Soziologie nicht zu jenen Wissenschaften zählt – und nie zählen wird – die kumulatives Wissen erzeugen, benötigt sie der steten Auseinandersetzung mit ihren Klassikern. Jede neue Soziologie-Generation muss ihre Klassiker neu entdecken und kann versuchen, neue Klassiker dazuzufügen. Richtig ist, dass sie sich häufig in Anhängerschaften organisiert, die einander auszustechen versuchen, nicht zuletzt mit den Mitteln der Berufbarkeiten und der sonstigen Vorteile von Seilschaften. Eine Geschichte der Soziologie, die diese verschiedenen Ideen mit ihren Anhängerschaften in einen sinnvollen historischen Zusammenhang bringt als eine Abfolge der Erfahrungen von Gesellschaft, die unterschiedlich verarbeitet wurden, tut not. Durch sie würde wohl auch deutlich, eine wie herrschaftsfreundliche Wissenschaft die Soziologie in vielen Fällen war und ist. Aber erst mit dieser Art von Überblick über ihre Geschichte würde die Soziologie mündig, müsste sich nicht mehr in Anhängerschaften aufteilen und könnte sich der Frage widmen, wie Befreiung möglich ist. Es gibt noch viel zu tun für eine Soziologie, die sich mit ihren Klassikern auseinandersetzt.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zu Dirk Kaeslers monatlich erscheinenden „Abstimmungen mit der Welt“.