Begriff, nicht Bewusstsein

„Über Logik und Theorie der Wissenschaft“ von Jean Cavaillès ist eine Gründungsurkunde französischer Wissenschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert

Von Thomas EbkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Ebke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gegen Ende von Jean-Pierre Melvilles düsterem „Résistance“-Film „L’armée des ombres“ (1969) wird der Protagonist Philippe Gerbier (Lino Ventura), buchstäblich um Haaresbreite der Exekution durch die Nazis entronnen, von seinen Mitstreitern aus dem „Widerstand“ in ein Versteck gerettet, das sein letztes sein wird: Eine spartanische Hütte auf den Feldern irgendwo vor den Toren von Paris. Einer der denkwürdigsten Momente des Films zeigt, wie sich Gerbier, inzwischen gänzlich von der Außenwelt abgeschnitten, verzagt und von Todesahnungen heimgesucht, mitten in der Nacht von seiner Bettstatt erhebt, um einige Bücher zur Hand zu nehmen: „Essai sur le problème du fondement des mathématiques“, „Remarques sur la formation de la théorie abstraite des ensembles“, „Sur la logique et la théorie de la science“, „Méthode axiomatique et formalisme“, „Transfini et continu“. Als Autor dieser Traktate nennen die Frontispize einen gewissen Luc Jardie. Der Anflug eines Lächelns erscheint in den Zügen Gerbiers: Diese fünf Schriften, von Jardie in den Jahren des Kriegs verfasst, seien, so teilt uns Gerbiers Stimme aus dem Off mit, nur mehr die einzigen Bande, die ihn, Gerbier, noch mit dem Leben dort draußen verknüpften, und während er das bekennt, am Schluss seine Hand fast zärtlich auf die gestapelten Bücher legend, scheint es für einen Moment geradezu, als sei ihm jetzt dieses eine gewiss – dass Gewalt, Barbarei und Diktatur jene Freiheit, die sich in der Welt des Geistes als Suche nach dem Wahren vollzieht, niemals werden auslöschen können.

Die fünf besagten Bücher existieren tatsächlich, doch ihr Autor hieß nicht Luc Jardie, sondern Jean Cavaillès, und die Figur des Jardie, die in Melvilles Film zu den entscheidenden Protagonisten (gespielt von Paul Meurisse) gehört, steht für eben diesen in Frankreich zum Mythos verklärten Mathematikhistoriker und Kritiker der Phänomenologie, dessen Ruhm sich bis heute in der Tat vor allem auf seine exponierte Rolle in der französischen Widerstandsbewegung gründet. Cavaillès, einer der brillantesten normaliens der 1920er-Jahre, spezialisierte sich in seinem Studium der Mathematik und Philosophie auf die Geschichte und Theorie der Mengenlehre: Ein Forschungsgebiet, das ihn Anfang der 1930er-Jahre für ein Jahr nach Deutschland (unter anderem nach Göttingen, Berlin, Tübingen und Freiburg) führen sollte, wo er auf Hilbert, Husserl und Heidegger (dessen Disput mit Ernst Cassirer Cavaillès im Jahr 1929 in Davos beiwohnte), aber auch auf Emmy Noether und Abraham Fraenkel traf, die allesamt intellektuelle Spuren in seinen philosophisch-mathematikhistorischen Rekonstruktionen hinterlassen sollten.

Gemeinsam mit Emmy Noether und auf Anraten Fraenkels veröffentlichte Cavaillès 1937 den (von ihm schon 1933 redigierten) auf Probleme der Mathematik eingehenden Teil des Briefwechsels zwischen Georg Cantor und Richard Dedekind. 1938 folgte mit den „Remarques sur la formation de la théorie abstraite des ensembles“, der Dissertation von Cavaillès, eine Analyse zur Geschichte der Mengentheorie, einschließlich ihrer Präfiguration in Gestalt der Logik Bolzanos. Ab 1939 sollte Cavaillès, neben seiner akademischen Laufbahn, die Positionen unter anderem an verschiedenen Lycées und 1941 eine Lehrstuhlvertretung für Logik und Wissenschaftstheorie an der Sorbonne einschloss, immer stärker in die Organisation des militärischen Widerstands gegen die Nationalsozialisten involviert werden. Als 1942 das Bureau Central de Renseignements et d’Action an Cavaillès – der unterdessen auch als Mitgründer der Zeitschrift Libération agiert hatte – mit der Bitte herantrat, sich am Aufbau eines nachrichtendienstlichen Netzwerks im Norden Frankreichs zu beteiligen, rief er die Widerstandsgruppe Cohors (von deren heroischem Kampf und blutigem Ende der besagte Film Jean-Pierre Melvilles erzählt) ins Leben.

