Gefühle als Instrumente der Erkenntis

Das von Monika Betzler und Julian Nida-Rümelin herausgegebene Nachschlagewerk „Ästhetik und Kunstphilosophie“ erscheint in einer von Mara-Daria Cojocaru überarbeiteten Neuauflage

Von Franz SiepeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Siepe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gefragt, wie es ihm denn vorkomme, dass sich Gottesdienstbesucher in Europa so stocksteif, stumm und teilnahmslos verhalten, während seine Landsleute in der Kirche fröhlich lachen, tanzen und mitklatschen, antwortete jüngst im Fernsehen ein schwarzafrikanischer Kardinal (ich zitiere aus dem Gedächtnis): „Wie man in Köln sagt: ‚Jeder Jeck ist anders.‘ Der afrikanische Jeck fühlt sich als Einheit von Seele, Geist und Körper. Der europäische Jeck aber hat die platonisch-cartesianische Dualismus-Tradition in sich und spaltet das Körperliche vom Geistig-Seelischen ab; er geht gewissermaßen ohne Körper in die Kirche.“

Man betrachte nur einen Konzert- oder Opernbesucher unserer Tage in unseren Breiten: Hochkulturhabitus ist ein Habitus der Leibesnegierung. Der Kultivierte genießt Kunst rein kontemplativ. Keine Körperregungen, keine durchs Leibliche hindurch nach außen tretenden Emotionen! Affektkontrolle und sublimatorischer Triebaufschub. Pierre Bourdieu („Die feinen Unterschiede“) zufolge markieren diese Abstraktionsleistungen sowohl die Bedingungen der Rezeption (hoch-)kultureller Hervorbringungen als auch sozialen Status: „Die Negation des niederen, groben, vulgären, wohlfeilen, sklavischen, mit einem Wort: natürlichen Genusses, diese Negation, in der sich das Heilige der Kultur verdichtet, beinhaltet zugleich die Affirmation der Überlegenheit derjenigen, die sich sublimierte, raffinierte, interesselose, zweckfreie, distinguierte, dem Profanen auf ewig untersagte Vergnügungen zu verschaffen wissen. Dies ist der Grund, warum Kunst und Kunstkonsum sich – ganz unabhängig vom Willen und Wissen der Beteiligten – so glänzend eignen zur Erfüllung einer gesellschaftlichen Funktion der Legitimierung sozialer Unterschiede.“

Mit Bourdieu rekurriert der Marburger Germanist Thomas Anz („Literatur und Lust“) auf die „Kritik der Urteilskraft“, wenn er „Kants Gegenüberstellung von interessiertem Wohlgefallen am ‚Angenehmen‘ und interesselosem Wohlgefallen am ‚Schönen‘“als prototypisch und symptomatisch für die bürgerliche Ästhetik erkennt, wie sie noch und erst recht bei Adorno begegnet: Gefühl, Emotion, Ausdruck von Affekten; überhaupt alle „sensuelle Lust“ steht in der „Ästhetischen Theorie“ im Verdacht des regressiven, anpasslerischen Hedonismus. „Es gibt jedoch“, so Anz, „in der Perspektive Adornos andere, höherwertige Lüste, die sich von den Konsumbedürfnissen der Masse abheben. Da gibt es zum einen die Lust am gesellschaftlich verdrängten Leid, am Negativen, am Dissonanten, die von hochwertigen Kunstwerken ermöglicht wird. Die Lust an ihnen besteht in der durch sie vermittelten Erfahrung, schlechten gesellschaftlichen Verhältnissen Widerstand entgegensetzen zu können. ‚Glück an den Kunstwerken‘ ist in diesem Fall ‚das Gefühl des Standhaltens, das sie vermitteln‘“.

Wenngleich derart das Sinnliche von Kunstphilosophen und Ästhetiktheoretikern diskriminiert wurde, so steht am Beginn der Ästhetik als eigenständiger wissenschaftlicher Disziplin gerade umgekehrt die Rehabilitation der „sinnlichen Erkenntnis“: Alexander Gottlieb Baumgartens „Aesthetica“ (1750-1758), die Schrift also, die der Disziplin ihren Namen gab, beabsichtigte nämlich, der rationalistischen Erkenntnistheorie eine „Logik des unteren Erkenntnisvermögens“ zur Seite zu stellen, weil der Mensch eben nicht bloß ein Verstandes- und Vernunftwesen ist, sondern auch Sinnenwesen. Im § 6 der Baumgarten’schen „Ästhetik“ (Übersetzung von Hans Rudolf Schweizer) heißt es folglich: „Unsrer Wissenschaft könnte weiter entgegengehalten werden: sinnliche Empfindungen, Einbildungen, Erdichtungen alle die Wirrnisse der Gefühle und Leidenschaften seien eines Philosophen unwürdig und lägen unter seinem Horizont. Meine Antwort: Der Philosoph ist ein Mensch unter andern Menschen, und es ist nicht gut, wenn er glaubt, ein so bedeutender Teil der menschlichen Erkenntnis vertrage sich nicht mit seiner Würde.“

Das vorliegende, fraglos nützliche Nachschlagewerk bringt in 160 von weit mehr als hundert laut Klappentext „ausgewiesenen Fachleuten“ verfassten Einzeldarstellungen kondensiert die Resultate der abendländischen Geistesgeschichte, soweit sie sich mit dem Phänomen befasst, welches als „Kunst“ wahrzunehmen wir geübt sind. Alphabetisch geht es von Joseph Addison bis Richard Arthur Wollheim und zeitlich von Platon bis Peter Sloterdijk. Adressaten sind – wieder laut Klappentext – „Philosophen, Kunst- und Kulturhistoriker, Studierende und Lehrende der Kunsthochschulen, Künstler, Galeristen und alle Kunstinteressierten“; ein Publikum mithin, welches der eingangs erwähnte afrikanische Kardinal gewiss den typisch „europäischen Jecken“ zuschlagen würde, oder das, um in der Terminologie Bourdieus zu bleiben, für unsere „legitime Kultur“ mit ihrer Pflege des „reinen Geschmacks“ repräsentativ ist.

