Sich der Schuld durch Verstehen nähern

Claire Beyer schildert in "Rauken" die Emanzipation eines allgäuer Mädchens der Nachkriegszeit

Von Dorothea StresingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dorothea Stresing

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Da gibt es Kindertage und Tage. Kindertage sind doppelt so lang, zweimal so groß und viermal so breit. Die wollen fast nicht enden. Und weil das so ist, ist auch jede Angst größer, jeder Hunger schlimmer, und an den Durst vermag er gar nicht zu denken. Kindertage sind immer heller und dunkler, trauriger und fröhlicher." Der das sagt, ist Ivan, ein ehemaliger Kriegsgefangener, der nach dem Zweiten Weltkrieg einfach nicht nach Hause zurückgekehrt, sondern in einem kleinen Dorf im Allgäu geblieben ist. Er sagt es zur sechsjährigenVroni, die in Ivan endlich einen Erwachsenen gefunden hat, der ihr mit Zuneigung und Verständnis begegnet.

Ivan ist nicht wie Vronis Vater, der Gewalt ausübt, wo er nur kann und seine Tochter mit seiner brutalen Willkür quält. Jede ihrer Lebensäußerungen beantwortet er mit Schlägen und Tritten; ihre Mutter wagt nicht, ihm etwas entgegenzusetzen. Sie steht, wie die ganze Familie, unter der Herrschaft ihres eigenen Vaters, der nach dem Krieg alle Macht in dem kleinen Bergdorf in sich vereint.

Aus dieser Familienhölle kann Vroni nur entkommen, wenn sie Pierre besucht, den jüdischen Jungen, einen Krüppel, der mit seiner russischen Großmutter zusammen im "verbotenen Haus" lebt. Wenn Pierre am Klavier sitzt und Mozart spielt, dann kann er vergessen, daß er einen Buckel hat, dann ist er Mozart. Und Vroni lebt auf im Zauber des verbotenen Hauses, saugt die Atmosphäre in sich auf.

Ihr Refugium wird zerstört, als der Großvater an der Stelle des "verbotenen Hauses" eine Fabrik errichten lässt. Dem Kommunistenhasser und Antisemiten stehen die Männer aus dem Dorf zur Seite. Der Schwiegersohn, Vronis Vater, will den Großvater erpressen und beauftragt Vroni, das Protokollbuch zu entwenden. Vom Großvater entdeckt, muss Vroni nicht nur schwerste Misshandlungen von ihrem Vater erdulden, auch ihre gesamte Lebenswelt wird zerstört. Die Familie muß den Ort verlassen, Pierres Schicksal bleibt ungewiss.

Claire Beyer beschreibt Vronis Erlebnisse einfühlsam. Mit viel Gespür für die kindliche Phantasie und das ohnmächtige Gefühl des Ausgeliefertseins an die Erwachsenenwelt schildert sie Vronis Heranwachsen. Ihre Sprache ist karg, aber sie bekommt einen herben Glanz immer dann, wenn von Vronis Träumen und Phantasien die Rede ist. Die bedrückende Atmosphäre in Vronis Elternhaus und in dem Dorf im Allgäu vermittelt sich dem Leser unmittelbar.

Claire Beyers Beobachtungsgabe und die Präzision ihres sprachlichen Ausdrucks lassen die Erfahrungen des kleinen Mädchens lebendig werden. In der Genauigkeit ihrer Beschreibung der Nöte eines Mädchens und der vom Katholizismus geprägten Enge des Dorfes im Allgäu gelingt Claire Beyer ein fein beobachtetes Portrait des Lebens in der Nachkriegszeit. In ihren Darstellungen der allmählichen Emanzipation Vronis von der väterlichen Gewalt und der Macht des tyrannischen Großvaters erzählt sie eine Geschichte, die nicht von simpler Vergebung handelt, sondern vom Prozess des allmählich Verstehen-Lernens, der Erfahrung der eigenen Historizität und der eigenen Handlungsmöglichkeiten.

Etwas konstruiert wirkt die Erzählung immer dann, wenn sie versucht, den Bogen zu schlagen zwischen dem privaten Erleben und den Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs. Die Geschichte, die doch eher eine Erzählung über den Umgang mit Gewalt ist, wird zu stark belastet, wenn der Anspruch an sie gestellt wird, ein Bild für den Umgang mit der Kriegsschuld in Deutschland zu sein. Die Autorin behandelt die Auswirkungen, die Krieg und Judenverfolgung auf die einzelnen Menschen hatten differenziert. Aber man würde der kleinen Vroni eben gerne uneingeschränkt ihre unabhängige, starke Position gegenüber der Schuld des Vaters lassen, ihre freie Entscheidung, wie sie sich ihm gegenüber in Zukunft verhalten will. Doch an manchen Stellen scheint die Erzählung ein Sinnbild für die Bundesrepublik der Nachkriegszeit sein zu wollen, und die hat weder die Schuldigen deutlich benannt, noch hatte sie, wie die tatsächlich unschuldige Vroni, die Wahl, unbefangen die Zukunft zu gestalten.

Titelbild

Claire Beyer: Rauken.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2000.
130 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3627000749

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