Mehrfach wurde Cavaillès, der sich als äußerst effizienter wie kühner Koordinator des Widerstands erweisen sollte, von den Nazis verhaftet und gefoltert: Am 17. Februar 1944, nachdem er ihnen ein letztes Mal und endgültig in die Hände gefallen war, richtete man ihn in der Zitadelle von Arras hin und begrub ihn dort in einem anonymen Grab. Zwei Jahre später sollte der Leichnam unter großer öffentlicher Anteilnahme – Georges Canguilhem hielt anlässlich dieses Ereignis eine legendäre Erinnerungsansprache – in die Krypta der Kapelle der Sorbonne überführt werden: Spätestens dies war die Geburtsstunde des „Mythos“ Jean Cavaillès, der im öffentlichen Bewusstsein der französischen Republik gewiss eher als Märtyrer der résistance präsent bleiben sollte als durch seine präzisen Auseinandersetzungen mit den logischen und wissenschaftstheoretischen Lektionen aus der Geschichte der Mathematik.

Als systematischer, wenngleich unvollendeter Hauptbeitrag von Cavaillès gilt der 1947, also posthum erschienene Traktat „Sur la logique et la théorie de la science“. Dieses Buch liegt nun erstmals in einer deutschen, vom diaphanes Verlag herausgegebenen und von Thomas Laugstien besorgten Übersetzung unter dem Titel „Über Logik und Theorie der Wissenschaft“ vor. Es ist eine heikle Aufgabe, die Kernintention und die erhebliche Attraktivität, die dieser Text von Cavaillès für den modernen epistemologischen Diskurses in Frankreich hatte beziehungsweise heute wieder besitzt (man denke hier nur an das prominente Beispiel Alain Badious), verständlich auf den Punkt zu bringen.

In ihrer Substanz stellt die Argumentation von Cavaillès den Versuch dar, mit Blick auf die Spezifität mathematischer Konzepte und Erkenntnisoperationen die Struktur wissenschaftlichen Fortschritts zu klären: Verfolgt wird die These, dass „die irreduzible Besonderheit der mathematischen Bewegung“ auf ihrer Fähigkeit zu einer „spontane[n] Hervorbringung intelligibler Elemente“ basiert. Was das mathematische Wissen in einen Prozess permanenter Selbsterneuerungen und Selbstschärfungen treibt, sind jene Größen und Relationen, die dank der mathematischen Theoreme allererst definierbar werden können. Cavaillès bestimmt die Mathematik als autonomes und zugleich stets unabgeschlossenes Organon, das aus sich selbst heraus produktive Synthesen vollzieht und eine ihm eigene Dialektik entfaltet: Ein reflexives System, das die Größen, Beziehungen und Probleme, die sich in seinem Inneren stellen, ebenso kreiert wie die Verfahren und Konzepte, mit denen es auf erstere antwortet. Cavaillès insistiert also, um die Originalität der Mathematik zu schildern, auf der Einheit von Ontologie und formaler Axiomatik (auch dies eine Erbschaft, die der heute viel diskutierte Alain Badiou aufgegriffen hat): Es geht ihm darum, das Zustandekommen mathematischer Erkenntnisse als eine synthetische Aktivität darzulegen, als reflexive Verbundenheit zwischen den Vollzügen und Operationen, die einen mathematischen „Gegenstand“ zu denken erlauben, mit diesen Gegenständen selbst.

Eine erste programmatische Konsequenz dieser Mathematikkonzeption besteht darin, dass Cavaillès die einseitig formalistischen beziehungsweise intuitionistischen Fundierungen des Mathematischen zurückweisen und korrigieren kann. Cavaillès teilt weder Hilberts Begründung der Mathematik als axiomatische Analysis, die sich auf die Postulate der Widerspruchsfreiheit sowie der Vollständigkeit und Legitimität ihrer Modelle zurückzieht, noch Brouwers Reduktion der Analysis auf effektiv bildbare Zahlenwerte und -serien. In dieser Hinsicht ist es die bleibende Anregung, die von „Sur la logique et la théorie de la science“ ausgeht, eine Art Ausgleich zwischen Formalismus und Intuitionismus vorzuschlagen, nämlich so, dass gleichzeitig die strenge Selbstexplikativität und Systematizität der mathematischen Regeln (Formalismus) und die Auffassung von der mathematischen Erkenntnis als einer Anschauung (Intuitionismus) stark gemacht werden können.