Allerdings hat sich diese Zielgruppe von der von Monika Betzler in bewundernswerter Dichte geschriebenen – chronologisch vorgehenden – Einleitung darüber aufklären zu lassen, dass gerade das „Gefühl“ – insonderheit im 18. Jahrhundert (Johann Georg Sulzer!) – eine zentrale Bestimmungsgröße des Ästhetik-Diskurses war. Ja, würde der hier zu besprechende Band nicht mit dem im frühen 18. Jahrhundert publizistisch aktiven Engländer Joseph Addison beginnen, dessen Kunsttheorie („On the Pleasures of the Imagination“) die Bedeutung der Einbildungskraft akzentuierte, sondern mit Johann Heinrich Abicht, hätte der Leser erfahren, dass Abicht seine Ästhetik geradezu als „Lehre der Gefühlskunst“ (1793) verstanden wissen wollte. Und hätten die Herausgeber die Liste der Kunsttheoretiker nicht mit Richard Arthur Wollheim („Art and its Objects“, 1968), sondern mit Heinrich Zschokke („Ideen zu einer psychologischen Ästhetik“, 1793) geschlossen, wäre der Leser auf einen Entwurf gestoßen, der eine anthropologisch-psychologische Analyse von Emotionen bezweckt. Unter dem speziellen Aspekt dem „Gefühl“ verpflichteter Ästhetiken ließe sich wohl bemängeln, dass Friedrich Schleiermacher im Buch nicht gewürdigt wird; doch ist es immer wenig fair, in einem vergleichsweise kompakten Kompendium auf die Suche nach Leerstellen zu gehen.

Wer etwas kritisieren möchte, könnte darauf hinweisen, dass Mara-Daria Cojocaru im Vorwort zu dieser zweiten Auflage (Erstauflage 1998) zwar bemerkt, sie habe in Abstimmung mit den Autoren die Aufgabe gehabt, „die einzelnen Beiträge zu aktualisieren und unterdessen erschienene Literatur zu berücksichtigen“; ferner „wurde bei der Auswahl der neuen Artikel versucht, […] Desideraten insbesondere mit Blick auf das gegenwärtige Jahrhundert, wie auch auf die letzten drei Jahrhunderte nachzukommen“. Aber es wird nicht immer transparent, mit welcher Konsequenz und welcher Gründlichkeit die Aktualisierungen vorgenommen worden sind. Beispielsweise vermisse ich bei Arthur Coleman Danto – gemäß Julian Nida-Rümelins Vorwort von 1998 „der vielleicht einflussreichste Kunstphilosoph der Gegenwart“ – wie auch sonst sehr häufig die Nennung der in deutscher Sprache erschienenen Bücher mit ihrem jeweiligen, unter Umständen auch aktuellen Titel. Im Fall von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling enden die Nachweise der Sekundärliteratur mit dem Erscheinungsjahr 1991, obschon allein 2011 zu Schellings Kunstverständnis zwei wichtige Titel (von Dieter Jähnig und Arne Zerbst) herausgekommen sind.

Eine Bibliografie („Werke“ und „Literatur“) gehört zu den stabilen Elementen der Konstruktion jedes der circa fünf Seiten langen Artikel. Neben einer Kurzvita zu Beginn gibt es dann gen Ende, nach der Skizzierung der Hauptgedanken und Kernthesen des jeweiligen Ästhetikers bzw. Philosophen, in den meisten Fällen einen Abschnitt, der den Entstehungskontext und einen – überaus sinnvollen – der die Rezeption betrifft.

Was schließlich generell den Gegenstandsbereich von „Ästhetik und Kunstphilosophie“ anlangt, so sei mit dem Vorwort Nida-Rümelins empfohlen, terminologisch nicht allzu pedantisch zu sein. Beide Ausdrücke dürfen hier getrost einmal unverkrampft als „weitgehend deckungsgleich“ hingenommen werden in dem Bewusstsein der historisch enormen Varianz von Begriff und Sache der „Kunst“.

Geografisch beschränkt sich das Buch auf, so Nida-Rümelin, „im weitesten Sinne westliche Tradition“, sodass Ästhetiken anderer Erdregionen „ausgeklammert bleiben“; und „das gilt auch für die bedeutenden Traditionen Süd- und Ostasiens“. Afrika findet nicht einmal als „ausgeklammerte“ Entität Erwähnung. Eventuell greift ja unser pfiffiger Kardinal zur Erklärung dieser Tatsache anlässlich eines TV-Gesprächs demnächst auch wieder zu einer kölschen Beschwichtigungsweisheit wie etwa „Et es wie et es / Es ist, wie es ist“.

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Julian Nida-Rümelin / Monika Betzler (Hg.): Ästhetik und Kunstphilosophie. Von der Antike bis zur Gegenwart in Einzeldarstellungen.
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2012.
937 Seiten, 42,90 EUR.
ISBN-13: 9783520375025

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