SS-Nachfolgeorganisation

Geschichte der Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS (HIAG)

Von Kurt SchildeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kurt Schilde

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Endlich gibt es ein Grundlagenwerk zur Geschichte der in den 1950er-Jahren entstandenen Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS (HIAG). Sie hat der Historiker Karsten Wilke in seiner 2010 an der Universität Bielefeld abgeschlossenen Dissertation – auf der die Buchpublikation beruht – untersucht. Diese auf die Geschichte des Bundesverbandes ausgerichtete materialreiche Studie ist zugleich eine Geschichte der Vergangenheitsbewältigung.

Die Darstellung besteht aus drei Teilen: Zunächst geht es um die Phasen der Gründung, Formierung und Etablierung. Seit Ende der 1940er-Jahre haben sich in den Westzonen ehemalige Angehörigen der Waffen-SS in Kameradschaftsvereinigungen getroffen. Als ein Zweig entstand 1948 in Hamburg eine Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit, unter anderen ins Leben gerufen von einem früheren Kommandeur der 1. SS-Division Leibstandarte Adolf Hitler, eine der Eliteeinheiten der Waffen-SS. Der Anfang der 1950er-Jahre entstandene Bundesverband – wie die HIAG insgesamt militärisch geführt – bemühte sich sehr um eine demokratisch aussehende Fassade. Die HIAG besaß eine Doppelstruktur als Nachfolgeorganisation der SS und Soldatenbund mit soldatischen Gepflogenheiten. „Dazu zählten neben der militärischen Sprache auch die Organisationsstruktur, das Zeremoniell und die Bündnispolitik sowie der Wunsch nach einer Würdigung des Kriegseinsatzes.“ Im Gegensatz zu den Bemühungen des Bundesvorstandes um einen demokratischen Anschein sind die Binnenstruktur und insbesondere die Akteure an der Basis deutlich nationalsozialistisch geprägt gewesen, wo „antidemokratische, rassistische und antisemitische Positionen“ die Regel waren.

Im zweiten Teil wird die Vergemeinschaftung unter den organisierten Veteranen dargestellt. Dabei geht es zunächst um Selbstentwürfe und Symbolik. „Dazu gehörten Sprach- und Bildcodes, Interaktionsvorgänge und soziale Praktiken wie zum Beispiel Gesang.“ Als Beispiel weist Wilke auf die Bedeutung des ursprünglich aus den Befreiungskriegen stammenden Treueliedes der SS hin, über dessen Liedinhalt sich die SS-Angehörigen vor und nach 1945 wechselseitiger Unterstützung versicherten. Ausführlich untersucht Wilke die für Außenstehende schwierig zu entschlüsselnden Codes und subtilen Botschaften und die Interaktion innerhalb der HIAG. Von den öffentlichen Veranstaltungen waren die sehr gut frequentierten Suchdiensttreffen für die Außenwirkung wichtig. Allerdings sind diese und andere Aktivitäten zunehmend auf Kritik und Protest gestoßen, der von den Vereinigungen der Verfolgten des Naziregimes und Gewerkschaften ausgegangen ist.

Daher ist der dritte Teil ist der „HIAG in der Defensive“ gewidmet, in dem die Vergangenheitsbewältigung in den 1970er-Jahren und – als Fallbeispiel – die Beziehungen zwischen HIAG und SPD angesprochen werden. Für die HIAG insgesamt mit ihren zeitweise 20.000 Mitgliedern lassen sich durchgängig „ein erhebliches rechtsradikales Potential, Antisemitismus und demokratiefeindliche Einstellungen belegen.“ Daher hatten die überparteilichen Bemühungen zur Demokratisierung der alten Nazis wenig Erfolg. Der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher und Helmut Schmidt – „zeitweise einer der wichtigsten Ansprechpartner“ – sowie CDU- und FDP-Funktionäre ließen „offenbar keine Gelegenheit aus, um auf frühere und noch immer überzeugte Nationalsozialisten zuzugehen.“ Auch die Geschichtspolitik des Bundeskanzlers Helmut Kohl deckte sich für kurze Zeit mit den HIAG-Positionen. Erinnert sei an den Bitburg-Skandal, als Kohl 1985 den US-Präsidenten Ronald Reagan nötigte, den Bitburger Soldatenfriedhof „Kolmeshöhe“ aufzusuchen, auf dem sich Gräber von SS-Angehörigen befinden. In dieser Zeit befand sich die HIAG schon in ihrer Auflösungsphase. Die offizielle Auflösung erfolgte jedoch erst 1992.

Wilke hat für seine beachtenswerte Studie die – wahrscheinlich „gesäuberten“ – Bestände der HIAG im Bundesarchiv-Militärarchiv auswerten können. Neben dem mehr als 650 Ordner umfassenden „Registraturgut des ehemaligen Bundesvorstandes des ‚Bundesverbandes der Soldaten der ehemaligen Waffen-SS e.V.‘“ wurden Unterlagen unterschiedlicher Archive, Verbandszeitschriften, Nachlässe, zeitgenössische Veröffentlichungen vor 1945 sowie aus dem Umfeld der HIAG, Filme, Fernsehsendungen und andere Audiodokumente ausgewertet. Aus diesem umfangreichen Materialfundus hat er einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der (alten) Bundesrepublik Deutschland verfasst. In deren Frühphase hat die HIAG zur „Kultur der Viktimisierung“ beigetragen und geholfen, die SS-Veteranen – auch die nicht in der HIAG erfassten – in die Gesellschaft zu integrieren. Dazu beigetragen hat wesentlich die Straffreiheitsgesetzgebung der Jahre 1949 bis 1954, mit der in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland begangene Delikte straffrei wurden. Hinzu kam, dass bis Ende der 1950er-Jahre die Versorgungsansprüche der 250.000 Veteranen der Waffen-SS schrittweise an diejenigen der ehemaligen Wehrmachtsangehörigen angeglichen wurden. Damit waren Waffen-SS und Wehrmacht de facto gleichgestellt. Auch insofern kann die Geschichte der HIAG als eine Erfolgsgeschichte bezeichnet werden.

Am Ende seiner sowohl chronologisch als auch systematisch angelegten Arbeit weist Wilke auf „viele offene Fragen“ hin, die noch zu bearbeiten wären: So ist über die lokalen Gruppen und deren Verhältnis zur Lokalpolitik wenig bekannt. Es fehlt auch eine systematische Auswertung der Verbandszeitschriften und der Buchpublikationen im Umkreis der HIAG. Solche und weitere Forschungen finden in der ausgezeichneten und gut lesbaren Arbeit viele Ansatzpunkte und Anregungen.

Titelbild

Karsten Wilke: Die "Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit" (HIAG) 1950 - 1990. Veteranen der Waffen-SS in der Bundesrepublik.
Schöningh Verlag, Paderborn 2011.
464 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783506772350

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