In den Linien dieser alternativen Bahn zwischen Formalismus und Intuitionismus eröffnet sich aber noch ein weiteres Projekt, das Cavaillès mit seiner mathematikgeschichtlich gewonnenen Wissenschaftstheorie nachdrücklich vertritt. Dieses Projekt ließe sich als eine Abwehr der Phänomenologie und a fortiori der Philosophie des Bewusstseins kennzeichnen: Die ersten 15 Seiten des Textes leisten zunächst eine kritische Rückschau auf Kants transzendentale Verankerung der elementaren Regeln der Logik in der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption. Kant löst das Dilemma, wonach der Verstand schon immer nach jenen logischen Normen verfährt, die doch umgekehrt erst durch den Verstand, nämlich als „Funktionen der Einheit unserer Vorstellung“, zu rechtfertigen sind, durch eine falsche, philosophisch fatale Weichenstellung auf: Er verschiebt das Problem der Regeln der Logik in die Frage nach unserer Erkenntnisart, also den Formen, Bedingungen und Grundsätzen, die gegenständliche Erfahrung überhaupt erst ermöglichen. Der doppelte Preis, den Kant mit dieser Konzentration auf das Apriori zahlen muss, besteht in der Abblendung der Einzelerfahrungen sowie im Auseinanderreißen der Sinnlichkeit in die Dimensionen ihrer apriorischen Form und ihrer aposteriorischen Materie. Kants Argumentation kann, folgt man Cavaillès, gar keinen anderen Verlauf nehmen als den, die transzendentale Einheit der Apperzeption zu vindizieren, während sie im gleichen Zug und von Beginn an die Probleme des Empirischen und der Materie verfehlt.

Für Cavaillès ist es systematisch geboten, Kants Einspeisung des Logischen in die Herrschaft des Bewusstseins umzukehren, also die Vollzüge des Bewusstseins als konzeptuelle Synthesen einzuführen, die innerhalb einer Theorie der internen Selbstgenerierung der Begriffe einer Wissenschaft ihren Platz hätten. Als Etappen in dieser Richtung hebt Cavaillès Bolzanos Programm einer Selbstbegründung reiner Wissenschaft aus ihrem Inventar überzeitlicher „Sätze an sich“ sowie Carnaps logischen Empirismus hervor, der die Ersetzung der Philosophie durch Wissenschaftslogik auf Basis einer Metasyntax für alle sprachlichen Systeme anstrebte. Doch den kapitalen Punkt von Cavaillès eigener Theorie der Wissenschaft und ihrer internen Logik erfasst man erst, wenn man sich klar macht, dass beziehungsweise warum er auch diese formalistischen Programme noch für korrekturbedürftig hält: Sein Einwand gegen Bolzano und Carnap trifft die Statik und Rigidität ihrer Theorien, nämlich ihr Unvermögen, die Geschichtlichkeit jener Dynamik zu klären, in der die Mathematik ihr eigenes logisch-begriffliches Repertoire konstituiert.

Deshalb erörtert Cavaillès, nach dem Durchgang durch die Positionen Kants, Bolzanos und Carnaps, zum Abschluss seiner Schrift Husserls „Formale und transzendentale Logik“ sowie dessen „Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie“. Zwar habe Husserl mit seiner Konzeption der Intentionalität die Waage zwischen einer ontologischen Theorie und einer Apophantik, die den autonomen Charakter der Wissenschaften in ihren Begriffs- und Urteilsformen sichere, halten können, doch liege sein großer Schwachpunkt darin, die logischen Formalisierungen auf die fundamentalen Sinnkonstitutionen eines transzendentalen Bewusstseins zurückgeführt zu haben. Bei Husserl schließt sich der problematische Kreis, den Kant eröffnet und den die Wissenschaftstheorien Bolzanos und Carnaps nur durch fragwürdige Alternativen verlassen hatten. Indem es Husserl darum gehe, die ursprünglichen Akte des Bewusstseins zu restituieren, die den geschichtlichen Formationen wissenschaftlichen Wissens eingelagert sind, verstellt er sich den Zugang zur spezifischen Produktivität und Selbstreferenz der exakten Wissenschaften. Er weicht dem Phänomen einer stets unabgeschlossenen und offenen Zukunft eines wissenschaftlichen Begriffssystems durch den teleologischen Rückstieg zum vermeintlichen „Ursprung“ (im Bewusstsein) dieser Systeme und ihrer internen Logiken aus.

Berühmt und für die französische Philosophie des 20. Jahrhunderts folgenreich sollten die zwei letzten Sätze des Buches werden, die noch einmal die Skepsis von Cavaillès gegenüber Kant und Husserl zuspitzen: „Keine Philosophie des Bewusstseins, nur eine Philosophie des Begriffs kann eine Wissenschaftslehre liefern. Die erzeugende Notwendigkeit ist nicht die einer Aktivität, sondern die einer Dialektik“. Echos dieser These kann man von Bachelard und Canguilhem bis Foucault, von Deleuze bis Badiou vernehmen. Dass Cavaillès Schlüsselwerk „Über Logik und Theorie der Wissenschaft“ nun endlich in deutscher Sprache erhältlich ist, kann man nur begrüßen und zugleich mit der Hoffnung verknüpfen, es möge die Rezeption der französischen Epistemologie und Geschichte der Wissenschaften auf neue Höhen führen.

Titelbild

Jean Cavaillès: Über Logik und Theorie der Wissenschaft.
Übersetzt aus dem Französischen von Thomas Laugstien.
Diaphanes Verlag, Zürich 2011.
105 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783037340585

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch