Verloren an der Oberfläche

Dagmar Burkhart versucht das Phänomen „Hautgedächtnis“ zu analysieren – und scheitert

Von Tobias SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ende 2011 im Hildesheimer Traditionsverlag Georg Olms erschienen, geht das Buch „Hautgedächtnis“ auf ein Projekt gleichen Namens zurück, das Dagmar Burkhart gemeinsam mit dem Hamburger Dermatologen Volker Steinkraus vor allem im Rahmen einer Internetpräsenz vorantrieb. Aus dieser Zusammenarbeit resultiert das vorliegende Buch. Dokumentiert wird diese Zusammenarbeit zum einen durch ein kurzes Vorwort des Dermatologen sowie durch häufige Verweise auf dessen Arbeiten durch Burkhart.

2005 schon veröffentlichte die mittlerweile emeritierte Mannheimer Slawistin Dagmar Burkhart in der Zeitschrift Arcadia den Aufsatz „Narbe. Archäologie eines literarischen Motivs“, der sich aus literaturwissenschaftlicher Sicht erstmals mit dieser spezifischen Form des Hautgedächtnisses näher befasste. Darin stellte Burkhart die These auf, dass Narben zwei theoretische Analysemodelle provozieren, ein ereignisorientiertes und ein semiotisches. Von daher weckte die Bekanntgabe der Veröffentlichung von „Hautgedächtnis“ die Hoffnung, eine wichtige Arbeit zum Thema vorliegen zu haben. Dass dies leider nicht so ist, erfordert einige Erläuterungen.

Ziel Burkharts ist es, dem Phänomen des Hautgedächtnisses erstmals eine umfassende Monografie zu widmen. Dabei verweist sie auf die grundlegende Arbeit von Claudia Benthien, die in ihrem Buch „Haut“ (2001) nicht nur die kulturgeschichtliche Dimension der Haut ausleuchtete, sondern auch ausführlich zu den medizinhistorischen wie soziohistorischen Aspekten Stellung nahm. In ihren einleitenden Worten stellt Burkhart zunächst eine Trichotomie von Hautzeichen auf: Alpha-Phänome wie etwa Muttermale oder der Nabel, symbolisieren Ursprünge, Omega-Phänomene wie Falten und Altersflecken, weisen auf das Lebensende, den Tod hin, und Zōē-Phänomene wie Narben, sind Spuren „gelebten Lebens“. Auf den ersten Blick scheint das eine einleuchtende Kategorisierung zu sein. Auf den zweiten Blick reicht der analytische Mehrwert aber nicht über das eigene empirische Wissen hinaus, neue Einsichten bietet Burkhart damit also nicht an. Auf den dritten Blick wird zudem klar, dass die Kategorien sich zum Teil gegenseitig überlagern, wenn das Alpha-Phänomen Nabel als Narbe eigentlich beziehungsweise auch ein Zōē-Phänomen ist. Dass sich diese Unterscheidungen mitunter überschneiden können, erwähnt Burkhart leider nicht.

Hier deuten sich bereits die Probleme dieses Buches an. Dagmar Burkhart will, wie sie in ihrer Einleitung schreibt, „historische und aktuelle Haut-Diskurse unterschiedlicher Coleur analysieren, interdisziplinär vernetzen und kulturanthropologische Erkenntnisse vermitteln.“ Diese Analyse aber, so wichtig sie auch ist und bereits in anderen Arbeiten, etwa von Claudia Benthien und ganz aktuell von Ulrike Landfester, vorgenommen wurde, bleibt hinter den selbstgesteckten Zielen zurück.

Im ersten Kapitel „Hautzeichen im wörtlichen Sinne“ zeigt sich diese Problematik in vielerlei Hinsicht. Der Teil „Die Haut als Gedächtntis des Körpers“ geht zunächst dezidiert und ausführlich auf die etymologischen Wurzeln der Worte „Narbe“, „Falte“, „Male“ und „Runzel“ ein. Das mündet aber nicht in erweiterter Erkenntnis, stattdessen werden diese Hautzeichen lediglich ätiologisch manifestiert. Schließlich ignoriert Burkhart die Wörtlichkeit und das Körpergedächtnis vollends, wenn sie „Haut und Architektur“ verknüpft, indem sie Analogien in der Tiefenstruktur von Haut und Haus erkennt. Was diese Ausführungen, die eigentlich dem Bereich der Übertragung angehören, in diesem Kapitel zu suchen haben, bleibt schleierhaft. Es verdeutlicht aber die konzeptionellen Schwächen, die das Buch durchziehen.

Geht es anschließend um „Lebensspuren mit Erzählwert“ (Brand- und andere Narben) reihen sich Anekdoten von fragwürdigem bis skurrilem Informationswert aneinander. So ist etwa der weitgehend unbekannte, aber offenbar von Narben gezeichnete Berliner Rapper Bonek Beispiel für die rauen Umgangsformen „auf der Straße“ und deren Folgen. Burkhart resümiert, „die Ursachen für seine Narben liegen jedoch tiefer“, um mit Bonek zu belegen, dass Drogen und Schmerzmittel ihm und seinen Freunden entweder Tod oder Versehrung eingebracht hätten. Weitere Beispiele sind die Schönheitsflecken von Cindy Crawford und Sarah Jessica Parker, aber auch der Erfinder der „Gletschercreme“ Franz Greitner sowie Max Huber, der wiederum eine Wundercreme zur Beseitigung von Narben entwickelte, werden als Beispiele für „Gründungslegenden“ heranzitiert, die vorgeblich eine besondere „Sparte des dermatischen Diskurses“ bedienen. Und von Pockennarben ausgehend, die vor allem in Texten des Barock ein nicht unwichtiges Element von sozial- und medizinhistorischer Relevanz sind, gibt Burkhart einen kurzen historischen Abriss der Pockenimpfung, um schließlich die Information unterzubringen, dass Deutschland nach 9/11 sechs Millionen Dosen Pockenimpfstoff an einem geheimen Ort gebunkert habe. Doch die hier unterschwellig mitlaufenden Narrative, das heißt, die tieferen Gründe dafür, die Angst vor bioterroristischen Anschlägen und die entstellenden (eben seit dem Barock uns bekannten) Folgen von Pocken, erwähnt Burkhart gar nicht oder nur sporadisch.

Ähnlich oberflächlich verfährt Burkhart auch bei den Themen Tätowierung, Brandmarkung, Selbstverletzendes Verhalten (SVV) und der ästhetischen Dermatologie. Aneinanderreihungen von kurzen Anekdoten und Statistiken, der Erwähnung einiger Prominenter in vornehmlich negativer Perspektive (Amy Winehouse, Lady Gaga) und dem Fehlen des Versuchs über das Offensichtliche hinauszugehen, kennzeichnen einen Großteil der Ausführungen im ersten Kapitel des Buches. Besonders im Kontext von SVV übersieht Burkhart etwa die eigentliche und sogar explizit genannte Motivierung dieses Verhaltens: es geht den Betroffenen primär um das Vergessen im Schmerz; erst auf einer sekundären Ebene kommt hier das (Haut-)Gedächtnis ins Spiel. Ohnehin wird die Rede nur sporadisch, fast schon alibihaft auf das Hautgedächtnis gelenkt, und beschränkt sich zumeist auf eher allgemeine Bemerkungen, knappe Zusammenfassungen und Ausblicke. Allzu oft fragt man sich als Leser, was das überhaupt noch mit dem Phänomen „Hautgedächtnis“ zu tun hat. Die als Ziel markierte interdisziplinäre Verknüpfung zeigt sich hierin nicht.

Diese Tendenz setzt sich teilweise auch im zweiten Kapitel fort, das sich mit „Narben, Malen und Falten im übertragenen Sinne“ auseinandersetzt. Hier liegen die theoretischen Voraussetzungen auf einer anderen Ebene, wodurch die Zugänge erleichtert werden und zudem auf eine breitere Basis der Reflexion zurückgegriffen werden kann. In den Abschnitten zu „historischen“ und „politischen“ Narben, also Kriegszerstörungen an Gebäuden und Menschen, kann man wenig Kritisches äußern aber auch wenig Neues erfahren. Hier kommen Historiker zu Wort, die die Einschusslöcher in bedeutenden Erinnerungsorten mit der Metapher der Narbe zu fassen versuchen. Schriftsteller, die (eigene) „politische Narben“ in sogenannter Lagerliteratur darstellten, finden ebenso breite Erwähnung. Hierzu zählen Warlam Schalamov, Imre Kertész, Jorge Semprún oder auch Primo Levi. In diesem Teil zu den in Konzentrations- und Straflagern entstandenen politischen Narben, versucht Burkhart erstmals in ihrem Buch eine literaturwissenschaftliche Analyse der Lagerliteratur: sie sei von entindividualisierten Figuren und der Biologisierung der Personen geprägt, zudem sei das Lager selbst eine „Anti-Sphäre“ (Sloterdijk), eine verkehrte Welt. Eine textbezogene Analyse aber, wie diese Typologie in den Texten selbst mit dem Hautgedächtnis zusammenhängt, bleibt Burkhart schuldig.

Ist man bei der Übertragung tatsächlicher Hautzeichen auf nicht-körperliche Phänomene problemlos bereit sich in den Modus der Rhetorisierung beziehungsweise Metaphorisierung zu begeben, fällt diese Denkbewegung auf dem Gebiet der Geografie ein wenig schwerer. „Jede Vulkaneruption verweist mit aller Deutlichkeit auf die menschlicher Schwäche zuzuschreibende Verdrängung der Tatsache, dass die Erde eine nur nach außen hin erkaltete Feuerkugel ist. Somit bietet sich im Vulkanausbruch der bedenkenswerte philosophische und anthropologische Verweis darauf, dass es sich um ein Ursprungsphänomen, die Gewalt der Natur demonstrierende Alpha-Erscheinung handelt. Immanuel Kant hat 1790 den Vorgang der Erfahrung des Erhabenen […] eine ‚negative Lust genannt‛, die dem Menschen plötzlich ‚die Nichtigkeit der scheinbaren Allgewalt der äußeren Natur und zugleich die wahre Allgewalt wirklicher Größe, des Übersinnlichen‛ vor Augen führt.“ Was Burkhart hier vorführt, ist beispielhaft für viele der von ihr gebrauchten Argumente. Denn inwieweit ein Vulkanausbruch ein positiv konnotiertes Alpha-Phänomen sein soll, ist mit Blick auf die mit Kant heranzitierte Zerstörungskraft nicht nachvollziehbar. Den Vulkanausbruch als Omega-Phänomen zu deuten, liegt hier sehr viel näher.

Ähnliche argumentative Schwachstellen tauchen auf, wenn Burkhart tektonische Risse in der Erdoberfläche, wie etwa die San-Andreas-Verwerfung oder den Großen Afrikanischen Grabenbruch als Narben liest. Dass es sich bei derartigen geologischen Formationen um Risse handelt, die auseinanderstreben, reflektiert Burkhart nicht, mit der Konsequenz, dass die Metapher „Narbe“ hier eigentlich falsch ist. Denn eine Narbe, auch wenn sie eine gewisse Tiefe aufweist, schließt einen Riss und kann somit nur schwerlich als Metapher für einen Riss gelten.

Dagmar Burkhart versucht zwar, eine „Semiotik der Erdhülle“ zu entwerfen, verfehlt aber die Durchführung dieses Vorhabens. Nicht ein Mal verwendet sie die Worte Semiotik, semiotisch, Zeichen oder andere erwartbare Begriffe. Semiotik findet hier schlichtweg nicht statt. Die bloße Erwähnung erdgeschichtlicher und anderer geologischer Fakten mündet schließlich in dem dramatischen Aufruf „der Zustand der Erdhülle und des Erdreichs [ist] entscheidend für den Fortbestand der Menschheit, die im Jahr 2030 bereits acht Milliarden betragen wird“ und grenzt bedrohlich an eine Irreführung des Lesers.

Die angesprochenen Schwachstellen des Buches vermag der sehr viel dichtere dritte Hauptteil nur schwerlich zu kompensieren. Erst hier gelingt es Dagmar Burkhart besonders ihre Ausführungen zu den Hautzeichen in der Literatur schlüssig darzustellen. Das ist nicht weiter verwunderlich, kann sie doch ihre Kernkompetenz als Literaturwissenschaftlerin voll zur Geltung bringen. Mit profundem Wissen sowohl in mythologischen wie mediävistischen, in germanistischen wie slawistischen Gefilden schafft es Burkhart, die breite Verwendung diverser Hautbilder in Literatur, Märchen, Mythos und Ritus nicht nur für den europäischen Kulturkreis zu belegen, sondern auch für Literaturen und Kulturen der Antike und des Orients.

Vieles kann Dagmar Burkhart verständlicherweise nur anreißen, dennoch ergibt sich ein kohärentes, facettenreiches Bild. Zwar lassen sich auch hier einige Verengungen finden, etwa wenn Burkhart im Rahmen einer ethnologischen Lektüre von Skarifikationen lediglich auf die weibliche Initiation solcher Praktiken beim Volk der Nuba verweist. Die Bedeutungen von Skarifikationen in ethnologischer Perspektive sind jedoch wesentlich komplexer. Zudem greift Dagmar Burkhart in den dezidierten Ausführungen zur Narbe weiträumig auf ihren bereits erwähnten Artikel von 2005 zurück, wobei sie nicht wesentlich über die dort schon vorgestellten Erkenntisse hinausgeht. Das kann man als weiteren Schwachpunkt werten, es trübt den positiven Gesamteindruck dieses letzten Kapitels aber nicht.

Dagmar Burkhart versäumt es, nach den physiologischen und kulturanthropologischen Voraussetzungen des Hautgedächtnisses zu suchen und verfehlt damit auch eine Definiton dessen, was Hautgedächtnis überhaupt ist oder sein kann. Vor allem die Wechselwirkungen und Absetzbewegungen zwischen Hautgedächtnis und tatsächlichem Gedächtnis werden nicht angesprochen. Was auf dem Hautgedächtnis gelöscht wird, ist noch lange nicht aus dem echten Gedächtnis verschwunden und umgekehrt. Diese äußerst spannenden Prozesse liegen unverständlicherweise außerhalb des von Burkhart gesteckten Rahmens. Somit greifen aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Sicht die Ausführungen Burkharts insgesamt viel zu kurz und können das formulierte Ziel eines kulturanthropologischen Zugangs zum Hautgedächtnis nicht einlösen.

Titelbild

Dagmar Burkhart: Hautgedächtnis.
Mit einem Vorwort von Volker Steinkraus.
Georg Olms Verlag, Hildesheim 2011.
234 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783487146317

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