Erzählungen aus dem entfremdeten Leben

Über Philipp Schönthalers Debüt „Nach oben ist das Leben offen“

Von Marc KleineRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marc Kleine

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von Theodor W. Adorno stammt die lustig-schreckliche Imagination, sich Friedrich Nietzsche in einem Büro, in dessen Vorraum die Sekretärin das Telefon betreut, bis fünf Uhr am Schreibtisch vorzustellen, bevor er nach vollbrachtem Tagewerk Golf spielen geht. Der unzeitgemäße Philosoph jedoch verweigerte sich der déformation professionelle. In einen Felsen im abgelegenen Alpenörtchen Sils Maria, einem geografischen und geistigen Zufluchtsort, ritzte er sein Glücksverlangen: „Alle Lust will Ewigkeit“.

Wirkte er damit in der bürgerlichen Leistungsgesellschaft des 19. Jahrhunderts anstößig, so ist seine Art heute ausgestorben. Denn in der schönen neuen Warenwelt des 21. Jahrhunderts, von der Philipp Schönthalers Debüt erzählt, sind die Nischen für unreglementiertes Verhalten restlos getilgt. Vom Tiefseetauschen im Meer über die Shopping-Mall, die Universität und den Fußballplatz bis hinauf in die dünne Luft des Hochgebirges – überall herrscht ein Leben, das eingefangen ist von der ausweglosen Ordnung aus marktgerechtem Design, aseptischer Kommunikation und der verzweifelten Sinnsuche im eigenen Körper. Den Imperativen von Effizienz und Leistung total unterworfen, ist alles sinnfreie Kontemplative ausgelöscht und ein trauriges Universum entstanden, in dem Freizeit beileibe keine freie Zeit mehr ist.

In dieses Panoptikum des entfremdeten Lebens hinein entführt den Leser die erste Geschichte, die dem Band den Titel gibt: „Nach oben ist das Leben offen“. Angesiedelt in den Alpen, schildert sie aus der Perspektive eines namenlosen Kollektivs jugendlicher Sportler, konserviert in einem Sportheim, die Ausbildung zum Bergsteigen in extremen Höhen. Schonungslos präsentiert sie die ewige Wiederkehr aus extremer körperlicher Belastung, nachfolgenden Schmerzen am ganzen Körper und daraus resultierender Schlaflosigkeit bis hin zum epileptischen Anfall und Vorstufen der Selbstverletzung. Haare ausreißen und Blasen aufschneiden gehören in den Bergen zur probaten Alltagstherapie. Das Leben ist Überleben, lehrt der Mannschaftsarzt.

Die Disziplinierung des Menschen aber hat seinen Preis. Denn nicht alle funktionieren derart reibungslos im alpinen Surrogat autonomen Lebens. Frieder, der als einziger namentlich genannt wird, stirbt bei einem rätselhaften – vermutlich suizidalen – Sturz vom Felsen. Und so wie Schönthaler das Opfer in die Erzählung einbindet, nur als ein weiteres Ereignis im Strom der Massage lädierter Extremitäten, tritt die Abgestumpftheit des Kollektivs zu Tage. Zu nicht antrainierten Reaktionen unfähig, wird auch der Tod perfekt integriert.

Sinnvolle Erfahrungen scheinen somit in etlichen Erzählungen sowieso nur noch möglich im Niemandsland zwischen Leben und Tod. Dabei wird die Grenze zum physischen Tod neu ausgelotet wie in der klug arrangierten Geschichte vom Tiefseetaucher Termann, der in Tiefen vorstoßen will, in denen der menschliche Körper lebensbedrohlich zusammengequetscht wird. Vollkommen besessen von seinem Rekordvorhaben verlernt er die Fähigkeit, mit anderen zu sprechen. Ob Hotelangestellte oder Mitglieder seines Teams, sie alle werden zum bloßen Resonanzboden eines infantilen Charakters, dem ein langes Gespräch seiner Eltern bereits unvorstellbar sinnlos erscheint. Geschickt wird dabei die Deformation des Protagonisten durch Mittel der Wiederholung und ein zunehmendes erzählerisches Tempo vorgeführt. Der derart rhythmisch konstruierte Text bewegt sich parallel zum inhaltlichen Spannungsmoment, das den Lesegenuss zusätzlich steigert: Wird Termann sein Vorhaben überleben?

Wer allerdings bei Schönthaler das Sinnangebot symbolischer und geschlossener Formen sucht, wird zum Glück enttäuscht. Nicht zufällig endet die letzte Erzählung, die wie die erste im Hochgebirge spielt, in einer Felswand in Patagonien: „Wir würden weiter ausharren müssen – warten.“ Wie in allen Geschichten schmiegt sich auch hier die Sprache den Gegebenheiten an. Als folgten sie den gleichmäßig kurzen Atemzügen der Bergsteiger, reihen sich einfache aber schöne Sieben-Wort-Sätze, allenfalls minimale Parataxen, aus der Wir-Perspektive. Der eingeschränkte Horizont der Sportler wird damit sanft transzendiert.

Der im Extremsport vorherrschende Erfahrungsverlust zieht sich als Motiv durch mehrere Geschichten. So bleibt etwa der Mord während einer Eisenbahnfahrt zunächst unbemerkt. Und in der Shopping-Mall, finster-glitzerndes Aushängeschild einer jeden europäischen Stadt, fügen sich Gewalt und Überfälle nahtlos ein in die manipulative Architektur. Ihr Betrug wird in Schönthalers Text jedoch entblößt. Einmontierte Floskeln einer instrumentellen Wissenschaft, die den Kunden steuern will, kollidieren mit der dargestellten Fremdbestimmung der Menschen. Allesamt sind sie sprachlos. Mehr als das Geplapper, das die vorgegebenen Bedürfnisse wahrnimmt und stumpf reproduziert, und die Bewegung, die strikt den architektonisch vorgegebenen Laufwegen folgt, ist nicht zu haben. Die totale Reduktion des Menschen auf den Markt.

