Text erhorchen

Marcel Krings versammelt Beiträge zum „Schallarchiv“ der Literatur

Von Till DembeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Till Dembeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Medien der Kommunikation werden seit jeher im Zusammenspiel mit den menschlichen Sinnen beschrieben: Wer etwas mitteilt, muss von anderen wahrgenommen werden. Neben einem Medium, in dem die Mitteilung erscheint, braucht es die Sinne der Kommunikationspartner, auf die das Medium abgestimmt sein muss. Oft geht man bei der Beschreibung dieses Zusammenspiels taxonomisch vor: Man schaut, welche Medien und welche Sinne es gibt, und bewertet, wie sie zusammenpassen. Nachzuzeichnen, wie solche Beschreibungen historisch funktionieren, ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten Gegenstand zahlreicher kulturwissenschaftlicher, philosophischer und anthropologischer Studien gewesen. Dabei zeichnet sich immer mehr ab, dass plakative Taxonomien, bei aller Stabilität, selten aufgehen. ‚Sinneshierarchien‘ sind nie eindeutig – das zeigt schon die flexible Funktionalität von Tastsinn und ‚Gefühl‘. Wenn man genauer hinsieht, ist die angebliche Präferenz der europäischen Tradition für den Gesichtssinn historisch keinesfalls so eindeutig auszumachen, wie immer behauptet wird. Auch schriftlich verfasste Literatur ist nie nur als visuelles, sondern immer auch oder gar vornehmlich als Klangmedium aufgefasst worden. Auch deshalb hat die mediengeschichtlich orientierte Philologie – und zwar nicht erst seit Friedrich Kittler – literarische Texte in sinnlich vielfältigen Medienbezügen beschreiben können.

Der von Marcel Krings herausgegebene Band über literarische Texte als „Phono-Graphien“ nimmt die Anstöße aus der jüngeren Forschung zur historischen Mediensemantik der Sinne auf. Das Programm des Herausgebers sieht vor, Literatur nicht mehr, wie angeblich bislang üblich, als vornehmlich visuelles Medium zu beschreiben, sondern als „Schallarchiv“. Auch wenn dieser Innovationsanspruch übertrieben ist und Krings dazu neigt, die traditionellen Taxonomien fortzuschreiben, muss man diesen Impuls gutheißen. Und das nicht nur deshalb, weil Deklarationen der Art, etwas sei „nie recht bemerkt“ worden oder jemand habe etwas „als Erster“ beschrieben, wie sie Krings bemüht, in philologischen Werken wahrscheinlich fast nie beim Nennwert zu nehmen sind. Sondern auch deshalb, weil einige der von Krings versammelten 21 Studien jenseits dieser Programmatik beachtliche Erkenntnisgewinne abwerfen.

Die Beiträge lassen sich auf das Programm, Literatur als ein Medium zu beschreiben, das akustische Wahrnehmung thematisiert, reflektiert und gestaltet, unterschiedlich weit ein. Die Mehrzahl der Texte geht in erster Linie der Thematisierung und teils auch der Poetik der Schallwahrnehmung in literarischen Texten nach. Dazu gehören Viola Wittmanns Klassifizierung von Geräuschdarstellungen in der Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Jochen A. Bärs detaillierte, aber bisweilen geschichtsphilosophisch vereindeutigende Beschreibung (vor-)romantischer „Konzepte des Gehörs“, Katja Stopkas Beitrag über die Semantik des Rauschens im ‚langen‘ 19. Jahrhundert, Sascha Kiefers Ausführungen zur Klangbeschreibung in Texten der Neuen Sachlichkeit und Michael Eggers Motivgeschichte der Nachtigall in der deutschen Literatur. All diese Studien tragen, auch wenn hier und da Präzisierungen möglich wären, Wichtiges zur Darstellung der (literatur-)historischen Semantik von Schall und Gehör bei, ebenso die Aufsätze zu den um und ab 1900 neuen Medien des Akustischen, also zu Phonographie (Heinz Hiebler) und Runkfunk (Caroline Pross und Rober Ryder).

Jenseits einer solchen Vertiefung der historischen Semantik des Akustischen, wie sie in der Vergangenheit zunehmend zum Gegenstand philologischer Arbeiten geworden ist, lässt sich das ‚Schallarchiv‘ der Literatur auch in seinem gestalterischen Potential ernstnehmen. Wer der akustischen Komplexität literarischer Texte gerecht werden will, wird auf drei Ebenen argumentieren müssen: Er muss besehen, wie Texte akustische Wahrnehmung thematisieren, wie sie darauf, im Sinne einer Poetik, reflektieren und wie sie in ihrer sprachlichen Form ihre eigene akustische Dimension gestalten. Übergreifend kann dann auch ermittelt werden, welche strategische oder kulturpolitische Schlagrichtung die Texte verfolgen.

Auch in diese Richtung gehen einige Beiträge des Bandes. Hervorzuheben sind hier die Texte von Jost Eickmeyer, Axel Dunker, Christian Sinn und Michael Auer. Mit seinen akustischen Lektüren von Barock-Lyrik relativiert Eickmeyer das Klischee, die poetische Produktion dieser Epoche sei in erster Linie visuell codiert. Am Beispiel von Echo-Liedern und im Verweis auf die onomatopoetische Imitation von Tierlauten in einigen Gedichten macht er den zentralen Stellenwert akustischer Strukturmuster für diese Texte deutlich. Gerade das Spiel mit der Mehrdeutigkeit der Laute, wie es etwa Philip von Zesen treibt, stellt aber, wie Eickmeyer betont, in den Augen einer theologischen Regulierung der Poesie ein Problem dar. Denn sie unterminiert möglicherweise die eindeutige transzendente Bewertbarkeit der jeweiligen Klänge.

Sinn möchte an Hölderlins „Der Mutter Erde“ zeigen, wie die sorgfältige metrische Gestaltung dieses Gedichts kulturpolitische Strategeme ins Werk setzt. Der Beitrag durchmisst dabei eine beachtliche Breite an Argumentationsebenen: Die metrische Analyse des Textes verbindet sich mit Fragen der Rezeptionsgeschichte sowie der impliziten und expliziten Hölderlin’schen Poetik.

Ernst Jüngers „Lob der Vokale“ von 1934 widmet sich Auers Beitrag. Die in Jüngers Text entfaltete Poetik der Selbst-Laute liest er als Programmierung einer neuen Form von Selbst-Organisation – als Teil einer „quasi-kybernetische[n] Kaderschmiede“. Jüngers Text will Gemeinschaft auf der Basis einfachster lautsprachlicher Artikulation erzeugen. Modellbildend ist hier (wie in anderen Texten Jüngers) der ‚Sturmangriff‘ als selbstorganisierte Gemeinschaftsbildung auf Zuruf. Diese Programmatik ist, wie Auer zeigt, der Lautlichkeit des Textes – oder zumindest: des Titels – selbst eingeschrieben.

Dunker schließlich zeichnet nach, wie in einem von Ernst Jandls berühmtesten Texten, dem Gedicht „wien : heldenplatz“, vor dem Hintergrund einer neuartigen kulturpolitischen Herausforderung die Synthese zweier um 1900 noch konkurrierender Strategeme moderner Lyrik stattfindet. Angesichts der Möglichkeit, die akustische Gestaltung nationalsozialistischer Reden, von der das Gedicht handelt, als perverse Erfüllung vormals avantgardistischer Programme der Lautpoesie (Bruitismus, Dada) zu sehen, die eine Einheit von Leben und Dichtung erreichen wollten, greift Jandl auf Verfahren der Verfremdung und Nuancierung zurück, welche die ästhetizistischen Avantgarden um 1900 entwickelt haben. Durch das Herausarbeiten innovativer Klangnuancen soll ein „nicht einzuholende[r] Bedeutungsüberschuss“ erzeugt werden, der die perverse Appropriation bruitistischer Programmatik unterläuft. Die behutsame akustische Gestaltung des Lautgedichts erweist sich auch hier als kulturpolitische Strategie.

Es ist sicherlich kein Zufall, dass gerade lyrische Texte zu Untersuchungen anregen, die von der formalen Analyse der akustischen ‚Mache‘ der Texte über die Rekonstruktion ihrer Poetik bis hin zu einer kulturpolitischen Wirkungsabschätzung schreiten. Bei Lyrik kommt man nicht umhin, auch die sprachliche Form differenziert in den Blick zu nehmen. Man muss aber nicht bei der Lyrik stehen bleiben, und gerade die Untersuchung von Literatur als ‚Schallarchiv‘ legt dies nahe. Denn im Akustischen verbirgt sich ein Gutteil dessen, was die formale Analyse von Texten, und nicht nur von Gedichten, aufdecken kann. Gerade dieser philologische Arbeitsbereich ist aber in den vergangenen Jahrzehnten zu Unrecht ins Hintertreffen geraten. Studien, die sich vor allem Sprache und Form ihrer Gegenstände widmen, haben es schwer gegenüber solchen, die kulturhistorische Großthesen aufstellen oder gewichtige Neuinterpretationen klassischer Texte vorlegen. Dabei liegt gerade im Aufmerken auf Sprache und Form literarischer Texte die Kernkompetenz der Philologie – um nicht zu sagen: ihr Alleinstellungsmerkmal. Darauf aufmerksam zu machen, ist nicht das geringste Verdienst des vorliegenden Bandes.

Titelbild

Marcel Krings (Hg.): Phono-Graphien. Akustische Wahrnehmung in der deutschsprachigen Literatur von 1800 bis zur Gegenwart.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2011.
424 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783826046230

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