Schönthalers Erzählweise kann man sich dabei so vorstellen, als würde Herbert Marcuses Klassiker „Der eindimensionale Mensch“ in Literatur übersetzt. Die Entlarvung erfolgt kritisch und intelligent. Der manipulativen Atmosphäre in der Mall wird einerseits mimetisch gefolgt. Die schnellen Montageschnitte spiegeln den Rhythmus, dem sich keiner entziehen kann. Zugleich entsteht dabei im Text eine ziemlich treffende Atmosphäre aus Komik und Entsetzen: „besonders betagtes publikum profitiert von der privaten sphäre der urbanen räumlichkeiten: stabile witterungsverhältnisse rund ums jahr, die verfügbarkeit sauberer toiletten lockt hinter jeder biegung, und nicht zuletzt die sicherheit, keine bordsteinkanten weit und breit, verkehr, und selbst wenn man fällt, wachen unermüdlich kameras.“ Hier bedarf es keines Erzählerkommentars mehr. Wer vor diesem sozialen Grab aus Watte nicht die Flucht ergreifen will, ist verloren.

Erinnert man sich an die Freiheit und das Glücksversprechen, die Walter Benjamin dem Flaneur in den Pariser Passagen des 19. Jahrhunderts noch zugestand, so zeigt sich Schönthalers Diagnose der modernen Warengesellschaft auf der Höhe der Zeit. Die totale Verdinglichung des Menschen („grundsätzlich gilt: der körper ist wie ein bankkonto“) sortiert die Dialektik von Körper und Geist neu: Wird der Körper einerseits zum Anhängsel an den (sportlichen) Größenwahn des Geistes, so folgt dieser andererseits blind in die Niederungen der Floskeln aus Esoterik und Pseudowissenschaft. Schönthalers Ideologiekritik drückt sich dabei elegant und schonungslos aus. Eines seiner wichtigsten Mittel ist das der Montage, das nicht nur geschickt Tempo und Rhythmus variiert, sondern den Leser immer wieder mit neuen Perspektiven überrascht. Seine feine Ironie konfrontiert den totalen Konsumenten mit seiner Verblendung, aber rabiat gegenüber dem Menschen ist diese Kulturkritik nie. Dies vor allem macht ihren Reiz aus. Auf einem auch ästhetisch hohen Reflexionsniveau vermag die Sprache den Leser in den Bann zu ziehen. Sie geht nicht auf in Aufklärung, sondern gerade in den Texten, die sich bisweilen stärker einem eindeutigen Sinnangebot entziehen, entsteht ein fesselnder Erzählstrom. Zu nennen sind hier vor allem die Erzählungen „Der Stein der Weisen“, „Mondrian“, „Für Liebende riecht Stroh anders als Pferde“ und „The perfect mystery cannot be written“. Wollte man zu einem literarischen Vergleich greifen, so hat hier der Johnson-Sound den Jelinek-Sound abgelöst. Durch diese Flexibilität der Schreibweise vermeidet Schönthaler, dass seine bisweilen etwas ermüdenden Beschreibungen körperlicher Vorgänge zum Schema werden. Stattdessen wird seine Sprache vielfältiger und schafft eine Art Lost-in-translation-Gefühl, in dem trotz aller Verdinglichung menschliche Sehnsüchte bewahrt sind.

So kann man in dem Wissenschaftler Moser aus der Erzählung „Mondrian“ in gewisser Weise eine Gegenfigur zu dem ganzen Arsenal an strebsamen Spitzenkräften aus Wirtschaft und Sport erkennen. Moser steht kurz davor, seinen Abschied aus der Universität mit einem letzten Vortrag über Mondrian zu besiegeln und erkennt in seinem Laufbahnende zugleich „das ende einer lebensform“. Denn die Verwandlung der Universitäten in Wissenschaftsunternehmen mit nur noch befristeten Verträgen macht eine Existenz wie die seine als Akademischer Rat für die Zukunft unmöglich. So steht das Ende dieses kauzigen, von sozialen Ängsten und Zwängen geplagten Wissenschaftlers, der einen Platz abseits des Betriebs braucht, auch sinnbildlich für die Vertreibung eines bestimmten Gelehrtentyps. Stattdessen erobern Platzhirsche sein Terrain, wie eine urkomische Szene auf der universitären Toilette zeigt. Moser, der sich rauchend in der Kabine eingeschlossen hat, lauscht dabei durch die Tür: „draußen trifft der urinstrahl jetzt mit einschüchternder Kraft in das pissoir … so pissen sieger“.

Bei aller durchscheinenden Sympathie für Figuren wie Moser, eine nostalgische Verklärung des sinnlos entfremdeten Treibens gibt der Erzählband nicht her. Der Mensch lebt im Lager, in der Einkaufszone, im Managementseminar, im Zug, ist immer in Bewegung und überall scheitert der Versuch, dem Leben durch Spitzenleistungen oder Psychotherapie wieder Sinn einzuhauchen. Dokumentiert wird der glanzlose Sieg der Kultur über Natur, der über das Glück des Menschen hinwegfegt. Schönthalers Roman fängt dabei die sinnliche Präsenz der gnadenlosen Herrschaft des Allgemeinen über den Einzelnen ein – ohne Illusion, aber auch ohne Demütigung.

Titelbild

Philipp Schönthaler: Nach oben ist das Leben offen. Erzählungen.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2012.
201 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783882215847

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